Bitte deaktivieren Sie Ihren Ad-Blocker

Für die Finanzierung unseres journalistischen Angebots sind wir auf die Anzeigen unserer Werbepartner angewiesen.

Klicken Sie oben rechts in Ihren Browser auf den Button Ihres Ad-Blockers und deaktivieren Sie die Werbeblockierung für . Danach können Sie gratis weiterlesen.

Lesen Sie wie gewohnt mit aktiviertem Ad-Blocker auf
  • Jetzt für nur 0,99€ im ersten Monat testen
  • Unbegrenzter Zugang zu allen Berichten und Exklusiv-Artikeln
  • Lesen Sie nahezu werbefrei mit aktiviertem Ad-Blocker
  • Jederzeit kündbar

Sie haben das Produkt bereits gekauft und sehen dieses Banner trotzdem? Bitte aktualisieren Sie die Seite oder loggen sich aus und wieder ein.

„Die vergessenen Opfer“ nie veröffentlicht

„Besser spät als nie“: Matthias Oesterheld über die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Gabersee

Matthias Oesterheld forschte jahrelang über die „Euthanasie“-Verbrechen in der „Heil- und Pflegeanstalt“ in Gabersee.
+
Matthias Oesterheld forschte jahrelang über die „Euthanasie“-Verbrechen in der „Heil- und Pflegeanstalt“ in Gabersee.

637 NS-Opfer in Gabersee während des Dritten Reichs: Matthias Oesterheld (76) kämpfte jahrelang für Aufklärung über die schlimmen „Euthanasie“-Verbrechen in der „Heil- und Pflegeanstalt“. Warum seine Arbeit dazu nie veröffentlicht wurde und was er zur heutigen Erinnerungskultur sagt.

Wasserburg – 20 Jahre lang hat Matthias Oesterheld (76) aus Wasserburg als Diplom-Sozialpädagoge in der Forensik des kbo-Inn-Salzach-Klinikums in Gabersee gearbeitet. Gleich zu Beginn im Jahr 1995 fielen ihm nach eigenen Angaben große Lücken in der Geschichte der Institution zur Zeit des Dritten Reichs auf.

Damals seien seit den Verbrechen der NS-Zeit schon 54 Jahre vergangen gewesen und trotzdem habe es bis dato nur zwei Arbeiten gegeben, die sich mit dem Thema beschäftigt hätten: eine Arbeit von Professor Bischof und eine Facharbeit der damaligen Schülerin Helga Untergehrer. Letztere hebt Oesterheld positiv hervor: Erstmals seien Zeitzeugen befragt worden, um das Ausmaß der Taten darzustellen. Dies sei der richtige Schritt in Richtung echte Aufarbeitung gewesen.

Für Oesterheld war trotzdem klar: „Hier musste noch einiges an Arbeit stattfinden, um gegen das Vergessen der Menschen und für eine Erinnerungskultur zu kämpfen.“ Schon immer habe er großes Interesse an der Thematik gehabt und sich auch zuvor mit den Verbrechen in einem der Außenlager des KZ Dachaus in Weil am Lech, wo er früher wohnte, befasst. Der frühere Sozialpädagoge forschte also fünf Jahre lang, neben seiner Arbeit in Gabersee, intensiv an den „Euthanasie“-Verbrechen in der „Heilanstalt“.

„Die vergessenen Opfer“

In seinem Werk „Die vergessenen Opfer“ berichtet Geschichtskundige unter anderem über die ambivalente Rolle des ärztlichen Direktors Dr. Utz in der Zeit des Dritten Reichs. Zwar führte dieser zu Beginn wichtige Neuerungen in der Anstalt ein und reformierte mit der Simonschen Arbeitstherapie den Umgang mit psychisch Kranken und Menschen mit Behinderung, so der 76-Jährige. Im Zuge des NS-Regimes musste er aber die Deportationen der Patientinnen und Patienten vorbereiten und schickte sie damit in den Tod, erklärt Oesterheld.

Ein weiterer Verfechter der „Rassenbiologie“ war nach seinen Recherchen ein Gutachter der Anstalt Haar, der mit einem Plus- oder Minus-Symbol über, in seinen Augen, „lebens- oder lebensunwertes“ Dasein entschied, informiert Oesterheld und zeigt dabei einen der Meldebögen, die damals dafür verwendet wurden. Zudem gibt der Wasserburger, anhand persönlicher Eindrücke von Professor Dr. Karl Leonhard, damaliger Assistenzarzt in Gabersee, einen Einblick in den Alltag in der „Anstalt“ damals in den 30iger Jahren.

Was dabei seine Arbeit vor allem heute so wertvoll macht, sind die vielen Berichte von mittlerweile verstorbenen Zeitzeugen. Anderweitig habe er seine Informationen meist öffentlich zugänglichen Quellen, darunter auch Patientenakten, einsehbar im Archiv des Bezirks Oberbayern, entnommen. Bei seiner Recherche erhielt er immer Unterstützung durch Bezirksarchivar Nikolaus Braun und den Leiter des Wasserburger Stadtarchivs, Matthias Haupt, sagt der Pädagoge.

Falsche Opferzahlen

Außerdem wies Oesterheld schon früh auf das sensible Thema der Opferzahlen hin. Auf dem Denkmal in Gabersee werde an 509 in Hartheim ermordete Opfer erinnert. Er erklärte schon damals, dass bei dieser Zählweise viele durchs Raster gefallen sind, wie man auch seiner Arbeit entnehmen kann. Inkludiert werden müssten sowohl diejenigen, welche nach dem Transport nach Eglfing-Haar in das Vernichtungslager Hartheim/Linz deportiert worden seien, als auch die Opfer in den sogenannten Hungerhäusern in Eglfing-Haar.

Heute sei die Zahl der am Mahnmal in Gabersee angebrachten Opfer überholt, an dem 2020 errichteten Denkmal in Wasserburg wird bezüglich Patientinnen und Patienten aus Gabersee an 637 Opfer gedacht. Darunter auch an Menschen, die der sogenannten „wilden sowie dezentralen Euthanasie“ erlagen, so Matthias Haupt, Stadtarchivar in Wasserburg. Also der unkontrollierten sowie der systematischen, aber dezentralen Ermordung. Ferner gedenkt man an ebendiesem Mahnmal auch den Opfern der damaligen „Pflegeanstalt“ Attel, erklärt der Stadtarchivar.

„Euthanasie“-Opfer aus der „Heil- und Pflegeanstalt“ Gabersee: Stand der Forschung März 2025

„Aktion T4“

Im Rahmen der „Aktion T4“, wurden in vier Transporten im November 1940, sowie am 17. Januar 1941 Patienten der „Heil- und Pflegeanstalt“ Gabersee in die Tötungsanstalt Hartheim gebracht und dort ermordet, berichtet Bezirksarchivar Nikolaus Braun. Der Name „Aktion T4“ leitet sich von der Adresse Berlin, Tiergartenstraße Nr. 4 ab und war die Tarnbezeichnung einer Tötungsbehörde. Bis zur Auflösung der Anstalt Gabersee im Januar 1941 zähle Bezirksarchivar Braun 508 Opfer. Weitere 34 Patienten seien zunächst nach Eglfing-Haar, später aber auch nach Hartheim deportiert worden. Auch sie erlagen dem Nationalsozialismus, erklärt er. Braun zähle folglich 542 Opfer der „Aktion T4“.

„Dezentrale Euthanasie“

Ferner seien 95 Patienten der „dezentralen Euthanasie“ zum Opfer gefallen. Darunter versteht man diejenigen Tötungen, die in den jeweiligen Anstalten selbst erfolgten, und zwar in Abgrenzung zu den in den sechs Tötungsanstalten durchgeführten und zentral, von Berlin aus, organisierten und angeordneten Tötungen, so Braun. Im Einzelnen, erklärt er, gab es 43 Opfer in den „Hungerhäusern“ in Eglfing-Haar und, bislang bekannt, 46 Patienten, die in Folge von systematischer Vernachlässigung starben.

Des Weiteren sei unter den Opfern eine ehemalige Patientin, welche ehemals in der „Pflegeanstalt“ Ecksberg untergebracht und im September 1940 nach Gabersee verlegt worden sei, sei über Eglfing-Haar nach Kaufbeuern verlegt und dort ermordet worden. Zuletzt könne man sicher sagen, dass fünf ehemalige Patienten, welche im Rahmen des sogenannten Maßregelvollzugs in der „Heil- und Pflegeanstalt“ Gabersee eingewiesen worden waren, vor Kriegsende in verschiedenen Konzentrationslagern verstorben seien.

Keine endgültigen Opfer-Zahlen

Somit gibt es nach heutigem Forschungsstand offiziell 637 Opfer der „Euthanasie“-Verbrechen aus der „Heilanstalt“ Gabersee, berichtet der Bezirksarchivar. Braun betont aber, „es wird derzeit zu den Opfern der „Euthanasie“ aus Gabersee geforscht, es ist also möglich, dass sich diese Zahl noch ändern wird“.

Heute findet Umdenken statt

Heute sei das anders. Heute finde ein Umdenken statt. Oesterheld lobt vor allem die neue Klinikleitung, welche viel offener für die notwendige Erinnerungskultur sei. Auch wenn der Lokal-Historiker klarmacht, dass ebendies schon vor 25 Jahren hätte stattfinden müssen, schätzt er trotzdem die Bemühungen, wie Vorträge zur Aufklärung oder das Museum auf dem Klinikgelände, die heutzutage stattfinden. Zudem hebt er die Website, welche zu dem Denkmal in Wasserburg gestaltet wurde, als sehr positiv und aufschlussreich hervor, denn „erinnern kann man nur, was man weiß“.

Auch wenn Oesterheld den Wandel lobt, so fehlen seiner Ansicht nach auch heute noch Gesichter zu den Namen der Opfer. Viele Unterlagen wurden jedoch vernichtet. Man muss, so der 76-Jährige, die Geschichten der Opfer erzählen, um die Empathie der Menschen zu wecken. Die Namensnennung auf dem Denkmal sei ein guter Anfang, aber laut Oesterheld ist es damit nicht getan.

Als Beispiel berichtet er von dem Künstler Gerhard Richter, welcher mit seinem Gemälde „Tante Marianne“ seiner durch Nationalsozialisten ermordeten Tante mit geistiger Behinderung ein Gesicht gibt. Der Rentner appelliert daran, „Geschichte nicht nur trocken, sondern anschaulich und nachvollziehbar zu vermitteln“.

Wenig Resonanz auf Oesterhelds Forschung

Das Trennen seiner Arbeit als Sozialpädagoge von seiner privaten Forschung sei ihm sehr wichtig gewesen, da er damals nicht selten in der Klinik „misstrauische Blicke“ geerntet habe. Die Zeit sei anscheinend noch nicht reif gewesen für eine lückenlose Aufarbeitung. Heute weiß Oesterheld, dass es wohl „ein Prozess ist, der viel länger dauert, als ich es für möglich gehalten habe“. Seine Arbeit hat er nie veröffentlicht, man kann sie aber auch heute noch im Stadtarchiv einsehen. Auch wenn er sich, wie er berichtet, schon seit Jahren nicht mehr mit seinen Forschungsergebnissen auseinandergesetzt hat, so bewahrt er bis heute alle Materialien in einem großen Koffer bei sich Zuhause auf.

„Das Einzige, was gegen das Vergessen hilft, ist das Erinnern“

Oesterheld findet mit Blick auf das Erstarken rechter Kräfte, unter anderem bei der Bundestagswahl, dass es besonders wichtig ist, aufzuklären: „Denn das Einzige, das gegen das Vergessen hilft, ist das Erinnern.“

Kommentare