Exklusiv-Interview in Rosenheim
Risiko durch Mutationen: Warum Gesundheitsamts-Chef Hierl dringend zur Corona-Aufarbeitung rät
Improvisieren im Hochansteckungsgebiet: Dr. Hierl vom Gesundheitsamt Rosenheim war bei Ausbruch der Corona-Pandemie besonders gefordert. Im OVB-Exklusiv-Interview spricht er über Fehler und Erfolge und den Nutzen von Hörbüchern.
Rosenheim – Der Ausbruch der Corona-Pandemie stellte das Staatliche Gesundheitsamt Rosenheim vor besondere Herausforderungen. Im Mittelpunkt stand Dr. Wolfgang Hierl als Leiter des Amtes. Er musste die Ausbreitung eines Virus hemmen und seine Behörde umorganisieren. Mit dem OVB sprach er exklusiv über Fehler und Erfolge, die Freude am Fax und den Nutzen von Hörbüchern.
Herr Dr. Hierl, ziehen wir fünf Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie Bilanz. Was ist aus Ihrer Sicht gut gelaufen?
Dr. Wolfgang Hierl: Deutschland ist im Vergleich mit anderen Ländern gut durch die Pandemie gekommen. Gerade wenn man die deutsche Bevölkerung anschaut, die im Vergleich zu anderen Nationen älter ist: Da hatten wir vergleichsweise geringe Fallzahlen an Verstorbenen. Die auf die Bevölkerung bezogenen Maßnahmen, vor allem im ersten Jahr, waren unheimlich belastend, aber äußerst wirksam, was Übertragung und auch die Sterblichkeit angeht. Bevor es die Impfung gab, hatte man gar keine anderen Möglichkeiten der Pandemiebekämpfung als die kontaktreduzierenden Infektionsschutzmaßnahmen. Ich stehe deswegen zu diesem Zeitpunkt immer noch voll dahinter.
Was lief nicht so gut?
Hierl: Dieser Lockdown light im November 2020. Da wäre es mit Sicherheit effektiver gewesen, stringent und nicht „light“ reinzugehen. Dann hätte man die zweite Infektionswelle mit den vielen schweren Krankheitsverläufen abkürzen können. So kamen die strengen Maßnahmen zu einem Zeitpunkt, als sich die Welle schon aufgebaut hatte. Andere Themen sind sicher auch die Kommunikation der Politik über getroffene Schutzmaßnahmen, die gerechte Verteilung der Lasten auf die Bevölkerung und der Zeitpunkt einer Deeskalation der Infektionsschutzmaßnahmen. Die „Lessons learned“ sollten von der Politik aufgearbeitet werden.
Man fuhr lange Zeit auf Sicht.
Hierl: Auch für uns am Gesundheitsamt war die Pandemiebekämpfung völliges Neuland. Es gab keine Blaupause. Ein Verbot einer Veranstaltung mit mehreren tausend Teilnehmern – das hätte man sich früher nie träumen lassen. Wir waren am Landratsamt Rosenheim übrigens tatsächlich die Ersten, die eine Allgemeinverfügung erließen.
Die Ersten in Bayern?
Hierl: Also ich weiß nicht, ob es in einem anderen Bundesland so etwas schon gab. Jedenfalls war sie die Erste in Bayern. Zuvor gab es nur die Möglichkeit von Einzelanordnungen.
Wie kamen Sie zu Beginn zurecht?
Hierl: Wir mussten uns am Gesundheitsamt neu organisieren. Wir stellten Spezialteams auf, zum Beispiel für Maßnahmen in Kliniken, Heimen und Schulen, und wir richteten eine Telefon-Hotline ein. Dann wurde uns langsam Personal zugeordnet, das eingearbeitet werden musste. Das lief aber gut. Die Zusammenarbeit in den Stäben, also die Führungsgruppe Katastrophenschutz zusammen mit Stadt und Landratsamt, hat reibungslos funktioniert, ebenso wie die Zusammenarbeit mit den anderen Behörden und mit den Kliniken. So etwas lernt man nicht im Studium, wir sind reingewachsen. Das war eine positive Erfahrung. Übrigens haben auch der Aufbau des Testzentrums und des Impfzentrums wie am Schnürchen funktioniert.
Fast schon überraschend, sieht man sich die teilweise veralteten Strukturen an. Der Running Gag zu Beginn der Pandemie war das unvermeidliche Fax-Gerät in jedem Gesundheitsamt.
Hierl (lacht): Ich fand Fax super. Vor Corona war das einfach ein probates Gerät, das sehr zuverlässig funktioniert hat. Aufgrund der besonders hohen Fallzahlen bei Corona ging das irgendwann nicht mehr. Was sich dann an Digitalisierung im öffentlichen Gesundheitsdienst getan hat, war schon erheblich. Die ganzen Programme fürs Meldewesen und auch die Möglichkeit für Videokonferenzen gab es davor ja nicht.
Es ereigneten sich Szenen, die kaum zu ertragen waren. Etwa wenn ältere Menschen einsam sterben mussten, weil ihre Angehörigen keinen Zutritt erhielten. War es klug, nur auf die strengen Stimmen der Epidemiologen und Virologen zu hören?
Hierl: Ich bin grundsätzlich dafür, dass man Beratungsgremien aus den verschiedensten Disziplinen einsetzt, um auch andere Blickwinkel zu erhalten. Allerdings muss ich sagen, dass ich mir für das Jahr 2020, also bevor es eine effektive Impfung gab, tatsächlich gar keine wesentlich anderen Maßnahmen für die Pandemiebekämpfung hätte vorstellen können. Wenn ein Verwandter in einer Einrichtung einsam stirbt, ist das schrecklich. Wir hatten im Gesundheitsamt mit vielen schlimmen Schicksalen zu tun. Dem Gesundheitsamt wurden in der ersten und zweiten Welle pro Tag zehn und mehr Todesfälle aus den Pflegeheimen gemeldet. Hätte man die Isolationsmaßnahmen gelockert und den Besucherverkehr erhöht, dann wären unweigerlich mehr Infektionen in die Heime getragen worden. Das hätte die Todesfallzahlen dort noch einmal deutlich erhöht. So schlimm es war, so glaube ich doch auch, dass kontaktreduzierende Maßnahmen für 2020 tatsächlich der richtige Weg waren. Ich bin der festen Überzeugung: Die beiden Lockdowns im Jahr 2020 haben die Gesundheitsversorgung in der Region Rosenheim tatsächlich vor dem Kollaps gerettet.
Und danach?
Hierl: Ganz anders schaut es für mich 2021 aus. Die Impfungen begannen mit dem neuen Jahr, mit den Hochbetagten und besonders Vulnerablen in den Heimen. Die Sterblichkeitskurven gingen danach schnell nach unten. Ja, rückblickend kann man sagen, dass man nach der Durchimpfung der Heimbewohner und der Einführung von Tests die Regeln im Heimbereich für einen begrenzten Zeitraum hätte lockern können.
Können Sie sich noch den 15-Kilometer-Bannkreis für Hotspots im Jahr 2022 erinnern? Wie sinnvoll war das?
Hierl: Zu Beginn der Pandemie, als norddeutsche Kommunen noch gar keine Fälle hatten und es bei uns schon hohe Fallzahlen gab, machten regionale Lösungen vielleicht Sinn. Aber irgendwann musste man einfach davon ausgehen, dass die Infektionsfälle breit in der Bevölkerung angekommen waren. Regionale Begrenzungen brachten dann nicht mehr viel.
Corona bescherte Menschen im Gesundheitswesen Stress. Wie erschöpft waren Sie und Ihre Mitarbeiter am Gesundheitsamt?
Hierl: Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren schon sehr erschöpft. Ich habe mit den Mitarbeitern gesprochen, habe versucht, sie zu motivieren und bei der Stange zu halten. Das ist schwierig, gerade wenn man selber sehr belastet ist. Ich komme immer auf das Jahr 2020 zurück. Das war das Jahr, in dem am meisten zu leisten war, wo alles neu war und man nicht wusste, wo die Reise hingeht. Das war schwierig, aber wir haben es zusammen, glaube ich, gut meistern können.
Wie kamen Sie persönlich damit zurecht?
Hierl: Ich hatte am Anfang einfach aufgrund der Belastung schon auch Probleme mit dem Einschlafen und habe mir englischsprachige Hörbücher angehört. Die Definitive Collection der Sherlock Holmes Adventures mit Erzähler Stephen Fry zum Beispiel. (lacht) Schönstes British English, über 70 Stunden. Weil man sich da aber fokussieren muss, bin ich immer nach zehn Minuten zuverlässig eingeschlafen. Das war ein gutes Mittel, zumindest nachts zur Ruhe zu kommen.
Woher droht die nächste Seuchen-Gefahr? Und wann?
Hierl: Zwischen den Pandemie-Wellen liegen immer fünf bis zehn Jahre. Oder auch mal 20 Jahre. Aber sicher sein kann man sich nicht. Die Bevölkerung wird immer mobiler, so verbreitet sich ein Erreger schnell über Kontinente hinweg. Mit Sorge schaue ich momentan auf die USA. Dort gibt es Probleme mit dem Vogelgrippe-Virus H5N1, das in Milchviehbetrieben angekommen ist und sich dort ausbreitet. Einige Mitarbeiter haben sich infiziert, einer ist verstorben. Der Verlauf beim Menschen ist meistens sehr milde und es gibt bislang noch keine Übertragung von Mensch zu Mensch. Aber die Wissenschaft sagt, es brauche nur noch ein paar Mutationen des Virus, und dann könne es sich auch von Mensch zu Mensch verbreiten. Man muss auf alles vorbereitet sein.
Wie schnell das gehen kann, haben wir gesehen. Corona war doch wenige Jahre zuvor auch schon mal in einer harmloseren Form aufgetaucht.
Hierl: Das war ganz und gar nicht harmlos. Dieses Sars-CoV-1 hatte sogar eine höhere Letalität als Sars-CoV-2. Also, alles, was viral über Tröpfchen übertragbar und hoch pathogen ist, ist ein ernstzunehmender Kandidat für eine Pandemie.
