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„Lebendig durch die Hölle gegangen“

„Mein Leben wurde als Kind zerstört“: So will Helmut B. aus Maitenbeth Missbrauchsopfern Mut machen

Helmut B. bei seinem Treffen mit Papst Franziskus II. in Rom.
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Helmut B. (vorne rechts) bei seinem Treffen mit Papst Franziskus in Rom.

Helmut B. aus Maitenbeth wurde im Alter von acht Jahren von Pfarrer Axenböck schwer sexuell missbraucht. Er ist „lebendig durch die Hölle gegangen“. Der erste Schritt zu seiner „Erlösung“: die Reise zum Papst nach Rom. Heute traut er sich, über den Missbrauch zu sprechen, um anderen Betroffenen Mut zu machen.

Maitenbeth – Ohnmacht, Hilflosigkeit, Scham, Schuldgefühle: Diese Gefühle aufzuzählen, ist einfach, sie jahrzehntelang auszuhalten nicht. Doch so ging es Helmut B. aus Maitenbeth. Er ist einer der Betroffenen aus der Gemeinde, die von Pfarrer Axenböck schwer sexuell missbraucht wurden.

Für den Frührentner die schmerzhafteste Erinnerung in seinem Leben. Erst seit wenigen Wochen kann er darüber sprechen, selbst seine Frau wusste bis vor einigen Jahren nichts von den Taten des Pfarrers. Doch Helmut B. will sich nicht länger verstecken. Im Gegenteil: Er möchte anderen Betroffenen helfen. „Damit zu leben, ist die Hölle. Ich bin lebendig durch die Hölle gegangen, jahrelang“, sagt er. „Jetzt ist die Katze aus dem Sack, das war eine wahnsinnige Erleichterung. Ich kann anderen, denen es genauso wie mir ergangen ist, nur raten, das Erlebte auszusprechen und vielleicht noch einen Schritt weiterzugehen und sich bei der Erzdiözese zu melden. Das geht auch anonym“.

Gleichzeitig fühlt er sich wie ein „Freischwimmer“, weil nun so viele Menschen seine Geschichte kennen. Doch er will nicht länger schweigen. Als Helmut B. acht Jahre alt war, fing der schwere sexuelle Missbrauch durch den Pfarrer an. Was damals im Detail vorgefallen ist, darüber kann und will er nicht sprechen. „Die Erzdiözese hat in der Stellungnahme von schwerem sexuellen Missbrauch gesprochen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen“, verdeutlicht der Betroffene.

Martyrium nur schwer in Worte zu fassen

Das Martyrium, das Helmut B. durchleiden musste, ist nur schwer in Worte zu fassen. „Mein Leben wurde als Kind zerstört“, sagt er. „Ich bin nicht der Mensch geworden, der ich hätte sein wollen.“ Mit zehn Jahren fing er an zu trinken, um seinen Schmerz zu betäuben. „Es war ein schlimmer Tag, das weiß ich noch“, erzählt Helmut B. „Im Gottesdienst haben ein Spezl und ich versteckt Karten gespielt. Das hat Pfarrer Axenböck gesehen und uns vor der gesamten Kirchengemeinde nach vorne zitiert. Dann mussten wir uns vor dem Altar niederknien und die Hände zum Beten über den Kopf gefaltet hochhalten. So knieten wir da bis zum Ende der Messe.“ Eingeschritten sei niemand. Keiner hätte es damals gewagt, gegen den Pfarrer die Stimme zu erheben. Ein einschneidendes Erlebnis für den Jungen. Danach traute er sich im Gottesdienst nie mehr nach vorne, auch nicht, um die Hostie in Empfang zu nehmen. Der Missbrauch ging nach dieser Demütigung weiter wie bisher.

„Mein Leben wurde als Kind zerstört“

Helmut B. aus Maitenbeth über die Missbrauchstaten von Pfarrer Axenböck

Nach dieser Messe öffnete Helmut B. im Abstellraum seiner Großeltern ein Bier. In schnellen Zügen trank er es. „Ich habe gemerkt, das tut mir gut. Es beruhigt mich“, weiß er noch. So begann ein schleichender Prozess. Immer wieder griff er zur Flasche. „In meiner Jugend, im Vereinsleben, später bei meiner Arbeit als Schreiner. Trinken wurde für mich normal. Und ich habe später auch gemerkt: Nach zwei Flaschen Bier kann ich nicht mehr aufhören“, erzählt er.

Heute ist Helmut B. trocken. Seit fast 15 Jahren hat er keinen Schluck Alkohol mehr getrunken. Mindestens einmal in der Woche geht er zu den Anonymen Alkoholikern. Der Weg dahin war hart und steinig. Helmut B. „stand damals vor dem Abgrund“, wie er es heute beschreibt. Auch für seine Ehefrau, mit der er seit 41 Jahren verheiratet ist, war dies der Anfang zur Co-Abhängigkeit. Sie litt schwer unter dem Alkoholismus ihres Manns.

Doch über den Auslöser seines Alkoholproblems konnte Helmut B. nicht sprechen. Gut zwei Jahre dauerte der schwere sexuelle Missbrauch in seiner Kindheit an. Erst als Pfarrer Axenböck vor seinem Tod krank wurde, hörte es auf. Der Geistliche verstarb 1972. Mit jemandem über das Erlebte zu reden, war für den Heranwachsenden undenkbar. Weder mit seinen Eltern, seinen Großeltern, Geschwistern oder Freunden. „Ich habe gedacht, mir glaubt sowieso keiner. Schlimmer noch: Ich habe mir vorgestellt, wie ich aus dem Dorf gejagt werde, weil ich schlimme Lügen über den Pfarrer verbreiten würde“.

Auch den großen Wunsch, als Junge Ministrant zu werden, verfolgte er damals nicht. „Ich weiß, dass meine Großeltern unendlich stolz gewesen wäre, wenn ich dieses Amt angetreten hätte. Doch dazu mussten wir Latein lernen und die Sätze zuhause bei Pfarrer Axenböck vortragen. Da wusste ich schon, was mir dann blüht“, sagt er. „Also habe ich gelogen. Ich habe meinem Vater erzählt, ich kann die lateinischen Sätze nicht“.

Psychosomatische Erkrankungen

Bald stellten sich psychosomatische Erkrankungen bei ihm ein. Er bekam schwere Schuppenflechte, die ihn sein Leben lang bis heute plagt. „Das hat mich unglaublich belastet. Ständiges Jucken, alles war blutig vom ewigen Kratzen. Ich habe viele Aufenthalte in Hautkliniken, ständige Badetherapien sowie mehrere Hautkuren am Toten Meer hinter mir. Ich habe mich sehr geschämt dafür. Das sah wirklich schlimm aus, am ganzen Körper hatte ich es“, sagt Helmut B.

Doch das Geheimnis über den sexuellen Missbrauch behielt er weiterhin für sich. Erst 2005 – Helmut B. war schon Ende 40 – sprach er das Thema in einer Therapiesitzung mit einer Psychologin an. „Das war das erste Mal, dass ich den Missbrauch überhaupt erwähnt habe“, erzählt er.

Radtour nach Rom

Ein weiteres einschneidendes Erlebnis im Leben von Helmut B. war die Radtour nach Rom, die im Mai stattgefunden hatte. Unter dem Motto „Wir brechen auf! Kirche, bist Du dabei?“ sind neun Betroffene von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche mit dem Fahrrad von München nach Rom zu Papst Franziskus gepilgert. Damit wollten die Teilnehmer mehr Transparenz in der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen und einen anderen Umgang mit Betroffenen anmahnen.

Das Herz der Betroffenen: Diese Figur haben die Rad-Pilger bei Papst Franziskus abgegeben.

Für den Frührentner ein Schlüsselerlebnis und „der Anfang der Befreiung“. „Wenn ich gefragt wurde, warum ich mitfahre, habe ich anfangs gesagt: aus Solidarität“. Doch während der Reise und den verschiedenen Stationen, unter anderem in Bozen und Assisi, die die Betroffenen angeradelt haben, bröckelte die Maske von Helmut B.. „Uns war es so wichtig, eine symbolische Figur – das Herz der Betroffenen – beim Papst abzugeben. Dieses Herz zeigt, wie es in uns aussieht: fragil, eckig, durchlöchert“, erklärt Helmut B. „Als dann Papst Franziskus auf uns zuging und ich ihm die Hand reichen durfte, war wohl allen klar, dass ich selbst betroffen bin“, sagt er.

Eine Art von Heilung

Dieser Moment war für ihn wie ein „Blackout im Gehirn“. „Ich dachte: Wenn ich Papst Franziskus jetzt nicht die Hand reiche, wann dann?“ Durch das Treffen mit dem Pontifex habe er eine Art von Heilung erlebt. Denn nach wie vor ist der Maitenbether ein Mitglied der katholischen Kirche. „Ich glaube an Gott, an eine höhere Macht. Meinen Glauben habe ich nie verloren“, verdeutlicht er.

„Angst, Scham, Trauma“: Die neun Betroffenen haben Steine beschriftet, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Am Ende der Pilger-Reise wurden die Steine – und das damit verbundene Gewicht, das die Last des Missbrauchs symbolisierte – in Rom abgelegt. Diese Steine sind heute in der Casa Santa Maria in Rom zu finden.

Trotzdem wünscht er sich, dass beide aufeinander zugehen: katholische Kirche und Betroffene, indem sie sich in der Mitte finden. „Ich bin der Amtschefin der Erzdiözese, Dr. Stephanie Herrmann, und dem Generalvikar der Erzdiözese, Christoph Klingan, sehr dankbar, dass sie mir die Entschuldigung persönlich überbracht haben. Ich habe sie angenommen. Es gibt viele in der Kirche, die etwas bewegen wollen“, ist Helmut B. überzeugt.

Doch aus eigener Erfahrung weiß er auch, dass nicht alle so denken. In einem privaten Gespräch hätte er einen Geistlichen direkt auf den Missbrauch angesprochen. „Ich habe gefragt: Was halten Sie von Mensch zu Mensch von der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche? Was halten Sie von der Rad-Pilgerreise der Betroffenen zu Papst Franziskus nach Rom?“ Die zynische Antwort darauf: „Nix!“ Dieses Verhalten des Geistlichen hätte Helmut B. schwer getroffen. Er fühlte sich dadurch erneut psychisch missbraucht.

Und ein weiterer Punkt beschäftigt den Maitenbether. „Ich leide bis heute unter den Folgen des sexuellen Missbrauchs. Ich bin schwer traumatisiert, habe Flashbacks und habe jahrelang versucht, meine Gefühle und meinen Kummer in Alkohol zu ertränken. Ich bin Frührentner, weil mich viele chronische Krankheiten heimgesucht haben, darunter Diabetes Typ I, weil meine Bauchspeicheldrüse in jungen Jahren zu arbeiten aufgehört hat. Außerdem plagt mich meine Schuppenflechte schon ein Leben lang und ich habe ein atopisches Ekzem“, sagt er.

Betroffene angemessen entschädigen

„Mord verjährt nicht, Kindesmissbrauch aber schon? Mein Leben ist durch Pfarrer Axenböck zerstört worden“, sagt er leise. „Doch die Anerkennungsleistungen der katholischen Kirche sind für mich nicht in Ordnung. Es geht mir darum, dass unser Leiden von der Kirche gesehen wird“, sagt er. „Während der Pilgerreise habe ich mich mit Kardinal Marx unterhalten. Er hat zu mir gesagt: Um die entsprechenden Entschädigungsleistungen benennen zu können, muss jeder Fall individuell beleuchtet werden. Dementsprechend sollte jeder Betroffene angemessen entschädigt werden“, berichtet Helmut B. von dem Gespräch zwischen ihm und dem Kardinal. Dem stimmt der Betroffene mit Vehemenz zu, „denn diese Geistlichen haben unser Leben zerstört.“

Ansprechpersonen für Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch der Erzdiözese München und Freising

Die unabhängigen Ansprechpersonen für Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch der Erzdiözese München und Freising können auch über Unterstützungsmöglichkeiten informieren und die entsprechenden Angebote der Erzdiözese für Betroffene vermitteln. Auch nicht unmittelbar Betroffene, die über Hinweise auf Missbrauch verfügen, mögen sich bitte an die Ansprechpersonen wenden. Auf Wunsch werden alle Hinweise vertraulich behandelt.

Die Kontaktdaten der unabhängigen Ansprechpersonen für Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch der Erzdiözese München und Freising lauten:

Diplompsychologin Kirstin Dawin, St.-Emmeram-Weg 39, 85774 Unterföhring, Telefon: 089 / 20 04 17 63, E-Mail: KDawin@missbrauchsbeauftragte-muc.de

Dipl.-Soz.päd. Ulrike Leimig, Postfach 42, 82441 Ohlstadt, Telefon: 0 88 41 / 6 76 99 19, Mobil: 01 60 / 8 57 41 06, E-Mail: ULeimig@missbrauchsbeauftragte-muc.de

Dr. jur. Martin Miebach, Tengstraße 27, 80798 München, Telefon: 0174 / 300 26 47, Fax: 089 / 95 45 37 13-1, E-Mail: MMiebach@missbrauchsbeauftragte-muc.de

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