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Experten aus der Branche reden Klartext

Pleitewelle in der Pflege: Sind Bürokratie und Behörden schuld?

Collage aus verschiedenen Motiven zum Pflegenotstand mit Krankenhausbett, Seniorenbetreuung und Aktenbergen sowie dem Proträtfoto von Thomas und Sabine Mühlnikel.
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Pflegenotstand in der Region: Heime melden Insolvenz an. Pflegeplätze gehen verloren. Den Kliniken fällt es immer schwerer, für Patienten eine Nachsorge zu finden.

„Wenn es so weitergeht, ist irgendwann jeder insolvent“, sagt Thomas Mühlnikel. Das sind die Gründe für den Pflegenotstand in der Region.

Brannenburg / Gstad / Rosenheim – „Wir haben jeden Tag verzweifelte Angehörige am Telefon, die einen Platz für ihre pflegebedürftigen Eltern suchen“, beschreibt Thomas Mühlnikel den Pflegenotstand in der Region. Als geschäftsführende Gesellschafter, Heimleiter und Verwaltungsleiter der Pflegeheim Rosenholz GmbH führen er und seine Frau Sabine vier Seniorenheime in Rosenheim, Brannenburg, Gstadt-Gollenshausen und Weilheim. „Wir haben uns vor 23 Jahren bewusst dazu entschieden, weil wir betagten Menschen einen würdigen letzten Lebensabschnitt schenken möchten“, erklärt Mühlnikel. „Doch so groß wie heute war die Not noch nie.“

Keiner darf aus finanziellen Gründen abgelehnt werden

Auch Familie Mühlnikel muss neun von zehn Anfragen nach einem Heimplatz negativ beantworten. Weil Plätze und Arbeitskräfte fehlen. „Doch so etwas wie in Kolbermoor geht gar nicht“, reagieren die Pflegeexperten auf den Fall des 86-jährigen Rosenheimers, dem die Aufnahme ins Heim verwehrt wurde, weil sein Vermögen nur für fünf Monate als „Selbstzahler“ gereicht hätte und für die Zeit danach noch kein positiver Bescheid des Sozialhilfeträgers vorlag. „Diese Entscheidung ist rechtswidrig“, erklärt Mühlnikel. „Pflegeheime sind nach Versorgungsvertrag dazu verpflichtet, jeden Bewohner aufzunehmen. Das ist gesetzlich im Landesrahmenvertrag nach Paragraph 75 SGB XI geregelt.“

Pleitewelle in der Pflegebranche

Der Geschäftsführer kennt die Pflegebranche seit 23 Jahren und beobachtet ihre dramatische Entwicklung in den vergangenen Jahren mit Sorge. Eine riesige Pleitewelle rollt durch Deutschland: Große Betreiber wie Convivo, Curata, die Hansa-Gruppe oder Dorea rutschen genauso in die Insolvenz wie kleine, beispielsweise We:care in Brannenburg, das Katharinenheim in Bad Endorf oder das „Haus Renate“ in Riedering. Nach der „Care-Report-Umfrage“ der Unternehmensberatung Roland Berger schreiben am Jahresende 37 Prozent der Heime rote Zahlen. 85 Prozent der Befragten rechnen mit einer weiteren Verschlechterung ihrer finanziellen Lage. „Wenn es so weitergeht, ist irgendwann praktisch jeder insolvent“, blickt Mühlnikel voraus. Auch die Pflegeheim Rosenholz GmbH muss den Eigenanteil von derzeit durchschnittlich 2700 Euro ab Februar um etwa 600 Euro erhöhen, um überleben zu können, denn: „Wenn wir das Budget nicht genehmigt bekommen, können wir bald schließen.“

Sozialhilfeträger haben 100.000 Euro Schulden bei Rosenholz

Für Mühlnikel führt vor allem ein Problem zur finanziellen Schieflage in der Pflege: „Unsere staatlichen Behörden sind einfach unfähig, Leistung zu zeigen. Sie müssen sich endlich besser organisieren.“ Das fange bei der Bearbeitung der Sozialhilfeanträge in den Bezirksverwaltungen an. „Diese dauert vier bis sechs Monate, in denen die Träger alle Kosten vorfinanzieren müssen“, beschreibt Mühlnikel. In den vier Einrichtungen der Pflegeheim Rosenholz GmbH stehen etwa 100.000 Euro aus.

Noch kann das Unternehmen die Fehleinnahmen abfedern und die Löhne seiner Mitarbeiter zahlen. Doch auch nur, weil es keine Verbindlichkeiten gegenüber Investoren hat und weil es spart: nicht in der Pflege, dafür aber in der Verwaltung. „Meine Frau und ich sind in Personalunion Geschäftsführer, in vier Heimen Verwaltungskraft und in drei Heimen auch Einrichtungsleiter“, erklärt Mühlnikel.

„Amtsschimmel“ ist permanent überlastet

Gleichzeitig müsse er sich immer wieder das Wehklagen überarbeiteter Mitarbeiter der Bezirksverwaltung anhören. „Wenn eine Sachbearbeiterin 130 Anträge auf Hilfe zur Pflege bearbeiten muss und jeden Tag neue auf den Stapel draufkommen, fehlt entweder Personal oder die Arbeit ist falsch organisiert.“

Hinzu komme, dass die Bezirke in einem „viel zu umständlichen Verfahren“ die eingereichten Unterlagen prüften. Mühlnikel weiß, wie schnell man sich einen Überblick verschaffen kann: „Wir nehmen unseren Senioren die Antragstellung ab. In 30 Minuten haben wir die Umstände der Pflegebedürftigen erfasst und wissen, welche Unterlagen fehlen. Wenige Tage später geben die Angehörigen diese ab. Doch der Bezirk braucht etliche Monate, um diese zu prüfen.“

Jeder Dritte braucht finanzielle Hilfe

Durchschnittlich ein Drittel der Heimbewohner ist in Oberbayern auf Hilfe zur Pflege angewiesen. „Nachdem die Heime jeden Tag Dutzende von Heimplatzanfragen bekommen, werden mittlerweile gezielt die Menschen nicht mehr aufgenommen, die Sozialhilfebedarf haben“, kennt Mühlnikel den Tenor seiner Branche. „Doch so makaber es auch klingen mag. Es sind die Selbstzahler, die Pflegeheime vor der Insolvenz retten.“

Fachkraftquote ist nicht mehr zeitgemäß

Ein weiteres Problem sieht der Pflegeexperte in der Fachkraftquote. „Sie wurde in den 90er-Jahren willkürlich festgelegt, ist aber nicht mehr zeitgemäß, denn es gibt nicht genügend Fachkräfte.“ Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit kommen auf 100 gemeldete Stellen für Fachkräfte in der Pflege lediglich 33 Arbeitslose. Eine Besserung ist also nicht in Sicht.

„Doch schon jetzt führt die Fachkraftquote zu einer Pflege-Triage, nur dass dabei eben nicht zuerst die Menschen gesehen wird, die am dringendsten Pflege brauchen“, erläutert Mühlnikel. Im Gegenteil: „Viele Heime nehmen Schwerstpflegebedürftige gar nicht mehr auf. Die Sozialdienste der Krankenhäuser telefonieren hunderte Kliniken ab, um diese Menschen unterzubringen. Ohne Erfolg.“ Auch die Pflegeheim Rosenholz GmbH erhalte Anfragen aus Kliniken in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein.

Wie sich Versorgungslücke in der Pflege auf die Kliniken auswirkt

Kliniken sind gesetzlich dazu verpflichtet, noch während des stationären Aufenthalts von Patienten deren Nachversorgung einzuleiten (Entlass-Management). Die dabei entstehenden Kosten werden von den Krankenkassen nicht getragen und wirken sich entsprechend negativ auf die wirtschaftliche Situation der Kliniken aus.

„Grundsätzlich ist das gesetzlich vorgegebene Entlass-Management eine gute Sache. Wenn aber keine freien Kapazitäten bei den nachsorgenden Einrichtungen mehr vorhanden sind, dann gibt es eine Versorgungslücke“, erläutert Astrid Schenck, Leiterin des Sozial- und Entlassmanagements der RoMed Kliniken. So könne eine Kurzzeitpflege derzeit so gut wie gar nicht mehr organisiert werden, weil in den Pflegeeinrichtungen keine Kapazitäten angeboten werden. „Diese Sparte ist nahezu komplett zum Erliegen gekommen. Auch Erstaufnahmen in Pflegeheimen lassen sich nur mehr schwer realisieren.“

Pro Monat gebe es allein beim Sozialdienst im RoMed Klinikum Rosenheim etwa 250 Anforderungen im Rahmen des Entlass-Managements. „In diesen Fällen benötigen Patienten nach dem Krankenhausaufenthalt ambulante oder stationäre Unterstützung in der Pflege“, informiert Schenck. „Um für einen Patienten eine geordnete Entlassung organisieren zu können, sind etwa 40 Telefonate mittlerweile die Regel.“ Dadurch, dass es immer schwieriger werde, für die Patienten einen ambulanten Pflegedienst, einen Kurzzeitpflegeplatz oder einen Platz in einem Seniorenheim zu finden, „stapeln“ sich die neuen Anforderungen. „Der Druck bei den Kollegen im Sozialdienst ist deshalb enorm angestiegen.“

Gibt es noch eine Chancengleichheit in der Pflege?

„Jeder versucht, in diesem System irgendwie zurechtzukommen“, betont Mühlnikel den Teufelskreis. Die Folge: „Menschen mit dem geringsten Pflegebedarf haben die größte Chance, in einem Heim einen Platz zu bekommen. Sie werden bei der Pflege-Triage zuerst ausgewählt.“ Schaut man sich die Fachkraftquote an, wird rechnerisch schnell klar, warum: Eine Fachkraft darf 6,96 Bewohner mit Pflegegrad I (PG I), aber nur 3,66 Bewohner mit der PG II oder 2,66 mit PG III betreuen. Bei Pflegegrad IV liegt der Schlüssel bei 2,08, bei PG V bei 1,9. Mühlnikel: „Man kann mit einer Fachkraft also viel mehr Menschen mit geringem als mit hohem Pflegegrad versorgen.“

So weit müsse es aber nicht kommen, betont der Pflegeexperte. Aus 23 Jahren Erfahrung weiß er: „Wir würden ein Riesenproblem lösen, wenn wir die Fachkraftquote lockern. Eine Fachkraft auf Station reicht, wenn man motivierte, ungelernte Mitarbeiter hat.“ In diesem Bereich gebe es auch mehr Potenzial, denn in der Statistik der der Bundesagentur für Arbeit stehen 100 gemeldeten Stellen für Helfer 323 Arbeitslose gegenüber.

Ohne ausländische Helfer ist Pflege nicht mehr zu stemmen

Der Anteil von Pflegekräfte mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit ist deutschlandweit auf 14 Prozent gestiegen. Auch die Pflegeheim Rosenholz GmbH hat mit Kolleginnen aus Kroatien und Bosnien beste Erfahrungen gemacht hat. „Sie haben eine hervorragende Mentalität. Ohne sie könnten wir die Pflege gar nicht mehr stemmen.“

Doch auch hier sieht Mühlnikel eine riesige Kluft im System. Bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse gebe es viele Ungerechtigkeiten. „Wir verlieren Pflegekräfte, die wir dringend bräuchten, weil eine Pflegekraft das Deutsch-Zertifikat B2 vorlegen muss, um anerkannt zu werden“, kritisiert er. Zudem dauere es Monate, ehe unter einen Anerkennungsantrag endlich ein behördlicher Stempel gesetzt werde.

Nicht nur die Pflege funktioniert über Leistung

Sabine und Thomas Mühlnikel geben nicht auf. Sie haben sich vor 23 Jahren für die Pflege betagter Menschen entschieden und damit Verantwortung für 140 Bewohner im Landkreis Rosenheim übernommen. „Jeder, der im Heim ist, ist dort, weil es nicht anders geht“, wissen sie. Mit ihrem multikulturellen Team schenken sie diesen Menschen einen würdevollen Lebensabend: „Unbürokratisch, in einem familiären Klima, an 365 Tagen im Jahr.“ So könnte es ihrer Meinung nach überall funktionieren, wenn auch der Staat „endlich leistungsfähig werden würde“.

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