„Die Gesellschaft hat weggeschaut“
Missbrauchs-Skandale in der Region: So arbeiten die Betroffenen das Erlebte auf
Trauer, Scham und Wut: Mit diesen Gefühlen beschäftigten sich die Missbrauchs-Betroffenen auch heuer wieder bei ihrer diesjährigen Radtour durch die Region. Maitenbeth, Edling, Schnaitsee und Rosenheim waren nur einige ihrer Stationen. Wie die Betroffenen ihr Erlebtes aufarbeiten.
Wasserburger Land/Rosenheim – Eine Welle der Empörung und des Entsetzens ging durch die Region, als 2023 bekannt wurde, dass Geistliche in Rosenheim, Maitenbeth und Babensham Kinder und Jugendliche missbraucht haben sollen. Auch heuer gab es weitere entsetzliche Enthüllungen: Im März verkündete die Erzdiözese München-Freising, dass der damalige Kaplan Georg Pitzl in Edling mindestens ein Kind missbraucht haben soll.
Missbrauchsfälle im Wasserburger Land kommen ans Licht
Für die Betroffenen ist es immer wieder ein Martyrium, wenn erneut Fälle von Missbrauch aufkommen. Richard Kick ist nicht nur Sprecher des unabhängigen Betroffenenbeirats der Erzdiözese München-Freising, er ist selbst auch betroffen. Als Kind sei er in Eichenau (Landkreis Fürstenfeldbruck) von Pfarrer Pitzl sexuell missbraucht worden. Kick kann gut über die traumatischen Ereignisse sprechen, die er in seiner Kindheit erlebt hat – und trotzdem blieb „ihm erst einmal die Luft weg“, als er den Artikel über den Missbrauchsvorwurf in Edling las, wie er im Gespräch mit der Redaktion berichtete.
Pitzl war von 1960 bis 1963 in Edling als Kaplan tätig und wechselte dann nach Eichenau. 1972 wurde der Geistliche dann nach Schnaitsee versetzt – seine erste Stelle als Pfarrer. Dort war er bis 1993 tätig. Da der Pfarrer auch lange Zeit in Schnaitsee stationiert gewesen war, sei auch davon auszugehen, dass es dort ebenfalls Betroffene gebe, auch wenn sich offiziell noch niemand gemeldet habe, meint Kick.
Mehrere Stationen in der Region
So ist es nicht verwunderlich, dass die Mitglieder der Betroffenen-Radtour, die im Juni durch die Region führte, auch Station in Schnaitsee machten. Die siebentägige Reise startete am 16. Juni in München und führte unter anderem nach Maitenbeth. Dort habe es ebenfalls „massive Missbrauchsfälle“ durch Pfarrer Ludwig Axenböck gegeben, wie die Erzdiözese im Juli 2023 bekanntgab.
Seitdem hat sich in der Kommune viel getan: die Pfarrer-Axenböck-Straße wurde in Kirchplatz umbenannt und am Sonntag (16. Juni) wurde die „Broken-Heart“-Stele, nahe der Pfarrkirche St. Agatha, eingeweiht. Initiiert wurde das Kunstwerk – in Absprache mit den Betroffenen – von dem Maitenbether Künstler Peter Schwenk. Es zeigt ein Herz, das in der Mitte entzweigebrochen ist und aus der eine rote Rose ragt. Ein symbolträchtiges Kunstwerk, das sowohl den Schmerz, den die Betroffenen von sexuellem Missbrauch erleiden, verdeutlichen soll, als auch die Heilung, die nach einer solch schrecklichen Erfahrung möglich ist. „Gedenken an die Opfer des langjährigen sexuellen Kindesmissbrauchs durch den örtlichen Pfarrer Ludwig Axenböck (1949-1972)“ ist auf dem Sockel zu lesen. Sichtlich ergriffen enthüllten Helmut Bader, einer der Betroffenen, und Peter Schwenk die eingewickelte Stele. In Maitenbeth gibt es mittlerweile sechs Betroffene, die der Erzdiözese namentlich bekannt sind. Bis Mai 2023 waren es zwei.
Auch in Babensham machten die Betroffenen im Rahmen der Radtour Halt. Dort haben sich in den vergangenen Jahren fünf Personen an die Erzdiözese gewandt, die von Pfarrer Josef Schneller missbraucht worden sein sollen. Der 2003 verstorbene Geistliche war von 1962 bis 1996 in der Pfarrei Babensham stationiert. Das teilte die Erzdiözese im November 2023 mit. Kick betonte allerdings, dass er von dreizehn Personen wisse. Von der Diskrepanz sei er aber nicht überrascht. In beinahe jeder Gemeinde, die der Betroffenenbeirat anfährt, kenne er Personen, die es bislang nicht geschafft hätten, sich bei der Erzdiözese zu melden. Bis heute sind laut der Institution keine weiteren Betroffenen bekannt. Kick weiß aber: Die Dunkelziffer liege oftmals weit höher. Viele würden sich nicht melden, weil die Scham über den Missbrauch zu groß sei.
Scham und Wut
Um Scham ging es viel bei der Radtour, aber auch um Aufarbeitung – und Wut. Wut über eine katholische Kirche, die den Missbrauch zugelassen habe, die nur langsam lerne und die bei der Aufarbeitung der Fälle mehr als nur einen Fehler gemacht habe. Das beweist der Fall von Pfarrer Rudolf Kassian Greihansel. Der Täter hatte in Rosenheim sein Unwesen getrieben. Sein Fall hat die Woge der Enthüllungen überhaupt erst über die Region schwappen lassen. Greihansel wurde im Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl ein ganzes Kapitel gewidmet. Was eine Podiumsdiskussion, unter anderem mit Richard Kick und Anwalt Dr. Ulrich Wastl, im Rahmen der Radtour, zeigte: Greihansel war ein Serientäter. Kein Einzelfall, eher typisch für ein System der Vertuschung und organisierter Verantwortungslosigkeit.
„Es dokumentiert, wie umfassend Täter Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Die Geistlichen konnten sich frei bewegen, unbehelligt – und die Gesellschaft hat weggeschaut“, kritisierte Kick im Gespräch mit der Redaktion. „Der Missbrauch wurde einfach akzeptiert. Da könnte ich bis heute regelrecht ausflippen“, machte der Sprecher des Betroffenenbeirats seinen Gefühlen Luft.
