Pandemie in Region Rosenheim
„Menschen sind ihre Freiheit gewohnt“: Wie Landrat Lederer die Spaltung durch Corona erlebte
Hotspot oder Musterschüler in der Pandemie? In der Region Rosenheim brach vor fünf Jahren Corona aus. Landrat Otto Lederer zieht im OVB-Exklusiv-Interview eine Bilanz. Und spricht über Erfolge, Fehler und das Post-Covid-Syndrom der Gesellschaft.
Rosenheim – Am Klinikum in Rosenheim prallten in den vergangenen Jahren Gegensätze aufeinander: Auf der Intensivstation kämpften Corona-Patienten um ihr Leben. Weniger Meter weiter, am Ichikawaplatz, demonstrierten Menschen gegen Corona-Regeln und Impfungen. Wie Corona die Gesellschaft spaltete und wie der Virus jungen Menschen schadete – unter anderem darüber sprach Rosenheims Landrat Otto Lederer mit dem OVB.
Ab Februar 2020 verbreitete sich Corona in der Region – wie sieht Ihre Pandemie-Bilanz fünf Jahre danach aus?
Otto Lederer: Ich stelle fest, dass Bayern und Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern dieser Welt relativ gut durch diese schwierige Zeit gekommen sind. China zum Beispiel fuhr eine ganz harte Linie und sperrte Bürgerinnen und Bürger richtiggehend ein. Dann änderte China die Richtung, und das ging dann mit massiven Infektionen einher. Andersrum gab es Länder wie Schweden, das lange sehr offen mit dem Thema umgegangen ist, dann aber auch irgendwann mal strengere Maßnahmen ergreifen musste und im Vergleich zu anderen skandinavischen Ländern höhere Sterbefallzahlen gehabt hat.
Rosenheim war allerdings immer wieder mal Hotspot.
Lederer: Anfangs waren wir besonders betroffen. In der ersten Welle, als es überhaupt noch keine Impfung, keine Medikamente und keine Erfahrungen gab, wie man damit umgehen sollte. Entscheidungen sind damals sehr regional gefallen, auf Landkreisebene. Wir mussten auf zum Teil mangelhafter Datenbasis und vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher Expertenmeinungen entscheiden. Das war unglaublich schwierig. Wenn man in dieser schwierigen Phase selbst als Entscheidungsträger dabei war, hat man mehr Verständnis dafür, dass es zu Fehlentscheidungen kommen kann.
Was war denn so eine klassische Fehlentscheidung?
Lederer: Aus meiner Sicht hätte man in gewissen Bereichen, nach den entsprechenden Wellen und nachdem es Impfungen gab, schneller lockern können. Das sage ich jetzt natürlich aus der Kenntnis, dass die späteren Varianten eine geringere Sterblichkeit nach sich zogen. Wenn man aber nicht weiß, ob die nächste Variante tatsächlich milder ist als die vorhergehende, dann spielt man vielleicht eher im Team Vorsicht, wie es damals geheißen hat. Deshalb möchte ich da wirklich nicht den Stab brechen.
Manchem griff der Staat zu hart und zu tief ein. Können Sie diese Bedenken zumindest teilweise nachvollziehen?
Lederer: Ja, kann ich. Die Menschen bei uns in Deutschland und natürlich erst recht in Bayern sind ihre Freiheit gewohnt. Wir haben einen Rechtsstaat, in dem die individuellen Freiheiten gesichert sind. Nun plötzlich Eingriffe in diese Freiheiten auf längere Zeit erdulden zu müssen, bedeutete für weite Teile der Bevölkerung eine massive Einschränkung. Gleichzeitig aber gab es auch Menschen, die sogar nach mehr Eingreifen des Staates riefen, weil sie der Meinung waren, dass vulnerable Gruppen mit den bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend geschützt seien. Da gab es beide Seiten.
Man vermeinte damals zu sehen, wie sich ein großer Riss auftut.
Lederer: Ja, und ich glaube, zu diesem Riss hat Corona sehr viel beigetragen, insbesondere in der Zeit, als es um Lockerungen ging. Vor allem in den sozialen Medien hat sich alles Mögliche getummelt, von Verschwörungstheoretikern bis hin zu seriösen Wissenschaftlern. Eine Diskussion auf der Basis von Fakten war schwierig, weil so viele verschiedene Wahrheiten kursiert sind. Und das führte eben zu Misstrauen, auch gegenüber Institutionen. Wenn dann Experten anderen Experten direkt widersprachen, schürte das zusätzlich Misstrauen.
Diskussion gehört zur Wissenschaft, mit These, Antithese, Synthese.
Lederer: Genau, das gehört eigentlich zum wissenschaftlichen Prozess. Aber deswegen sind diese Gräben entstanden, aufgrund dieser Unsicherheit und dieser Emotionalität angesichts der Einschränkungen der Freiheit. Das konnten viele Bürger ganz schwer akzeptieren. Und daraus bildeten sich dann plötzlich zwei Positionen. Auf der einen die eher Vorsichtigeren und auf der anderen diejenigen, die sich auf der freiheitlichen Seite sahen. Die konnten sich auch in Diskussionen nicht mehr annähern. Man hatte eher das Gefühl, dass bei diesen Wortgefechten die Mauern noch höher gezogen wurden.
Ist dieser Riss zu heilen?
Lederer: Ich denke, dass es sich im Laufe der Zeit schon abgeschwächt hat. Ich habe aber das Gefühl, dass immer, wenn Themen kommen, die wissenschaftlich nicht einfach zu deuten sind oder polarisieren, der Riss wieder aufbricht.
Wie beim Thema Migration? Das ist auch schwer einzuschätzen, und nicht einmal Fachleute
verstehen alle Zusammenhänge.
Lederer: Ja, unter anderem, weil es da ganz unterschiedliche Rechtsgebiete gibt. Und unter Flüchtlingen versteht halt jeder was anderes. Der eine meint Asylbewerber, der andere meint die Flüchtlinge aus der Ukraine. Auch da vermengt sich vieles. Und das macht es schwer für die Menschen zu differenzieren. Und dann kommen noch das eigene Gefühl und die eigene Meinung hinzu. Schwierig, dann objektiv zu bleiben.
An Sie als früheren Lehrer, als Profi also, die Frage: Wie sinnvoll waren die Schulschließungen?
Lederer: Das ist auch so ein Thema. Natürlich gab es klare Argumente dafür. Eben um die Ausbreitung dieser Infektion einzugrenzen. Es gibt zwar die Schulpflicht, wir hatten aber auch bei den Kindern vulnerable Gruppen. Die Frage ist letztlich, wann ist es richtig, und wie lange muss man‘s durchziehen? Und da ist es so, wie ich schon gesagt habe: dass man vielleicht früher hätte lockern können und müssen.
Gelitten haben unter der Isolation die jungen Leute insgesamt. Wie groß ist der Schaden? Haben Störungen zugenommen?
Lederer: Ja, sicherlich. Die Zahlen, glaube ich, auch bei uns in der Region, deuten zumindest darauf hin, dass hier Covid negative Entwicklungen gefördert hat. Wenn man es anders gemacht hätte: Ob man sich nicht dafür andere Nachteile eingekauft hätte? Das können wir natürlich nur vermuten. Und deswegen muss man immer beide Seiten sehen.
Welche positiven Entwicklungen hat Corona angestoßen?
Lederer: Ich darf das Thema Zusammenarbeit herausgreifen. Ob zwischen Stadt und Landkreis, ob mit dem Katastrophenschutz, der Medizin oder der Verwaltung. Am Anfang haben wir Lehrer, Polizisten und andere Helfer zugewiesen bekommen, damit wir die Kontaktverfolgung überhaupt machen konnten. Wie gut das funktionierte, ist für mich beeindruckend. Das Gesundheitsamt hatte anfangs gut 40 Köpfe und ist auf fast 200 angewachsen. Das musste alles gemanagt werden. Und das ging nur mit hohem Einsatz der Kolleginnen und Kollegen. Dr. Hierl (der Leiter des Gesundheitsamts, Anm. der Red.) und andere waren 24 Stunden gefordert, und das an sieben Tagen in der Woche. Man vergisst oft, wie viele Menschen in dieser Zeit über sich hinauswuchsen. Dafür möchte ich herzlich danken.
Wären wir auf die nächste Pandemie besser vorbereitet?
Lederer: Ja, wir wären besser vorbereitet. Nichtsdestotrotz gäbe es immer noch Dinge, die man verbessern könnte. Ich denke, wir haben gesehen, wie abhängig die Wirtschaft ist. Bei der Digitalisierung sind wir mittlerweile schon ein Stück weit besser. Aber ob wir tatsächlich alle Bereiche schon vollkommen abgedeckt haben? Da lassen wir erstmal das Fragezeichen. Ich bin froh und dankbar, dass Herr Dr. Hierl in einer Arbeitsgruppe mitwirkt, die aus diesen Erfahrungen Erkenntnisse ableitet, mit denen man sich noch besser auf eine nächste
Pandemie vorbereiten kann.
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