Bitte deaktivieren Sie Ihren Ad-Blocker

Für die Finanzierung unseres journalistischen Angebots sind wir auf die Anzeigen unserer Werbepartner angewiesen.

Klicken Sie oben rechts in Ihren Browser auf den Button Ihres Ad-Blockers und deaktivieren Sie die Werbeblockierung für . Danach können Sie gratis weiterlesen.

Lesen Sie wie gewohnt mit aktiviertem Ad-Blocker auf
  • Jetzt für nur 0,99€ im ersten Monat testen
  • Unbegrenzter Zugang zu allen Berichten und Exklusiv-Artikeln
  • Lesen Sie nahezu werbefrei mit aktiviertem Ad-Blocker
  • Jederzeit kündbar

Sie haben das Produkt bereits gekauft und sehen dieses Banner trotzdem? Bitte aktualisieren Sie die Seite oder loggen sich aus und wieder ein.

Leih-Oma und Segen für die Nachbarschaft

Essay zum Tag der Nachbarn: Die gute Seele der Siedlung und einer meiner Lieblingsmenschen

Manche Menschen erhalten große Bedeutung für unser Leben, obwohl sie einfach nur neben uns wohnen - Ehren wir sie am Tag der Nachbarn.
+
Manche Menschen erhalten große Bedeutung für unser Leben, obwohl sie einfach nur neben uns wohnen - Ehren wir sie am Tag der Nachbarn.

Ich weiß nicht, ob Du sie jemals kennenlernen durftest. Ich hoffe es. Denn vielleicht gibt es sie überall, diese eine gute Seele einer Nachbarschaft. Die Vertreterin in meinem Leben möchte ich „Frau F.“ nennen. Sie war so etwas wie eine Oma für mich. „Leih-Oma“ nannte sie sich selbst immer. Meine „Leih-Oma“. So unterschrieb sie sogar den Eintrag in meinem Poesie-Album. Und ja, ich hatte ein Poesie-Album. Komm drüber hinweg. Zum Tag der Nachbarn möchte ich Dir jedenfalls von ihr erzählen.

Dahoam am Land - Frau F. war mein Refugium. Mein Zufluchtsort. Ich wuchs in nicht ganz einfachen Verhältnissen auf, mein Vater war gewalttätiger Alkoholiker. Nicht selten floh ich von zu Hause, rannte durch den Garten zum Haus von Frau F. und klingelte. Sie machte mir Kaiserschmarrn mit Apfelstücken, stellte mir ein Nährbier her und bot mir ein Zuhause, wenn das andere mal wieder zerbrach. Sie war meine gute Seele. Ihr konnte man uneingeschränkt vertrauen.

Frau F. hatte so ziemlich jeden Haustürschlüssel in der Siedlung. Ich kenne fast alle Wohnungen von innen, habe aber bei Weitem nicht jeden Bewohner zu Gesicht bekommen. Denn es war völlig klar, dass im Urlaub Frau F. die Pflanzen gießen, die Katze füttern und den Hund versorgen würde. Ich war oft dabei, denn nach der Schule war ich bei Frau F. Und wenn sie zu den Nachbarn ging, ging ich mit.

Die Kinder der Nachbarn wurden Lehrer, Banker oder Anwalt, einer sogar Landtagsabgeordneter. Ich wurde Schriftsteller und Journalist. Doch ich glaube, dass uns Frau F. geprägt hat. Dass es ein Stück weit auch ihr zuzuschreiben ist, dass ich nicht negativ über andere Menschen berichte, dass ich gut von ihnen denken will und muss. Fehler kaschiere ich lieber, als dass ich sie thematisiere. Natur, Familie, Menschen und ihre Geschichten, das sind meine Themen. Liegt es an Frau F., der guten Seele?

Alltag mit meiner Lieblings-Nachbarin

Dienstags marschierten wir in den Ferien gemeinsam in die Stadt. Zum „Pfenni-Markt“. Warum sie „Penny“ nicht sagen konnte, weiß ich nicht. Vielleicht machte sie sich einen Spaß daraus. Humor hatte sie ohnehin reichlich. Noch mit über 80 Jahren erzählte sie mir, dass sie beim letzten Seniorenabend dem Pfarrer den Geldbeutel versteckt habe.

Am späteren Nachmittag saßen wir täglich zu dritt auf einer kleinen Bank auf dem Balkon. Frau F., ihr Mann und ich. Wir schauten auf die Obstbäume, hörten den Vögeln zu und genossen die Luft. Herr F. konnte jeden Vogelpfiff erkennen und nachahmen. Ich beneidete ihn dafür.

Abends dann gingen wir in die kleine Küche. Dort saßen wir am Esstisch und schauten fern, oftmals den Musikantenstadl. Ich freute mich über den „Hias“ und genoss die Apfelstücke. Die Abfolge war nämlich festgelegt. Frau F. holte Äpfel aus dem Keller, schnitt die faulen Stellen aus und schälte den Rest. Reihum verteilte sie an ihren Mann und an mich die Stücke, selbst aß sie seltener. Zur Krönung gab es manchmal Manner Schnitten. Bis zum Zubettgehen war das das Ritual. Ich ging entweder nach Hause oder blieb gleich über Nacht, schlief auf der „Besucherritze“.

Im hohen Alter

Nachts saß ihr Mann oft auf der Bettkante. Er litt jede Nacht unter Phantomschmerzen. Im Zweiten Weltkrieg war er auf eine Mine getreten und hatte ein Bein verloren. Doch er jammerte nie. Schon lange in Rente saß er jeden Tag in einem kleinen Zimmer, schnitzte Figuren und pfiff leise vor sich hin. Nur ab und an unterbrach er das Pfeifen und schliff ein Messer wieder scharf. Dann schnitzte er weiter. Eine seiner Arbeiten im Stile einer Hummel-Figur steht in meinem Wohnzimmer, ich ehre sie.

Auch als wir weggezogen waren und ich erwachsen wurde, besuchte ich Frau F. regelmäßig. Manchmal wöchentlich, manchmal waren ein paar Monate dazwischen. Der Tod ihres Ehemannes fiel leider leider in einen längeren Zwischenraum, ich erfuhr viel zu spät davon. Er fehlt mir sehr.

Sie selbst wurde ganze 100 Jahre alt und lebte bis zum Schluss allein. Zuletzt kam sie nicht immer an die Tür, wenn ich klingelte. Vielleicht hörte sie mich nicht, vielleicht aber konnte sie auch nicht mehr aufstehen. Jedoch machte ich mir immer Sorgen, dass es ihr nicht gut gehe. Im Winter kehrte ich den Schnee von der Treppe, damit sie dabei nicht hinfallen würde, falls sie denn aus dem Haus gehen wollte. Als sie verstarb, erfuhr ich auch davon erst im Nachhinein. Sie fehlt mir. Sehr. Als ich diese Zeilen schreibe, ist es gerade 1 Uhr morgens. Ich wachte mit dem Gedanken an sie auf und obwohl es Jahre her ist, wurde es mir schwer ums Herz. 

Meine „Oma“

Einmal bat sie, ich solle sie doch lieber Oma nennen. Und duzen. Doch ich respektierte sie so sehr, dass ich das irgendwie nicht konnte. Es kam mir einfach nicht über die Lippen. Im Nachhinein tut mir das leid. Ich glaube, sie hätte es sich sehr gewünscht.

Heute ist offizieller Tag der Nachbarn. Doch meine beste Nachbarin fällt in diese Kategorie eigentlich nicht hinein. Nicht einmal der Begriff „Leih-Oma“ reicht. Nein, sie war einfach nur Oma.

ar

Kommentare