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Detektivarbeit in den Archiven

Wie ein Zahnarzt den „Tag der Jugend“ untergrub: Juliane Günther erforscht NS-Zeit in Wasserburg

Forscht zur NS-Zeit in Wasserburg am Inn: Juliane Günther, hier im Stadtarchiv.
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Forscht zur NS-Zeit in Wasserburg am Inn: Juliane Günther, hier im Stadtarchiv.

Wasserburg unter dem Hakenkreuz: Viele Ereignisse sind bereits recherchiert, doch das dunkelste Kapitel der Stadtgeschichte weist noch Lücken auf. Wissenschaftlerin Juliane Günther will diese schließen. Über ihre „Detektivarbeit“ in den Archiven und überraschende Erkenntnisse.

Wasserburg – Sie ist von Beruf Kulturwissenschaftlerin, doch Juliane Günther (37) fühlt sich oft eher wie eine Detektivin: Denn sie hat von der Stadt die Aufgabe bekommen, die Zeit des Nationalsozialismus in Wasserburg aufzuarbeiten. Und hier gibt es nicht nur große Lücken, „viel Material hat man auch verschwinden lassen“, sagt sie. Ein Beispiel: Dokumentationen zum Besuch von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß im Jahr 1934, der 1945 als Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, fehlt komplett, so Günther. Nur noch ein Foto hat sie gefunden, außerdem Zeitungsberichte.

Stadtratsprotokolle als wichtige Quellen

Und doch wurde sie in ihrer Forschungsarbeit, die 2021 begann und Ende dieses Jahres in der Veröffentlichung eines Buches enden wird, fündig. Etwa in alten Stadtratsprotokollen, in denen die Reden im Gremium dokumentiert wurden. Schriftwerke, die unter anderem den Krieg verherrlichten und Stadträte ohne NSDAP-Parteibuch an den Pranger stellten.

Oft versteckten sich nach Angaben der Wissenschaftlerin in Akten oder Unterlagen im Wasserburg Stadtarchiv wichtige Hinweise, die auf den ersten Blick nichtssagend erschienen: etwa in einem Schriftverkehr zu Wohnungsangelegenheiten, in dem nach Kriegsende dokumentiert wurde, dass ein Bürger aufgrund seiner nachgewiesenen NS-Vergangenheit aus der Stadt verbannt wurde. In Verwaltungsakten fand sich Schriftgut zur Hitlerjugend und zur Vereinnahmung der Vereine.

Fest zum Stadtjubiläum wurde zum NSDAP-Kreistag

1937 wollte Wasserburg das 800-jährige Stadtjubiläum feiern. Auf Druck der Nationalsozialisten musste das Fest um ein Jahr verlegt werden. Vom ursprünglichen Programm blieb laut Juliane Günthers Recherchen wenig übrig. Stattdessen drückten die Machthaber einen Kreistag der NSDAP als „Ersatz“ durch. Der lief nach einem standardisierten Programm ab, mit den üblichen Aufmärschen. Elemente, die sich der Wasserburger Geschichte widmen sollten, wurden großteils gestrichen, so die Forscherin.

Unterstützt Juliane Günther bei ihren Recherchen: Matthias Haupt, Leiter des Wasserburger Stadtarchivs.

Auch Hinweise auf Widerstandsversuche hat Günther gefunden. Ein Zahnarzt beispielsweise, der Vorsorgeuntersuchungen der Kinder auf den „Tag der Jugend“ legte. Die Familien hatten eine willkommene Ausrede. Und sicherlich gab es auch in Wasserburg Bürger, die sich mit zwei Einkaufstaschen durch die Stadt bewegten, damit sie keine Hand freihatten für den Hitlergruß, berichtet sie.

Die Wasserburger galten bei den Nazi-Größen anfangs als „politisch rückständig“, weil sie sich 1933 nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler weigerten, die Hakenkreuzfahne am Bezirksamt und Rathaus zu hissen.  Erst auf die Drohung, dass im Falle der Weigerung 200 auswärtige SA-Männer herangezogen werden würden, gab man laut Günther im Bezirksamt unter Protest an, nichts gegen das Aufziehen der Fahne zu unternehmen.

Städtisches Leben schnell vereinnahmt

Die Vereinnahmung des städtischen Lebens durch die Nazis geschah dann jedoch sehr schnell. „Die mit der Etablierung der Diktatur in der Stadt betrauten Akteure bewegten sich in vielen Situationen zwischen der eigenen Unsicherheit und einer, oft aus dieser resultierenden Brutalität. Schnellstmöglich wurden als politisch unzuverlässig geltende Stadtangestellte entlassen und Kommunisten, aber auch BVP- und SPD-Stadträte nach Hausdurchsuchungen in ‘Schutzhaft‘ genommen.“

Als nach Kriegsende, amerikanische Panzer durch die Stadt rollten, war die Erleichterung in der Bevölkerung zwar groß, so Günther. Die Versorgungslage sei im ländlichen Wasserburg vergleichsweise gut gewesen. Trotzdem hätten viele die Befreiung der Zwangsarbeiter beispielsweise kritisch gesehen. Neid sei zum Teil aufgekommen beim Blick auf die Camps in Gabersee und Attel, wo zwischen 1946 und 1950 Überlebende der Shoah Zuflucht fanden.

Erste große Publikation

Details, die in ihrem Buch, das im Herbst als neueste Ausgabe der Reihe „Heimat am Inn“ erscheinen wird, dokumentiert werden. Arbeitstitel: „Wasserburg zwischen 1933 und 1945 - Nationalsozialismus in einer bayerischen Kleistadt“. 250 bis 300 Seiten wird das Werk umfassen, berichtet die Autorin.

Es ist die erste große Publikation zu dieser Thematik in Wasserburg. Denn bisher gab es vor allem Recherchen zu Einzelthemen. Im Fokus: die Verschleppung und Ermordung von Patienten im heutigen kbo-Inn-Salzach-Klinikum in Wasserburg sowie von Bewohnern der heutigen Stiftung Attl sowie die Schicksale von Zwangsarbeitern. Das Mahnmal am Heisererplatz gedenkt dieser und aller weiteren Opfer des Nationalsozialismus, nennt sie, soweit bekannt, mit Namen.

Juliane Günther, Mitarbeiterin des Stadtarchivs Ingolstadt, kam bei ihrer Arbeit in Wasserburg zugute, dass sie die Stadt bereits kennt. Vor zehn Jahren absolvierte die gebürtige Leipzigerin im Museum ein Volontariat. Zur NS-Zeit hat sie schon viel geforscht, jedoch in der Regel orientiert an Biografien. Sie hat außerdem bei der Sammlungserfassung im ehemaligen KZ Dachau mitgearbeitet.

„Sinnstiftende Arbeit“

Der Auftrag der Stadt Wasserburg sei auch für sie die Chance, diese Zeit am Beispiel einer Kommune ganzheitlich zu betrachten und zu analysieren. „Es ist eine sinnstiftende Arbeit“, findet die 37-Jährige. Sie möchte vor allem junge Leute erreichen, die Erinnerung mit ihren Forschungen und der Publikation wachhalten – in Zeiten, in denen rechtsextreme Kräfte an Einfluss gewinnen, in ihren Augen besonders wichtig. Der Nationalsozialismus habe damals überall das Leben geprägt und tiefe Wunden hinterlassen, „auch bei uns vor unserer Haustür“.

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