Patienten sind alarmiert
Wasserburg verliert zwei Kassenärzte: Drohen jetzt noch vollere Wartezimmer?
Übervolle Wartezimmer, Niedergelassene, die keine Patienten mehr aufnehmen können: Darüber klagen auch im Raum Wasserburg die Bürger. Nun hat die Innstadt sogar zwei Kassenärzte verloren. Ist die ärztliche Versorgung in Gefahr? Über besorgte Patienten und eine Situation, die paradox erscheint.
Wasserburg – Pfaffing hat sich Dr. Jörg Schüler „geschnappt“, der in Wasserburg im ehemaligen Romed-Krankenhaus praktizierte und vor Ort keine geeignete Ersatz-Immobilie fand. Haag hat Dr. Frank Huber anlocken können, beziehungsweise das InnKlinikum Altötting-Mühldorf, das im früheren Haager Krankenhaus ein MVZ gegründet hat. Mit den Weggängen hat die Innstadt einen bekannten Orthopäden und einen bekannten Gastroenterologen und Experten für Darmspiegelungen verloren.
Kassenärztliche Vereinigung: „Überversorgung“
Grund zur Sorge? Eigentlich nicht, sagt ein Blick auf die im Januar 2024 veröffentlichte Statistik der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. Denn laut dieser Zahlen gilt der Raum Wasserburg sogar als überversorgt. Im Hausarztbereich sind 44 niedergelassene Ärzte gemeldet, die Bedarfsplanung sieht 36 als erforderlich an. Der Versorgungsgrad: 111 Prozent. Das Gebiet, auf das sich die Zahlen bezieht, umfasst den Großraum Wasserburg mit etwa 56.000 Einwohnern. Bei den fachärztlich tätigen Internisten ist ganz Südostoberbayern der Bedarfsplanungsbereich: Hier werden laut Kassenärztlicher Vereinigung 83 Mediziner notwendig, tatsächlich seien es 126. Der Versorgungsgrad beträgt sogar 148 Prozent. Und bei den Orthopäden gilt der Landkreis Rosenheim als Bezugsgröße. Hier haben sich 71 Fachärzte dieser Richtung niedergelassen, notwendig seien laut Bedarfsplanung 42. Versorgungsgrad folglich: 195 Prozent.
Bedauern über Wegzug
Trotzdem bedauern viele Wasserburg den Wegzug der beiden Niedergelassenen. „Es würde mich sehr interessieren, ob man sich seitens der Stadt um Nachfolger bemühen möchte. Es ist schon schade, dass Wasserburg nun auch keinen Gastroenterologen mehr hat“, schreibt beispielsweise einer Leserin der Redaktion.
Wasserburgs Bürgermeister Michael Kölbl findet grundsätzlich, dass der Wegzug von Schüler und Huber zwar bedauerlich, aber „nicht so dramatisch“ sei. Er sieht die Notwendigkeit, diesbezüglich nicht die Stadt allein zu betrachten, sondern die Region Wasserburg ins Auge zu fassen. Wenn ein Orthopäde wie Schüler nach Pfaffing ziehe, sei das auch für die Innstädter kein Problem, denn die Nachbarkommune sei gut erreichbar. Huber sei zwar nach Haag gewechselt und damit in einen anderen Landkreis, doch auch die Marktgemeinde sei schließlich nicht aus der Welt. In puncto Darmspiegelung sei Wasserburg außerdem aufgrund der Romed-Klinik bestens versorgt, so Kölbl.
Es sei außerdem nicht mehr so wie früher, dass Patienten im Heimatort möglichst nah an der Haustür auch den Arzt aufsuchen wollen würden. Die Menschen seien eher bereit, auch nach außerhalb zu fahren, wenn es sich um eine Person des Vertrauens handele.
„Region gut versorgt“
„.Grundsätzlich sehe ich die Region gut versorgt“, findet Kölbl. Der Standort Wasserburg sei beliebt, auch aufgrund der Tatsache, dass sich vor Ort mit Romed und dem kbo-Inn-Salzach-Klinikum zwei Krankenhäuser befänden. Sorgen bereite ihm eher die Überalterung der niedergelassenen Ärzte. Sie sind auch in der Region Wasserburg-Rosenheim-Haag in der Regel durchschnittlich 55 Jahre alt. Nach aktuellen Berechnungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung fehlen in Deutschland jährlich durchschnittlich fast 2500 ärztliche Nachbesetzungen, um die derzeitige medizinische Versorgungsleistung bis 2040 aufrechterhalten zu können. Engpässe, die auch im Wasserburger Land zu spüren sein werden.
Niedergelassene anlocken: Das geht nach Meinung von Kölbl jedoch nur indirekt. Wirtschaftsförderung dürfe eine Kommune nicht leisten. Direkte Subventionierungen seien nicht erlaubt. Eine Stadt könne sich nur bemühen, passende Immobilien anzubieten. Dass Kommunen keine Markttreiber seien, sei bekannt. Sie könnten Konditionen anbieten in puncto Pacht oder Miete, die sich im unteren Marktbereich befinden würden und so interessant für Niedergelassene werden. Pfaffing beispielsweise hat an Schüler eine eigene Immobilie vermietet.
Lange Wartezeiten: Wie kann das sein?
Leser fragen sich außerdem, wie es sein kann, dass trotz Überversorgung im Planungsbereich Patienten oft sehr lange auf einen Termin warten müssen. Das hat laut Kassenärztlicher Vereinigung Bayerns vielerlei Gründe: Ärzte könnten selbst entscheiden, wie viele Stunden sie ihre Praxis öffnen würden, mindestens 25 Wochenstunden seien für einen vollen Sitz jedoch notwendig. Die Mediziner dürften zudem auch selber festlegen, ob sie sich auf bestimmte Leistungen spezialisieren oder gewisse Behandlungen bevorzugen würden. Außerdem könne es sein, dass Arztsitze innerhalb eines Planungsbereiches nicht gleichmäßig verteilt seien: mit der Folge, dass sich in einer Praxis Patienten konzentrieren würden.
Generell lasse sich sagen: Die ambulante Versorgung brauche mehr junge Ärztinnen und Ärzte, die bereit seien, haus- und fachärztlich in der Praxis tätig zu werden, betont der stellvertretende Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, Dr. Axel Heise. Die bisherigen Zahlen der Absolventen des Medizinstudiums seien nicht ausreichend. Denn es gebe zwei Trends, die eine besondere Herausforderung in der ambulanten Versorgung darstellen würde: die Entwicklung Richtung Anstellung und zur Teilzeit. „Die Ärztinnen und Ärzte, die 50 bis 60 Stunden pro Wochen arbeiten, werden zunehmend weniger oder gehen in Rente. Ärztinnen und Ärzte legen, wie andere Berufsgruppen auch, zunehmend Wert auf eine ausgewogene Mischung zwischen Arbeit und Freizeit und achten beispielsweise darauf, dass die Zeit mit der Familie nicht zu kurz kommt. Für das Arbeitsvolumen, das früher ein Arzt geleistet hat, braucht es künftig gegebenenfalls zwei Ärzte in Teilzeit“, berichtet Heise.
Trend zur Anstellung
Die Option einer Anstellung werde zunehmend wichtiger, weil junge Ärztinnen und Ärzte aus Respekt vor den Herausforderungen einer Niederlassung zunächst diesen Zwischenschritt wählen würden. Bereits seit über einem Jahrzehnt habe die KVB die Politik auf Landes- und Bundesebene auf den Nachwuchsmangel hingewiesen. Zuletzt hätten diesbezüglich jedoch die politisch Verantwortlichen gegengesteuert. Eine weitere Erhöhung der Studienplätze für Humanmedizin in Bayern sei unbedingt notwendig, wenn man auch weiterhin eine hochwertige medizinische Versorgung im Freistaat gewährleisten möchte.
„Bei einer tendenziell älter und multi-morbider werdenden Bevölkerung und immer mehr ambulanten medizinischen Behandlungsansätzen brauchen wir mehr Nachwuchs gerade in den ländlichen Regionen, um die Versorgung auf dem bestehenden hohen Niveau zu erhalten“, warnt Heise.
So funktioniert eine Bedarfsplanung für Kassenarzt-Sitze
Die Bedarfsplanung und deren Anwendung wird von mehreren Ebenen gestaltet, berichtet Dr. Axel Heise, stellvertretender Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. An der Spitze ständen der Gesetzgeber, also die Bundesregierung, und das Bundesgesundheitsministerium. „Diese haben den Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA) in Berlin beauftragt, die wesentlichen Rahmenbedingungen einer Bedarfsplanung zu definieren, die dann bundesweit gültig sind.“ Gesetzlich Versicherte sollen bundesweit einen vergleichbaren bedarfsgerechten Zugang zu ambulanten ärztlichen Versorgungen haben, so das Ziel.
„Kassenarztbezirke“ heißen im Fachjargon Planungsbereiche, so Heise. Über deren Größe bestimme in Bayern der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen. Bei regionalen Fragen der ambulanten Versorgung, also auch bei der Bedarfsplanung, entscheiden nicht nur die Ärzte als Leistungserbringer, sondern auch zu 50 Prozent die Kostenträger, also die Krankenkassen, mit, erläutert er weiter. Planungsbereiche können laut Kassenärztlicher Vereinigung je nach Arztgruppe kleinere Regionen, Landkreise oder größere Einzugsbereiche sein. Beispiel: Im Fall des von Wasserburg nach Haag gewechselten Gastroenterologen umfasst der Planungsbereich Südostoberbayern (für fachärztliche Internisten), also die Stadt und den Landkreis Rosenheim, Mühldorf, Traunstein und das Berchtesgadener Land. Wasserburg hat also den Kassenarzt verloren, der Planungsbereich jedoch nicht.

