Rosenheimer Experte Benjamin Grünbichler
Das Virus, das die Gesellschaft krank machte: Wie Corona auf Politik und Wahlkampf wirkt
Corona ist so gut wie überstanden, nicht aber die Spaltung der Gesellschaft. Der Rosenheimer Sucht-Experte Benjamin Grünbichler erklärt, was das für die Politik heißt. Warum ein Bierzelt kein guter Ort zum Differenzieren ist. Und was wir fürs Zusammenleben neu lernen sollten.
Rosenheim – Auch in Rosenheim wurde über Corona-Regeln gestritten, und zwar so vehement dafür wie dagegen. Wie sich das auf Politik und Zusammenleben auswirkt, und warum Rechthaben eine schlimme Sucht ist, das weiß Benjamin Grünbichler. Der Sucht-Therapeut von Neon sprach im Exklusiv-Interview mit dem OVB über Ausgrenzen und Schubladendenken, darüber, warum ein Bierzelt in Aschau nicht unbedingt ein guter Ort für politische Argumente und die verbale Keule selten ein Werkzeug guter Politik ist.
Viele Menschen sprechen von Polarisierung, von Spaltung der Gesellschaft. Nehmen Sie das auch wahr?
Benjamin Grünbichler: Die Gesellschaft war noch nie homogen. Sie muss es auch nicht sein. Die Frage ist, ob es noch den Konsens gibt, dass wir als Gesellschaft funktionieren wollen. Da merken wir, dass sich die Polarisierung in der Corona-Pandemie verstärkt hat.
Warum hat gerade Corona so zerstörerisch gewirkt?
Grünbichler: Die einen beurteilten Corona als extrem gefährlich und forderten einschneidende Maßnahmen, bis hin zu Maßnahmen, die einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen gleichkamen.
Soldaten zum Beispiel.
Grünbichler: Ja, Soldaten, auch medizinisches Personal. Jedenfalls, die einen entschieden über Maßnahmen. Auf der anderen Seite gab es aber auch Menschen, die sagten, Corona ist doch nichts Neues, macht mal halblang, die Maßnahmen gegen Corona verursachen mehr Schaden als das Virus selbst. Sie fühlten sich mit ihren Sorgen erst nicht ernst genommen, fühlten sich dann ausgegrenzt und wurden ja auch durch Regeln ausgegrenzt. Denken Sie an die G-Regeln. Das Bewerten und das Abwerten, das führte zur Spaltung. Der Respekt ging in der Pandemie-Zeit flöten. Da haben sich Menschen selbst radikalisiert, weil sie aus der Mitte der Gesellschaft rauskommuniziert wurden.
Da trugen dann manche Judensterne, um sich als Verfolgte darzustellen. Das war die Schuld der andern, der Befürworter der Corona-Regeln?
Grünbichler: Die Schuldfrage ist schwer zu klären. Wer hat angefangen? Man kann aber sagen, dass die Menschen, die den Maßnahmen kritisch gegenüberstanden, mitunter pauschal verurteilt wurden. Wenn Sie eine Demo mit 30.000 Menschen betrachten: Da liefen die allerwenigsten mit einer Reichskriegsflagge herum oder zogen Vergleiche mit dem Nationalsozialismus. Und das kann man in der Berichterstattung verhältnismäßig abbilden: Ja, es gibt extreme Positionen, aber es gibt da vor allem auch Menschen, die mit dieser und jener Maßnahme nicht einverstanden sind. Anstatt gleich zu sagen: Wer an der Seite von Nazis geht, macht mit denen gemeinsame Sache. Ein Totschlag-Argument.
Das habe ich selber verwendet.
Grünbichler: Ich sage auch nicht zu einem Mitbürger, der katholischen Glaubens ist, du machst gemeinsame Sache mit Leuten, die sich an Kindern vergreifen, wenn du nicht aus der Kirche austrittst. Man wendet selektive Logiken an, weil man Menschen zu einem Verhalten bewegen will. Das ist manipulativ. Menschen, die sich nicht zu einem Verhalten bewegen wollen, die wenden sich womöglich extremeren Gruppen zu. Weil sie sich eh ausgeschlossen fühlen. Da wurde kommunikationslogisch ein großer Fehler begangen. Ich bin sicher, dass viele Menschen, die heute als eher radikal gelten, andernfalls gar nicht so weit weggedriftet wären. Man hätte nicht bei Demos pauschal von „Coviditioten“ oder „Demokratiefeinden“ reden dürfen.
Haben wir das Streiten verlernt?
Grünbichler: Was wir vor allem verlernt haben, ist Empathie. Die ist wichtig fürs Differenzieren, für Respekt und Verständnis. Man muss nicht jeden, der Fragen und Sorgen hat, als wissenschaftsfeindlich oder als Verschwörungstheoretiker bezeichnen. Wir haben nicht das Streiten verlernt, sondern das Mitgefühl. Auf beiden Seiten übrigens. Ich habe mir während der Corona-Pandemie auf den verschiedenen Rosenheimer Demonstrationen ein Bild von den Menschen dort machen können. Das Unterstellen „böser Absichten“ und das Schubladen-Denken habe ich sowohl bei Corona-Maßnahmen-Kritikern als auch bei den Maßnahmen-Befürworten beobachten können.
Gut, dass Corona vorbei ist.
Grünbichler: Das kann sich bald erneut abspielen, beim Thema Klimawandel beispielsweise. Oder beim Ukraine-Krieg. Auch ganz ohne Krisen gibt es die Tendenz zur Spaltung. Wir wollen einerseits zusammenleben, aber uns Menschen taugt auch die Abgrenzung. Weil die Identität stiftet. Das klingt widersprüchlich, aber es besteht beides nebeneinander: Der Wunsch nach Zugehörigkeit zur Gesellschaft und die exklusive „Mitgliedschaft“ in einer kleineren Gruppe, die anderen „überlegen“ ist.
Was wir direkt vor der Haustür haben, ist eine Landtagswahl. Wie wirkt sich die Polarisierung auf die Politik aus?
Grünbichler: Es gibt sie noch immer, die Politiker, die sich respektvoll äußern, trotz unterschiedlicher Positionen. Aber das Parlament ist häufig auch eine Plattform, auf der man darstellt, wie bescheuert die Gegenseite ist. Und wie sie Deutschland schadet. Mit diesem Ton befriedigt man kurzfristig sein Ego. Man bekommt Applaus, weil man jemanden bloßgestellt hat. Und Rechthaben ist ohnehin geil. Aber für unser Land und unser Zusammenleben ist das nicht hilfreich.
Polemik gehört doch auch zur Politik.
Grünbichler: Aber nicht andauernd. Und wir sollten genau hinschauen, bevor wir Keulen schwingen. Etwa „Das ist außerhalb des Sagbaren“ oder „Das und das ist rechts“. Wir sollten mehr beobachten, weniger werten. Manchmal werfen Parteien einander Dinge vor. Und die Darstellungen sind häufig auch noch verkürzt. Eben um zu polarisieren. Das wirkt in der Politik, bringt für unsere Zukunft auf Dauer aber wenig.
Ist das Bierzelt ein geeignetes Forum für Politik und Demokratie? Ich erinnere mich an Hubert Aiwanger in Aschau, der die „Freunde des gesunden Menschenverstands“ gegrüßt hat: „Willkommen im Bierzelt.“
Grünbichler: Menschen hören gerne von anderen, was sie in ihrer Meinung bestärkt. Als Suchttherapeut finde ich das Setting eines Bierzelts, nun ja, speziell. Man ist unter Menschen, die zusammen sind und das genießen, die Atmosphäre ist gesellig und entspannt, man feiert sich und den Redner oder die Rednerin. Und bestärkt sich in dem, an was man ohnehin glaubt. Ein Bierzelt ist aus meiner Sicht nicht der Ort, an dem man differenziert und bewusst über den Tellerrand hinaussieht. Um andere Blickwinkel einzunehmen, braucht es eine andere Grundstimmung. Und wahrscheinlich auch Null Promille (lacht).
Auch die Causa Aiwanger polarisiert. Als Populisten bezeichnen ihn Kritiker, von einer Schmutzkampagne reden die Fans.
Grünbichler: Sie ist so komplex, diese Diskussion. Weil diese Dinge so unglaublich lange her sind. Aus therapeutischer Sicht wissen wir, dass junge Menschen Grenzen ausloten. Manchmal auch geschmacklos und menschenverachtend. Wenn man überlegt, was man selber mal als junger Mensch für Witze gerissen hat... Als Gesellschaft verzeihen wir normalerweise Sachen, die jemand in der Jugend tut. Wie Hubert Aiwanger selbst mit der Sache umgeht, das steht auf einem anderen Blatt.
Wir leben in einer schönen Region, die allerdings – siehe Corona oder Brenner-Nordzulauf – schon gerne streitet. Ist Rosenheim ein besonderes Pflaster?
Grünbichler: Ich hab das schon öfter gehört, dass unsere Region die Neigung hat, sich gegen gewisse Entwicklungen zu stemmen. Vielleicht hat es mit Wohlstand zu tun. Menschen, die ein besseres Leben haben, haben auch mehr Zeit, sich mit Dingen zu beschäftigen. Ein Mensch, der dauernd damit beschäftigt ist, sein Leben zu sichern, wird sich womöglich weniger in solchen Dingen engagieren. Das ist meine Hypothese. Und hier in Rosenheim geht es auch viel um Gesundheitsbewusstsein und Lifestyle. Tja, und dann kommen politische Entscheidungen, die manche als gesundheitlich fragwürdig und auch als Bevormundung wahrnehmen: Deswegen war das Impfen während Corona vielleicht so ein großes Thema.
Erwarten Sie eine Verstärkung der Polarisierung während der heißen Phase des Landtagswahlkampfs?
Grünbichler: Es geht jetzt um sehr viel: Wer hat in Zukunft die Regierungsverantwortung in Bayern? Da kann es gut sein, dass mit allen Mitteln darauf hingewiesen wird, wie alternativlos die Positionen der eigenen Fraktion sind und wie „unwählbar“ alle „Anderen“ sind. In der Regel werden eigene Stärken betont und die Politik der Anderen als Unding abgetan. Wünschenswert wäre es, wenn gerade in der jetzigen Phase unsere Politikerinnen und Politiker mit gutem Vorbild voran gehen und den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, wie man Werbung für die eigene Politik macht und gleichzeitig mit Menschen anderer politischer Überzeugungen respektvoll und empathisch umgeht.