Lebensqualität verbessern
Pflegeversicherung vor der Pleite: Wissenschaftler aus der Region warnt vor Kollaps
Die Pflegeversicherung steht vor der Pleite. Bekommen Pflegeheime, ambulante Pflegedienste und pflegebedürftige Menschen bald kein Geld mehr? Wir haben einen Fachmann gefragt: Versorgungsforscher Elmar Stegmeier aus Aschau im Chiemgau.
Aschau im Chiemgau – In vier Monaten geht der Pflegeversicherung das Geld aus. Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland erfahren hat, soll die Pleite mit einer „Notoperation“ – der Erhöhung der Beitragssätze der Pflegeversicherung um 0,25 bis 0,3 Punkte – abgewendet werden. Warum die Belastung der Versicherten nicht der einzige Weg zu einer zukunftssicheren Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung sein kann, sondern eine grundlegende Reform der Pflege erforderlich ist, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, erklärt Versorgungsforscher Elmar Stegmeier aus Aschau im Chiemgau im OVB-Interview.
Seit Anfang der 1970er-Jahre wissen wir, welche Auswirkungen der demografische Wandel auf die Gesellschaft haben wird. Es ist bekannt, dass die Zahl der Pflegebedürftigen jedes Jahr um knapp 330.000 steigt, dass es in der Pflege an Personal und Geld fehlt. Trotzdem steht die Pflegeversicherung jetzt vor der Pleite. Können Sie erklären, wieso es so weit kommen konnte?
Elmar Stegmeier: Wir haben nie die gesamtgesellschaftliche ethische Diskussion geführt, wie wir pflegebedürftige Menschen versorgen wollen, und wie wir das finanzieren können. Und so hat sich die Entwicklung verselbstständigt. Die Tradition, dass die betagten Eltern von den Töchtern oder Schwiegertöchtern in der Familie bis an ihr Lebensende kostenfrei gepflegt werden, ist über die Jahre verloren gegangen. Immer mehr stationäre Pflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste wurden gebraucht. Zudem wurden innovative Hilfsmittel entwickelt, die die Lebensqualität und Gesundheit von pflegebedürftigen Menschen verbessern. Die Leistungsansprüche der Menschen, die im Sozialgesetzbuch XI definiert sind, haben sich erhöht. Die Qualität der Pflege hat sich insgesamt enorm verbessert.
Damit sind auch die Kosten gestiegen, ohne dass die Ausgaben (also die Leistungsansprüche der Menschen aus der Pflegeversicherung) und die Einnahmen (die Beiträge zur Pflegeversicherung) durch neue Finanzierungsmodelle oder eine Pflegereform demografiefest angepasst wurden. Und das geht nun mal nicht lange gut. Richtig wäre der umgekehrte Weg gewesen: Wir definieren in einer gesamtgesellschaftlichen Debatte unsere Vorstellungen von einer menschenwürdigen, qualitativ hochwertigen Pflege, stecken den dafür erforderlichen finanziellen Rahmen ab und suchen nach Finanzierungsmodellen, die dann durch den geschaffenen gesamtgesellschaftlichen Kontext auch akzeptiert werden.
Warum hat noch keine Regierung eine grundlegende Pflegereform angepackt?
Elmar Stegmeier: Weil es das wohl schwierigste und komplexeste Thema im Gesundheitssystem ist. Man darf nicht vergessen: In Deutschland ist das Gesundheits- und Pflegesystem durch ein Modell der Selbstverwaltung mit unterschiedlichen Perspektiven von Gesetzgeber, Leistungserbringern, Kostenträgern und Patienten zerstückelt. Preise unterliegen keinen Marktmechanismen, sondern sind auf Verhandlungsbasis budgetiert, also vorgegeben. Das ist ein kompliziertes Konstrukt, in dem der Bund und die Länder auch noch unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Hinzu kommt eine unterschiedliche Gesetzgebung für Gesundheit und Pflege in den Sozialgesetzbüchern V und XI sowie eine Trennung in Kranken- und Pflegekasse.
All diese Strukturen müssten auf den Prüfstand und überarbeitet werden. Deshalb braucht man für einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der Pflege und im gesamten Gesundheitssystem weitaus mehr als nur eine Legislaturperiode. Und beschreibt man es mit den Worten des einstigen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der von 1992 bis 1998 ja auch Bundesminister für Gesundheit war, dann kann man mit dem Thema Gesundheit keine Wahlen gewinnen, wohl aber verlieren. Und so wurden auch Zeiten, in denen die Wirtschaftslage gut war und die Beitragsquellen sprudelten, nicht für Reformen genutzt. Das hat über die Jahre trotz der bekannten demografischen Entwicklung zum Pflegekollaps geführt.
Was bedeutet es für Pflegeheime, ambulante Pflegedienste und Familien mit pflegebedürftigen Menschen, wenn die Pflegeversicherung pleite ist?
Elmar Stegmeier: Ich bin überzeugt davon, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, dass Familien kein Pflegegeld mehr bekommen, dass nichts mehr da ist für Kombi- oder Pflegesachleistung, für zusätzliche Betreuungsleistungen, stationäre Pflege, für Pflegehilfsmittel oder den barrierefreien Umbau der Wohnung. Wenn die Pflegeversicherungen irgendwann kein Geld mehr haben, dann muss und wird der Staat einspringen. Da bin ich mir sicher. Entsprechend sind auch die Signale aus der Politik.
Um eine Pleite abzuwenden, soll der Beitragssatz der Pflegeversicherung angehoben werden. Auch die Krankenversicherungsbeiträge sollen steigen. Können allein die Versicherten das deutsche Gesundheitssystem retten?
Elmar Stegmeier: Es wäre Augenwischerei, wenn man auf der einen Seite die Versicherungsbeiträge stabil halten will und auf der anderen Seite mehr Steuern für die Finanzierung der Pflege fordert. Fakt ist doch, dass beides von den Bürgern kommt, die auf die eine oder andere Weise sowieso die meisten Kosten tragen. Fraglich ist allerdings, ob man in der anhaltenden Wirtschaftskrise unseren Unternehmen noch zusätzliche Sozialabgaben zumuten darf. Immerhin zahlen die Arbeitgeber zu Pflege- und Krankenversicherung ja die Hälfte dazu.
Die stationäre Pflege im Heim wird immer teurer. Momentan liegt der bundesdeutsche Schnitt bei einem Eigenanteil am Pflegeheimplatz von etwa 2.871 Euro pro Monat, in Bayern ist er noch weitaus höher. Die Pflegeversicherungen hingegen tragen – abhängig vom Pflegegrad – nur bis zu 2005 Euro. Das macht Pflege trotz der gesetzlichen Pflegeversicherungspflicht doch vor allem zur Privatsache. Warum werden die Eigenanteile der Pflegebedürftigen nicht gedeckelt?
Elmar Stegmeier: Dazu müsste die Finanzierung der Pflege umstrukturiert werden. Momentan lastet die Finanzierung eines stationären Pflegeplatzes auf den Schultern der Pflegeversicherung und des stationär versorgten Pflegebedürftigen. Bisher bezahlt der Pflegebedürftige von seiner Rente und seinen Ersparnissen die Unterkunft, die Verpflegung, die Investitionskosten sowie einen Eigenanteil für Pflegekosten. Wenn ein Pflegebedürftiger dafür eine zu geringe Rente hat und die Ersparnisse aufgebraucht sind, springt der Steuerzahler ein, denn dann wird der Eigenanteil über die sogenannte „Hilfe zur Pflege“ gezahlt.
Die Pflegekasse übernimmt einen festen Sockel. Alle Kosten, die dadurch nicht abgedeckt werden, also die nach oben offene Spitze, zahlen die Kunden als Eigenanteil selbst. Das heißt auch: Alle Kostensteigerungen treiben auch die Kosten der Kunden und der Sozialversicherung in die Höhe.
Es gibt Modellrechnungen von Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen aus dem Jahr 2019 zur Finanzreform der Pflegeversicherung. Dabei hat er festgestellt, dass ein Sockel-Spitze-Tausch sowohl den Pflegebedürftigen als auch die Sozialversicherung entlasten würde. Das aktuelle Pflegesystem würde auf den Kopf gestellt. Der Kunde würde nur noch einen festen Sockel als Eigenanteil zahlen. Und die nach oben offene Spitze müssten die Pflegekassen übernehmen. Um das zu finanzieren, wäre nach seinen Berechnungen ein jährlicher Steuerzuschuss erforderlich, der sich von anfänglich etwa fünf Milliarden Euro pro Jahr auf etwa 18 Milliarden Euro im Jahr 2045 erhöhen würde. Diese Gelder würden aber in der Sozialversicherung wieder frei. Das heißt, die vorhandenen Steuermittel würden nur umverteilt, und zwar so, dass sowohl die Beitragszahler als auch die stationär versorgten Pflegebedürftigen entlastet würden. Eine Umverteilung der Mittel käme also dem einzelnen Menschen und der Gemeinschaft zugute.
Eine Umverteilung der vorhandenen Mittel fordert auch das 12-Punkte-Programm der CSU-Landtagsfraktion für eine Pflegerevolution, an dem Sie mitgewirkt haben. Was wird dort vorgeschlagen?
Elmar Stegmeier: Eine umfassende Pflegereform – ohne Denkverbote und unter Einbeziehung der pflegenden Angehörigen. Eine Finanzierungsreform der Pflege, die in eine Pflegevollversicherung münden kann und in der auch die private Pflegeversicherung eine Rolle spielen sollte. Eine stärkere Finanzierung aus Steuergeldern, um die Pflege langfristig abzusichern. Das System der Leistungsansprüche soll vereinfacht werden. Pflegestützpunkte werden reformiert und um vor Ort tätige, unabhängige Pflegelotsen erweitert.
Wichtig ist auch die Entlastung der pflegenden Angehörigen durch spezielle Kurangebote vergleichbar einer Mutter-Kind-Kur, nur umgekehrt. Auch bei der Pflege ist der Bürokratieabbau und die Nutzung von IT-gestützten Vereinfachungen ein Hebel für Kosteneinsparungen, die nicht zu Lasten der Pflege am Menschen gehen.
Sie sind Versorgungsforscher und leiten das Institut für Soziale Wirkungsanalysen im Gesundheitswesen in Aschau. Sie haben auch eine Care-Zeit für pflegende Angehörige vorgeschlagen. Was ist das?
Elmar Stegmeier: Das ist eine Pflegezeit ähnlich der Elternzeit. Als erwerbstätige Kinder können wir für unsere Eltern bisher eine Pflegezeit von bis zu sechs Monaten nehmen und uns von der Arbeit freistellen lassen, erhalten dafür aber keinen Lohnersatz. Momentan gibt es lediglich für eine akute Pflegesituation von bis zu zehn Tagen eine Lohnersatzleistung, das sogenannte Pflegeunterstützungsgeld in Höhe von 90 Prozent des ausgefallenen Nettoarbeitsentgelts, maximal jedoch 120,75 Euro pro Tag.
In der Care-Zeit sollte der Staat pflegenden Angehörigen wie im Modell der Elternzeit ein monatliches Basisgeld von bis zu 67 Prozent des durchschnittlichen Einkommens der letzten zwölf Monate zahlen. Zugleich sollten den pflegenden Angehörigen in der Care-Zeit Pflegelotsen zur Seite gestellt werden. Die Pflegelotsen würden die Pflegebedürftigen und deren Familien ein Jahr lang begleiten, deren komplexen Bedarf aufgreifen und zusammen mit allen Pflegebeteiligten lösen. So werden die Angehörigen in ihren Aufgaben unterstützt und vor Überlastung und Krankheit geschützt. Pflegerische Maßnahmen können zielgerichtet eingesetzt werden und die Lage für den Betroffenen stabilisiert sich in einem individuellen Pflegenetzwerk. So wäre dem Gesamtsystem geholfen.
Das könnte aber teurer werden als die bisherige Pflege.
Elmar Stegmeier: Nein, ganz im Gegenteil. Entscheidend ist eine komplette Strukturreform. Wir müssen den Menschen als Ganzes sehen und nicht mehr unnatürlich getrennt danach, in welchen Sozialgesetzbüchern seine Leistungsansprüche definiert sind. Nur so können Doppelstrukturen vermieden, die Qualität verbessert und Kosten gespart werden. Die Pflegelotsen sind dabei ein Baustein in einem unübersichtlichen und komplexen System.
Dieses komplexe System muss auf allen Ebenen grundlegend geändert und vereinfacht werden. Dann werden auch die Finanzierungsmechanismen einfacher sowie plan- und steuerbarer. Das Wichtigste aber: Pflegebedürftige Menschen und ihre pflegenden Angehörigen müssen an Lebensqualität gewinnen. Sie dürfen zu keinem Zeitpunkt ihrer Pflegebelastung durch finanzielle Themen ihre Würde verlieren! Und hier sind wir wieder beim Anfang, dass die finanziellen Themen nicht alleiniges Problem des ohnehin belasteten Betroffenen sein sollen, sondern im gesamtgesellschaftlichen Diskurs gelöst werden müssen.