Hilfe für Landwirtsfamilien in Krisen
„Ich kann nicht mehr!“ Nach Tier-Dramen in der Region – Warum die Scham so ein großes Thema ist
Obwohl die Hintergründe der Tier-Dramen in Griesstätt und Bad Aibling noch nicht feststehen, zeigen diese und weitere Fälle in der Region: Landwirte haben eine große Verantwortung. Überforderung ist keine Seltenheit. Familienberater Peter Bartlechner über falsche Scham, verletzten Stolz und Wege aus dem Dilemma.
Griesstätt/Bad Aibling/Mühldorf – „So kann's nicht mehr weitergehen.“ „Ich kann nicht mehr.“ Zwei Sätze, die das Arbeitsleben von Peter Bartlechner prägen. Der Sozialpädagoge hilft bäuerlichen Familien in akuten Krisen. Diese treten natürlich in vielen Branchen auf. Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen Überforderung und Ausgebranntsein in einem Angestelltenjob oder in der Landwirtschaft, betont der 57-Jährige. In den meisten Berufen sei es möglich, sich für eine gewisse Zeit krankschreiben zu lassen, sich also herauszunehmen, eine Pause einzulegen, um eine Therapie zu machen oder wieder Kraft zu finden. Auf einem Hof mit Tieren müsse die Versorgung weitergehen. Auszeit? Oft kaum möglich.
Beratung bei akuten Krisen auf Höfen
Doch es gibt Auswege. Darauf hat auch Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber im Interview mit der Redaktion vor dem Hintergrund der Tier-Dramen in Griesstätt und Bad Aibling hingewiesen. Auch ein Fall im Mühldorf hatte 2024 für Aufsehen gesorgt. Ebenso wie Missstände in Söchtenau und Rimsting. Bartlechner, bäuerlicher Familienberater im Erzbischöflichen Ordinariat München, möchte solche Entwicklungen verhindern. Er unterstützt mit einem Team, wenn Krisen auf dem Hof akut werden. Wer sich an seine Beratungsstelle mit Sitz in Feldkirchen-Westerham wendet, hat den ersten Schritt zur Befreiung aus dem Hamsterrad getan, weiß er aus Erfahrung.
Landwirte stellen an sich hohe Ansprüche
Doch nach wie vor falle es vielen Landwirtsfamilien schwer, sich einzugestehen, dass sie Hilfe benötigen würden. Noch immer würden psychosoziale Probleme, die den betrieblichen Alltag erschweren oder massiv beeinträchtigen würden, verdrängt. Oft so lange, bis es zu spät sei. „Die Scham ist nach wie vor ein großes Thema“, bedauert Bartlechner. Viele Landwirte würden an sich den Anspruch stellen, es zu schaffen. Schließlich hätten dies in der Regel schon mehrere Generationen vorher auch getan. Überforderung werde als Versagen empfunden.
Dabei stehe die Landwirtschaft heutzutage vor extremen Herausforderungen. Hofnachfolger müssten sich aufgrund hoher Investitionen in Millionenhöhe stark verschulden. Wer wirtschaftlich überleben wolle, müsse oft wachsen. Höfe würden vielfach auf mehreren Standbeinen stehen: Tierhaltung, dazu noch eine Direktvermarktung mit Hofladen, vielleicht sogar eine Ferienwohnung. Dann noch die Care-Arbeit, das Kümmern um betagte Eltern oder Schwiegereltern. Vor allem Frauen seien oft sehr belastet.
Durchschnaufen: Fehlanzeige. Denn die Ernte muss eingefahren werden, die Tiere sind zu versorgen, die Felder können nicht sich selbst überlassen werden, die Dokumentationspflicht erfordert viel Büroarbeit, schildert der Berater die Situation. Jeder kleine Kurzurlaub sei eine organisatorische Herausforderung. Einfach Koffer packen und mal raus: Das gehe auf einem Hof nicht.
Aufgeben kratzt am Selbstverständnis
Viele Landwirte würden sich außerdem Gedanken an Veränderungen der betrieblichen Abläufe verbieten. Wer 30 bis 40 Jahre lang Tiere im Stall gehabt habe, dem falle es oft schwer, die Milchviehhaltung aufzugeben. Das kratze am Selbstverständnis der Landwirtsfamilie. Sie mache oft weiter, obwohl sie längst an ihre Grenzen gekommen sei.
Das liegt nach Erfahrungen von Bartlechner auch daran, dass die traditionellen Familienstrukturen einbrechen. Junge Leute auf den Höfen würden heute nicht mehr so selbstverständlich mit anpacken wie früher, sondern auf ihr Recht auf Freizeit oder einen anderen Berufswunsch pochen. Frauen, die auf einen Hof einheiraten würden, beständen auf Freiräume, würden nicht selten ihren Beruf außerhalb des Betriebs weiterführen. Und Hoferben würden oft neue Wege gehen, mit denen die alten Betriebsleiter nicht einverstanden seien.
Hofübergabe viel Konfliktpotenzial
Hier liegt laut Bartlechner viel Konfliktpotenzial. Streitigkeiten bei der Hofnachfolge würden häufig zu großen Problemen in bäuerlichen Familien führen. „Dass es dann mal scheppert, ist normal. Doch es kann passieren, dass sich aus diesen Auseinandersetzungen zwischen Alt und Jung schwere Krisen entwickeln.“ Denn fest stehe beispielsweise bei einer Übergabe vom Vater an den Sohn: Beide würden in der Regel unter einem Dach leben, den gleichen Beruf ausüben. „Zwei Fachleute, die sich nicht selten in die Quere kommen.“
Überhaupt: Auf einem Hof leben bäuerliche Familien und arbeiten hier auch. Morgens aus dem Haus, ins Büro pendeln, abends wieder heim: So läuft es nicht in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Hier vermischen sich Arbeiten und Wohnen. „Es ist ein sehr komplexes System“, so Bartlechner.
Wenn das Schicksal zuschlägt
Auch Ehepaare könnten sich nicht aus dem Weg gehen: Konflikte seien viel eher spürbar auf einem Hof. Schwierig werde es außerdem, wenn das Schicksal zuschlage, weil jemand versterbe, schwer erkranke oder Suchtmittel wie Alkohol ins Spiel kämen. Egal, wie emotional herausfordernd der Alltag aussehe, der morgendliche Gang in den Stall müsse trotzdem sein. „Wenn du 50 bis 80 Rinder im Stall stehen hast, ist das eine andere Hausnummer, als wenn du daheim ein Haustier wie Hund oder Katze hälst.“ Für viele Landwirte sei es unvorstellbar, sich Zeit freizuschaufeln für eine ambulante Therapie oder eine mehrwöchige Kur, für eine Eheberatung oder eine Auszeit als Paar.
Doch es gibt Möglichkeiten, aus der Spirale der Überforderung auszubrechen, macht der Berater Mut. Oft sei es möglich, akut an Stellschrauben zu drehen, um eine Entlastung zu erreichen: indem eine Dorfhelferin beauftragt werde oder der Maschinenring unterstütze. Oder es werde nach Möglichkeiten gesucht, das Arbeitspensum zu reduzieren. „Stallarbeit muss sein. Aber ein großer Obstgarten kann in einem Jahr der Überlastung auch einmal auf einen Zuschnitt verzichten“, nennt er als Beispiel.
Beratung zu 70 Prozent auf dem Hof
70 Prozent aller Beratungen fänden vor Ort auf dem Hof statt. Oft sitze die ganze Familie mit am Tisch. Auf Wunsch gebe es jedoch auch Einzelgespräche. Oder Treffen an einem anderen Ort, „damit die Schwiegermutter nicht alles mitkriegt“. „Wir sind da flexibel. Wir bieten an, was notwendig ist.“ Die Beratung könne auch über einen längeren Zeitraum stattfinden, bei Hofübergabe beispielsweise bis zu ein Jahr, solange halt, bis alle Konflikte beseitigt sind. Die Kosten trage die katholische Kirche, Zuschüsse gebe es vom Landwirtschaftsministerium.
Bartlechner hat in den vergangenen fünf Jahren, in denen er als Berater tätig ist, schon viele Erfolge erlebt: Familien, die wieder einen Weg zueinander gefunden haben, Landwirte, die neu aufgebrochen sind, Höfe, die umstrukturiert wurden, um mehr Freiräume zu schaffen. „Wir beraten aber nicht zu Steuern und Geld“, unterstreicht er den Fokus: Der liege auf der psychosozialen Krisenbewältigung und Begleitung. Viele Betroffene würden sich allein schon durch die Tatsache gestärkt fühlen, dass sie ihre Probleme endlich offen aussprechen könnten, dass sie in ihrer Wahrnehmung bestärkt würden.
Studien zu Burnout und Depression
160 bis 170 Fälle im Jahr betreut die bäuerliche Familienberatung im Regierungsbezirk Oberbayern. Sie besteht bereits seit 30 Jahren. Wie stark Bauernfamilien von Depression und Burnout betroffen sind, dazu gibt es laut Bartlechner noch zu wenige Zahlen. Die Universität Weihenstephan untersuche die Thematik in Studien, von denen sich die Branche Aufschlüsse erwarte.
Fest steht nach seinen Erfahrungen: Landwirtsfamilien hatten es schon immer nicht leicht. Doch die Situation sei virulenter geworden in den vergangenen Jahren. Und noch immer falle es sehr schwer, sich einzugestehen: „Es geht nicht mehr.“ Alarmzeichen sind nach seinen Erfahrungen Schlafstörungen, sich kreisende Gedankenspiralen, depressive Verstimmungen, Erschöpftheit, Antriebslosigkeit. Wer sich ausgebrannt fühle, könne seinen Verpflichtungen oft nicht mehr ausreichend nachkommen. „Wenn ich meine Tiere nicht mehr versorgen kann, weil mir die Kraft fehlt, geht es ziemlich schnell bergab“, warnt er.
„Niemand ist allein“
Zu seinem Beraterteam gehören auch Ehrenamtliche, denen all diese Sorgen und Probleme nicht fremd sind: junge und ältere Bauern und Bäuerinnen, weichende Erben, die eine Übergabe hinter sich haben, Landwirte mit viel Erfahrung. Gemeinsam mit Bartlechner, der außerdem eine Ausbildung als Mediator und Traumaberater hat, stehen sie Familien in Krisen zur Seite. „Niemand ist allein, gemeinsam kriegen wir das wieder hin“, macht Bartlechner Mut.
Die bäuerliche Familienberatung
Die Bäuerliche Familienberatung (BFB) der Erzdiözese München und Freising befindet sich in der Münchener Straße 1 in 83620 Feldkirchen-Westerham. Im Team arbeiten Familientherapeuten, Mediatoren, Sozialarbeiter, Supervisoren und systemische Berater, die tief in der Landwirtschaft verwurzelt und erfahren sind. Sie sind erreichbar unter Telefon 01 51 / 12 20 42 67, E-Mail: PBartlechner@eomuc.de. Die Bäuerliche Familienberatung ist erreichbar dienstags von 8.30 bis 12.30 Uhr und 14 bis 18 Uhr, mittwochs von 8.30 bis 12.30 Uhr sowie nach Vereinbarung. Die Beratung ist kostenlos.
