„Ungerechtigkeit“ und „äußerst seltsam“
Eltern gegen Landratsamt: Gibt es wirklich nur einen gefährlichen Schulweg in Wasserburg?
Wann kann Kindern zugemutet werden, zu Fuß zur Schule zu gehen? Welcher Weg ist sicher, wo lauern Gefahren? Darüber wird in Wasserburg derzeit viel diskutiert. Denn „gefährlich und beschwerlich“ ist laut Landratsamt nur eine Strecke. Kann das sein? Viele Eltern sehen das anders.
Wasserburg – 2 und 3: Das sind für zahlreiche Wasserburger Familien die Zahlen des Jahres. Haben ihre Kinder einen Schulweg, der länger als zwei Kilometer (Grundschule) oder als drei Kilometer (weiterführende Bildungseinrichtungen) ist, gibt es keinen gesetzlichen Anspruch auf kostenlose Schülerbeförderung im Bus. Das kann teuer werden in Zeiten der neuen MVV-Tarife: 365 Euro im Jahr. Bei zwei Kindern sind das schon über 700 Euro. Zuschüsse gibt es, so hat der Stadtrat beschlossen, nur für die Eltern von Grundschülern: 15 Euro im Monat.
Der Preisanstieg sorgt seit Ende vergangenen Jahres für viel Ärger. Zahlreiche Eltern meldeten sich in den Bürgerversammlungen sowie im Rathaus und forderten Korrekturen. Auf den MVV-Tarif, den der Landkreis eingeführt hat, kann die Stadt jedoch keinen Einfluss nehmen, wird Bürgermeister Michael Kölbl (SPD) nicht müde zu betonen. Doch die Kommune hat die Verkehrsbehörde beim Landratsamt Rosenheim gebeten, alle Schulwege zu den beiden Grund- und der Mittelschule, für die die Kommune als Sachaufwandsträger zuständig ist, auf zwei Punkte hin zu überprüfen: Gibt es darunter Strecken, die besonders gefährlich oder beschwerlich sind. Wenn dies der Fall ist, kann in solchen Ausnahmefällen die Beförderung mit dem Bus trotzdem finanziell übernommen werden.
Überraschung und Kopfschütteln
Mit Spannung erwarteten mehrere Familien bei der öffentlichen Sitzung des Hauptausschusses das Ergebnis. Nicht nur bei ihnen, auch bei den Mitgliedern des Gremiums war an der Mimik der Gesichter nach der Bekanntgabe abzulesen, wie groß die Überraschung ist. Kopfschütteln war eine der ersten Reaktionen. Denn das Landratsamt hat nach Angaben von Kölbl festgestellt, dass nur ein Weg als „besonders gefährlich und beschwerlich“ gelte: von der Burgau zur Schule Reitmehring. Hier gibt es eine Stelle, die an beiden Seiten „bewaldet“ ist. Eigentlich handelt es sich eher um Sträucher rechts und links des Weges, hieß es im Ausschuss. In der Nähe gibt es keine Häuser. Es ist also ein etwas entlegenes Stück Weg.
52 Schülerinnen und Schüler, die hier entlang gehen, erhalten nun eine kostenlose Bus-Jahreskarte der Stadt, alle übrigen Familien mit Schulwegen unter zwei, beziehungsweise drei Kilometern müssen die Fahrten selber bezahlen. Auf die Beurteilung der Schulwege durch die Verkehrsbehörde beim Landratsamt hat die Stadt, so der Rathauschef, keinen Einfluss. Sie sei auch nicht gehört oder beim Bewertungsprozess beteiligt worden. Die Kommune habe das Ergebnis sehr überrascht, auf eine schriftliche Reaktion der Verwaltung habe es noch keine Antwort der übergeordneten Verkehrsbehörde gegeben.
Appell: „dran bleiben“
Auch die Ausschussmitglieder waren baff. Werner Gartner (SPD) zeigte sich „sehr verärgert“, dass niemand aus der Stadt beteiligt worden sei. Denn hier sei die Ortskenntnis vorhanden. Armin Sinzinger (Wasserburger Block) sprach von einer Vorgehensweise, die „äußerst seltsam“ sei. „Bei jedem Schmarrn“ würden Betroffene befragt, in diesem Fall wäre es hilfreich gewesen, wenn die übergeordnete Behörde die Eltern oder sogar die Kinder um Einschätzungen gebeten hätte. Heike Maas, Fraktionsvorsitzende von CSU/Wasserburger Block, forderte eine erneute Begehung mit Stadtvertretern und „noch einmal auf das Landratsamt zuzugehen“. Edith Stürmlinger (Bürgerforum) appellierte ebenfalls, „dranzubleiben am Thema“. „Da darf das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.“
Die Vertreter der Elternbeiräte der beiden Grundschulen wollen sich mit dem Ergebnis der Beurteilung durch das Landratsamt ebenfalls nicht zufriedengeben. Gerne hätten sie bereits in öffentlicher Sitzung Stellung genommen, das ist laut Geschäftsordnung jedoch nicht erlaubt, bedauerte Sitzungsleiter Kölbl. Am Dienstag, 23. Januar, hat jedoch der Elternbeirat der Wasserburger Grundschule Am Gries einen Termin beim Bürgermeister, hieran könnten weitere Elternvertreter teilnehmen, versprach Kölbl.
Familien klagen über „Ungerechtigkeiten“
Den Familien geht es nach Angaben von Simone Schrems, Angelika Oettl, Christine Nerbl, Katharina Richter, Simone Hiebl, Daniela Bauer, Rosmarie Hübner und Pia Muckenthaler, die von der Leiterin der Grundschule Am Gries, Sabine Obermaier-Tanner begleitet wurden, um zwei Themen: die in ihren Augen vorherrschende Ungerechtigkeit bei den finanziellen Belastungen der Schülerbeförderung, will heißen: Wer weiter als zwei oder drei Kilometer von der Schule entfernt wohnt, zahlt in der Regel für den Bus, alle anderen nicht. Und darum, dass es ihrer Erfahrung nach nicht nur einen, sondern mehrere gefährliche Schulwege in der Stadt gibt, beziehungsweise mehrere neuralgische Stellen.
Daniela Bauer, Rosmarie Hübner und Pia Muckenthaler wiesen im Gespräch mit der Redaktion im Anschluss an die Sitzung unter anderem darauf hin, dass es kleineren Kindern nicht immer zumutbar sei, zu Fuß zur Schule zu gehen, auch wenn der Weg unter drei Kilometer lang sei. Ein 45 Kilogramm schweres Kind trage mit dem Ranzen, der in der Regel etwa 15 Kilo wiege, ein Drittel des Körpergewichts auf dem Rücken und müsse sich beispielsweise so wie jetzt im Winter bei eisiger Kälte den Köbinger Berg rauf und runter quälen. „Kein Erwachsener würde täglich bei Wind und Wetter bis zu drei Kilometer zu Fuß zur Arbeit gehen“, sind sie überzeugt. Sie finden es ungerecht, dass einige Familien die Busfahrt aus eigener Tasche zahlen müssen. Das Argument, die MVV-Karten würden es Kindern auch ermöglichen, weite Strecken, etwa bis in den Münchener Raum, kostengünstig zurückzulegen, gilt für die Eltern nicht. „Kinder in dem Alter fahren nicht zum Shoppen nach München oder unternehmen mit Bus und Bahn einen Ausflug zum Starnberger See, das ist doch wirklich unrealistisch und kein schlüssiges Argument.“
Elternumfrage an der Grundschule Am Gries
An der Grundschule Am Gries hat eine Elternumfrage außerdem aufgezeigt, dass es mehrere Stellen auf Schulwegen gibt, die als gefährlich eingestuft werden. Über das Elternportal hatten hier 64 Prozent der Erziehungsberechtigten Rückmeldungen gegeben. Die Mütter, die an der Sitzung teilnahmen, nannten als Beispiele für unsichere Stellen unter anderem den Köbinger Berg, wo es am Übergang zur Altstadt Engstellen gebe, fehlende Gehwege im Bereich am Gerblanger, die Stelle im Bereich Rosenheimer Straße/Ecke Salzburger Straße, wo der Radweg innen liegt und die Fußgänger direkt neben dem Straßenraum gehen müssen. Als gefährlich gilt bei Reitmehringern auch eine Einmündung an der B 304 und der Schulweg entlang der Werksein- und ausfahrt von Meggle. In Rektorin Sabine Obermaier-Tanner findet es deshalb wichtig, dass auch bei den „Knackpunkten“ in der Stadt, wo die Sicherheit der Schulkinder gefährdet sein könnte, nachgebessert wird. Das sieht auch der Hauptausschuss so. Steffi König von den Grünen appellierte beispielsweise dafür, sich die Gefahrenstellen anzuschauen und Verbesserungen zu erreichen.
Grundsätzlich begrüßt Andreas Hiebl, zuständig bei der Stadt für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), argumentativ unterstützt von Kämmerer Konrad Doser, jedoch trotz Anerkennung der Sicherheitsbedenken aus Reihen der Elternschaft, die Tatsache, dass das Landratsamt „nur“ einen gefährlichen Schulweg festgestellt habe. „Darüber können wir eigentlich froh sein.“ Außerdem sollten Kinder, wenn möglich, zu Fuß gehen und nicht Bus fahren oder mit dem Elterntaxi kutschiert werden. Allen eine Buskarte zu bezahlen, sei deshalb ein falscher Ansatz, meint Hiebl.