Was AWO, BRK, Caritas, Diakonie und VdK fordern
Alarm in der Region: „Gute Pflege darf keine Armutsfalle sein“
Die Freien Träger schlagen Alarm: „Gute Pflege darf keine Armutsfalle sein“. Doch immer mehr pflegebedürftige Senioren sind auf Sozialhilfe angewiesen. Immer mehr Pflegeheime geraten in finanzielle Schieflage oder rutschen in die Insolvenz. So ist die Lage.
Landkreis – „Gute Pflege darf keine Armutsfalle sein“, fordert Dirk Spohd, Geschäftsführer der Hilfe im Alter gGmbH, einer Tochter der Diakonie München und Oberbayern. Doch die Praxis zeigt ein anderes Bild: Pflege wird immer teurer. Renten und Ersparnisse reichen nicht mehr aus. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger steigt. „Wir beobachten in unseren elf Seniorenzentren, dass immer mehr pflegebedürftige Menschen Hilfe zur Pflege beantragen müssen, um die Kosten für die Pflege stemmen zu können“, so Spohd.
Ein Drittel der Bewohner braucht Hilfe zur Pflege
Die Caritas München und Oberbayern betreibt 27 Pflegeheime mit 3000 Plätzen. „Ein Drittel der Bewohner braucht für den Eigenanteil an den Heimkosten Hilfe zur Pflege“, informiert Doris Schneider, Geschäftsführerin für den Bereich Altenheime. Auch die Sozialservice-Gesellschaft des BRK GmbH, die 26 Senioreneinrichtungen in Bayern und davon elf in Oberbayern betreibt, beobachtet diese Entwicklung mit Sorge: „In unseren Einrichtungen steigt der Anteil von Pflegebedürftigen, die Sozialhilfe empfangen“, informiert BRK-Pressesprecher Sohrab Taheri-Sohi. „Im vergangenen Jahr waren 27 Prozent der Bewohner Sozialhilfeempfänger. Für 2023 liegen uns noch keine neuen Daten vor, wir gehen jedoch von einer Zunahme und weiter steigenden Zahlen für 2024 aus.“
19.000 Pflegebedürftige in Oberbayern brauchen Hilfe zur Pflege
Nach Informationen des Bayerischen Landesamtes für Statistik stieg der Bedarf an Hilfe zur Pflege in einem Jahr um 8,4 Prozent: Wurden 2020 noch 625,9 Millionen Euro für Leistungen für Hilfe zur Pflege gezahlt, waren es im Jahr 2021 bereits 678,4 Millionen Euro. In diesem Jahr unterstützt allein der Bezirk Oberbayern mehr als 19.000 Menschen in der ambulanten und stationären Hilfe zur Pflege mit 326,6 Millionen Euro.
Außergewöhnliche Erhöhung der Eigenanteile
Die Caritas und die Arbeiterwohlfahrt Oberbayern erwarten Anfang 2024 eine außergewöhnliche Erhöhung der Eigenanteile in ihren Senioreneinrichtungen. „Eine entscheidende Rolle spielen die allgemeine Preisentwicklung, die gestiegenen Personalkosten und die aktuelle Personalsituation in den Pflegeeinrichtungen “, betont Linda Quadflieg-Kraft, Leiterin der Unternehmenskommunikation der AWO Oberbayern. „So haben sich zum Beispiel unsere Kosten rund um die Verpflegung teilweise um mehr als 20 Prozent erhöht. Auch die Preise vieler unserer Dienstleister sind in die Höhe geschnellt.“ Dass Dienstleister immer teurer werden, bestätigt auch Doris Schneider von der Caritas: „Aufgrund des Personalmangels müssen wir Zeitarbeitsfirmen einsetzen, die sehr teuer geworden sind, zum Grundpreis auch noch Mehrwertsteuer kosten und satte Gewinne einfahren.“
Weitere Preistreiber sind nach Informationen des BRK auch die Nachwirkungen der Corona-Lockdowns, als die Pflegebetten nicht voll belegt werden konnten. „Perspektivisch wird die Umsetzung der neuen Personalbemessung in der Pflege die Heimkosten weiter erhöhen“, so Taheri-Sohi.
VDEK vergleicht Eigenanteile im Bundesgebiet
Nach Informationen des Verbandes der Ersatzkassen (VDEK) lag der Bundesdurchschnitt der Eigenanteile am Heimplatz im Juli 2023 bei 2610 Euro. Ein Jahr zuvor lag er noch bei 2248 Euro, was einer Steigerung um 362 Euro entspricht. Die Pflegesätze in Bayern sind nach VDEK-Informationen unter dem Bundesdurchschnitt. Hier stiegen die Eigenanteile von 2238 Euro um 277 auf 2515 Euro. Spitzenreiter ist das Land Baden-Württemberg mit einem aktuellen Eigenanteil von 2990 Euro. Den geringsten Eigenanteil zahlen laut VDEK Bewohner von Pflegeheimen in Sachsen-Anhalt mit 2047 Euro.
Zunehmend schwierigere Rahmenbedingungen
Vor den gleichen Herausforderungen steht die Diakonie: „Als Pflegeträger agieren wir unter zunehmend schwierigeren Rahmenbedingungen“, so Dirk Spohd. Im Zuge der allgemeinen Inflation seien die Kosten gestiegen – etwa für Lebensmittel, Wartungskosten und Verbrauchsgüter. „Wir haben zudem enorme Kostensteigerungen für Strom und Energie erlebt. Bezüglich der Energiekosten sehen wir zwar gerade, dass sich der Markt wieder erholt hat. Allerdings befürchten wir, dass sich das Blatt schnell wieder drehen kann, sollten die Energiebeihilfen und die Preisdeckelungen in Kürze fallen.“
Antragsflut kaum zu bewältigen
Die Finanzlage der Träger von Pflegeeinrichtungen – egal ob Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, Privatunternehmen oder Vereine – ist angespannt. Die Kosten für ein Drittel der Bewohner werden von der Sozialhilfe übernommen, doch der Bezirk Oberbayern kommt mit der Bearbeitung der Sozialhilfeanträge nicht mehr nach. Im laufenden Jahr wurden beim Bezirk 5.583 zusätzliche Anträge für stationäre Hilfe zur Pflege eingereicht – das entspricht einem Plus von 15,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. „Wir sind bestrebt, über Erstanträge hilfesuchender Menschen möglichst zeitnah zu entscheiden“, betont Constanze Mauermayer vom Bezirk Oberbayern. Doch der Verwaltungsaufwand sei enorm: „Die Sozialhilfe springt erst ein, wenn sich Menschen nicht mehr selbst helfen können. Deshalb muss der Bezirk Oberbayern als Träger der Hilfe zur Pflege vor einer Kostenübernahme prüfen, ob hilfesuchende Personen ihren Bedarf aus eigenem Einkommen oder Vermögen selbst decken können.“
Sozialhilfeträger haben hohe Außenstände bei den Trägern
Die Folge: „Die Bearbeitungszeiten haben sich in den vergangenen Monaten verlängert. Aktuell haben die Sozialhilfeträger bei uns Außenstände von knapp 500.000 Euro“, informiert der Geschäftsführer der diakonischen Hilfe im Alter gGmbH. „Zum Vergleich: Vor einem halben Jahr waren es noch rund 255.000 Euro.“ Wie alle Träger geht auch die Diakonie in Vorleistung, denn: „Wir können und wollen die pflegebedürftigen Menschen nicht allein lassen.“
Auch das BRK stoße zunehmend auf finanzielle und strukturelle Herausforderungen. „Ein Problem ist der Prozess der Sozialhilfebewilligung für Heimbewohner, der häufig sechs bis acht Monate dauert“, erklärt Sohrab Taheri-Sohi. „Während dieser Zeit tragen wir als Trägerorganisation die Kosten, bis eine positive Entscheidung des Bezirks vorliegt.“ Diese Situation stelle eine erhebliche Liquiditätsbelastung dar. Als Gesamt-Körperschaft sei das BRK zwar in der Lage, Verzögerungen in der Bewilligung und Auszahlung kompensieren zu können. Dennoch erreiche es die Grenzen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit.
Könnte Frühwarnsystem finanzielle Verluste minimieren?
„Wir nehmen pflegebedürftige Menschen in ihrer Notlage auf und stellen für sie die Anträge auf Sozialhilfe. Leider werden diese nicht selten abgelehnt, was uns vor die Herausforderung stellt, auf oft bereits seit Monaten anfallenden Kosten sitzen zu bleiben“, betont Sohrab Taheri-Sohi. Das BRK verhandle derzeit mit den Bezirken, um hier Besserungen zu erreichen. „Ein Frühwarnsystem, das uns vorzeitig über potenzielle Ablehnungen informiert, könnte dabei helfen, rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, um finanzielle Verluste zu minimieren.“
Der Bezirk Oberbayern hat auch beim BRK Außenstände. „Diese sind jedoch schwer zu beziffern“, so Taheri-Sohi. „Dies liegt an der neuen Berechnungslogik der Pflegesätze. Dadurch sind seit Juli einige unserer Pflegesatzerhöhungsanträge noch nicht beschieden und konnten damit auch mit dem Bezirk noch nicht final rückgerechnet werden. Ebenso sind noch einige Anträge auf Sozialhilfe zur Bescheidung durch den Bezirk ausstehend.“
Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) spricht für seine Mitglieder in Oberbayern von drei Millionen Euro Außenständen. Bpa-Landesvorsitzender Kai A. Kasri fordert, dass die Bezirksverwaltung im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten während der Bearbeitung zumindest Abschlagszahlungen leisten müsse. „Mein Vorschlag ist die Einführung einer festen, verbindlichen Frist für die Bearbeitung der Sozialhilfeanträgen, die nicht länger als zwei Monate sein darf“, sagt Dirk Spohd von der Diakonie.
Pflegesatzverhandlungen sind ins Stocken gekommen
Auch der Bezirksverband Oberbayern der Arbeiterwohlfahrt wartet auf Zahlungen der Kostenträger. Er betreibt 21 Seniorenzentren, eines davon in Feldkirchen-Westerham: „Um unsere Kosten für die stationäre Betreuung und alle anderen Angebote nachhaltig zu refinanzieren, ist es wichtig, dass die entstehenden Personal- und Sachkosten in den Entgelten berücksichtigt und die Entgelte zeitnah mit den Kostenträgern verhandelt werden“, erklärt Linda Quadflieg-Kraft. „Doch momentan stocken die Verhandlungen und damit auch die Umsetzungen der Entgelte in einem zeitlichen Ausmaß, das wir so bislang nicht kannten.“
Das größte Problem der Pflege ist neben dem Personalnotstand eine zukunftssichere Finanzierung: „Anders als etwa im Krankenhaus, wo Kosten von solidarisch finanzierten Krankenkassen aufgefangen werden, übernimmt die Pflegekasse nur einen Teil der tatsächlichen Kosten“, erläutert Spohd und kritisiert: „In diesem System, das nur von der Politik reformiert werden kann, zahlen die Pflegekassen lediglich einen festen Sockelbetrag, die restlichen Kosten müssen durch die Versicherten aufgebracht werden.“
Verbände fordern Reform der Pflege
Die Politik selbst habe bewusst gefordert, dass die Pflege besser bezahlt werde und bauliche Standards angehoben. „Das alles ist richtig und wichtig“, betont Spohd, doch es habe eben auch zu einem enormen Preisanstieg geführt. Da es Politik, Bezirke und Pflegekassen aber versäumt hätten, ihrer gemeinsamen Verantwortung gerecht zu werden und ihre Zuzahlungen zu erhöhen, müssten die steigenden Kosten von den pflegebedürftigen Menschen aufgebracht werden. „Aus meiner Sicht droht die Altersarmut damit noch weiter zuzunehmen“, befürchtet er und fordert: „Gute Pflege darf keine Armutsfalle sein. Darum setzen wir uns als Träger aktiv für eine Reform der Pflegeversicherung ein. Diese muss unbedingt solidarisch finanziert werden. Wir fordern daher unter anderem einen Sockel-Spitze-Tausch, der die Heimkosten für die pflegebedürftigen Menschen begrenzen würde.“
Was bedeutet „Sockel-Spitze-Tausch“?
Damit gute Pflege wieder bezahlbar werden kann, soll das aktuelle Pflegesystem auf den Kopf gestellt werden – mit einem so genannten Sockel-Spitze-Tausch. Der Vorschlag: Bisher bezahlt die Pflegekasse den festen Sockel und die nach oben offene Spitze zahlen die Kunden als Eigenanteil. Damit treibt also jede Verbesserung die Kosten der Kunden in die Höhe. Mit dem Sockel-Spitze-Tausch wird das System umgedreht: Die Kunden bezahlen den festen Sockel und alle weiteren Kosten bezahlt die Pflegekasse. Genau erklärt wird das System mit seinen einzelnen Komponenten auf der Homepage der 2016 gegründeten Initiative Pro-Pflegereform.
„Leider fehlt es derzeit an politischen Lösungen, um eine zukunftssichere Pflege zu garantieren, es fehlt ein ganzheitliches Konzept“, stellt auch Linda Quadflieg-Kraft klar: „Die schon seit Jahren von der Arbeiterwohlfahrt geforderte Begrenzung der Eigenanteile – der sogenannter Sockel-Spitze-Tausch – ist in der aktuellen politischen Diskussion leider kaum mehr ein Thema.“ Nichtsdestotrotz engagiere sich der AWO-Bezirksverband Oberbayern auch weiterhin für bessere Rahmenbedingungen in der Pflege, die nicht zulasten der Pflegebedürftigen gehen.
Auch das BRK setzt sich dafür ein, die Eigenanteile der Pflegebedürftigen durch eine grundlegende Reform zu deckeln. „Ein Modell könnte der Sockel-Spitze-Tausch sein, bei dem die Heimbewohner einen fixen Betrag für den pflegebedingten Aufwand zahlen, während die Pflegekasse die darüberhinausgehenden Kosten übernimmt“, so Taheri-Sohi.
Ambulante und stationäre Pflege wird unbezahlbar
Auch der Sozialverband VdK fordert eine Reform der Pflege. „Wir müssen die Pflege neu denken. Das jetzige System hat keine Zukunft“, sagte Yvonne Knobloch, Ressortleiterin Leben im Alter beim Sozialverband VdK, gegenüber dem Münchner Merkur. Pflege werde unbezahlbar. Schon jetzt erreichten den VdK viele Hilferufe. Und das betreffe nicht nur die Pflege in Heimen, sondern auch ambulante Pflegedienste. Sie fürchtet, dass viele Betroffene künftig genau überlegen, welche Pflegeleistungen sie noch in Anspruch nehmen können. „Der Druck auf die Angehörigen wird dadurch noch größer“, prognostiziert Knobloch.
Mehr Unterstützung für pflegende Angehörige
„Die Pflegeleistungen müssen dauerhaft jährlich automatisch angepasst werden“, fordert Dietrich Mehl, Geschäftsführer des VdK-Kreisverbandes Rosenheim. Dem Pflegenotstand und den steigenden Preisen in der Pflege zu begegnen, sei eine Herausforderung, der sich die Politik endlich stellen müsse. „Bis 2030 werden in Deutschland 400.000 Fachkräfte in der Pflege fehlen. Dafür gibt es noch keine Lösung“, kritisiert er. Der Beruf müsse von der Ausbildung über die Bezahlung bis hin zu Arbeitszeitmodellen attraktiver gemacht werden.
Mehl lenkt den Blick aber auch auf die pflegenden Angehörigen: „80 Prozent der pflegbedürftigen Menschen werden zu Hause betreut. Da muss die Politik deutlich nachbessern, sei es bei der Erhöhung von Pflegegeld und -sachleistungen, beim Ausbau der ambulanten Angebote oder sei es bei mehr Zuschüssen für die barrierefreie Umgestaltung der Wohnungen. Die Leistungen müssen bedarfsorientiert bei den Menschen ankommen.“
Wenn Senioren in ihrem Zuhause alt werden dürften, könne das auch den Pflegenotstand lindern. „Wenn die Kinder zu Hause bleiben, um ihre Eltern zu pflegen, werden von den Pflegekassen neben dem eher bescheidenen Pflegegeld zwar auch Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt. Diese müssen jedoch erhöht werden, um den Angehörigen eine auskömmliche Rente zu ermöglichen. Ansonsten werden sie später oftmals selbst zum Sozialfall.“ Mehl fordert: „Die Politik muss konkrete Angebote machen, wie sie die Pflege mit Steuermitteln unterstützen will, damit sie erschwinglich und menschlich bleibt.“
Pflege muss völlig neu gedacht werden
„Pflege kann nicht ausschließlich als Aufgabe ausgebildeter Fachkräfte gesehen werden“, verdeutlicht Taheri-Sohi die Bemühungen des BRK um eine nachhaltige und zukunftsfähige Pflegelandschaft: „Die Einbindung von Ehrenamtlern, Freunden und Nachbarn in die Pflege, unterstützt durch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen, sowie der Ausbau von Verhinderungs-, Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflege sind essentiell, um den steigenden Anforderungen gerecht zu werden.“