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Sorge vor Höcke

Warum vor der Thüringen-Wahl ein Riss durch die Gesellschaft geht – und wie er überwunden werden kann

Viele Thüringer sind verbittert wie nie, andere glauben an das Potenzial des Bundeslands und warnen vor Björn Höcke. Ein Bundeswehr-Offizier bringt beide Lager an einen Tisch.

Erfurt – Auf dem Marktplatz fließt alles zusammen. Wer sich dorthin stellt, wo die Menschen ihr Gemüse kaufen oder auf der Bank in der Sonne sitzen, der bekommt innerhalb von Minuten präsentiert, was die Gesellschaft bewegt. Und die ist in Thüringen kurz vor der Wahl so tief gespalten, wie wohl noch nie zuvor.

Thüringen-Wahl zeigt Spaltung im Land: „Höcke hat doch recht“

Zum Beispiel in Greiz, wo Elisabeth Kranhold und Anne Veit einen kleinen Stand aufgebaut haben. „Röcke gegen Höcke“ steht auf einem Plakat, an einer Wäscheleine hängen auf Zettel ausgedruckte Zitate von Thüringens AfD-Chef Björn Höcke. Zum Beispiel das mit dem „Denkmal der Schande“. Man wolle aufklären, sagt Anne Veit: „Viele wissen ja gar nicht, was wirklich im AfD-Wahlprogramm steht.“

„Röcke gegen Höcke“ auf dem Marktplatz in Greiz.

Es dauert nicht lange, da tritt ein Mann an den Stand, Anfang 50, Schnauzbart. „Höcke hat doch recht“, sagt er. Und die Bundesregierung, das seien doch alles Kriegstreiber. Aber Putin sei doch der Aggressor, sagt Anne Veit. „Sollen die Russen doch kommen, hängen wir die Flagge wieder auf“, schimpft der Mann. „Kennen wir von früher, war alles besser als heute.“ Ein Mann mit weißem Haar und Spazierstock mischt sich ein. Er habe die letzten Kriegsjahre miterlebt und die Zeit danach bis zur Wende. „Das ist doch Quatsch. Früher war hier alles grau, nix war besser“, sagt er. Kein Konsens an diesem Vormittag.

Gebete für Frieden in der Ukraine auf der einen Seite, Russland-Flaggen auf der anderen

Genau wie in Meiningen im Süden des Bundeslandes an der Grenze zu Bayern. Auf dem Platz an der Stadtkirche nahm einst die friedliche Revolution in Thüringen ihren Anfang. Nun prallen dort vor der Landtagswahl jeden Montag zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite halten Geflüchtete aus der Ukraine gemeinsam mit ihren Thüringer Nachbarn eine Mahnwache ab, beten für Frieden. Auf der anderen Seite stehen Menschen mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen und Russland-Fahnen. „Jagt die Grünen aus dem Land“, skandieren sie. Über ihre Ziele sprechen wollen sie nicht, schreien stattdessen „Lügenpresse“.

Das Feindbild ist eindeutig: Demonstranten mit Russland-Flaggen skandieren in Meiningen in Thüringen: „Jagt die Grünen aus dem Land“.

In Meiningen lebt auch Markus Koschlik. Jahrelang war er unterwegs – als Bundeswehroffizier in Afghanistan und als Ingenieur in München, Heidelberg und Stuttgart. Vor kurzem ist er wieder in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. Und war schockiert. „Einiges erinnert mich wieder an die frühen 90er“, sagt der 41-Jährige. Damals sei es Alltag gewesen, dass sich Neonazis verabredet hätten, um mit Quarzhandschuhen Linke zu verprügeln. Erst vor ein paar Wochen haben Rechtsextreme den Linken-Kandidaten Leon Walter in Greiz angegriffen und Parolen gebrüllt: „Leon, wir kriegen dich.“

Angriff vor Thüringen-Wahl auf Linken-Kandidaten, der gegen Björn Höcke antritt

Walter tritt in seinem Wahlkreis direkt gegen AfD-Chef Björn Höcke an. Höcke sei es, der die Gesellschaft zutiefst spalte, sagt Koschlik: „Er will ein Feindbild schaffen. Und seine völkische Denkweise wird Stück für Stück normalisiert. Ich habe Angst, dass sich das irgendwann immer öfter in Gewalt entlädt.“

Er wolle etwas tun für seine Heimat, in der er mit seiner Familie lebt. Das empfinde er als Pflicht. Seit Monaten versucht er, die zerstrittenen Lager an einen Tisch zu bringen und mit Sachargumenten zu überzeugen. Mal bei direkten Gesprächen in Meiningen, mal online über Netzwerke wie Linkedin. Koschlik glaubt: Wenn man mit potenziellen AfD-Wählern direkt ins Gespräch kommen kann und Lösungsansätze mit ihnen diskutiert, dann kann man vor der Thüringen-Wahl vielleicht etwas ändern.

Markus Koschlik aus Meiningen: Der Ingenieur will sachliche Gespräche über die Probleme in Thüringen führen.

Es geht um Themen, mit denen er sich als Bauingenieur auskennt. Was kann man gegen den Leerstand in den Dörfern tun? Wann werden endlich mehr Bushaltestellen gebaut? Das seien reale Probleme, sagt Koschlik. „Viele fühlen sich abgehängt und als Verlierer gegenüber dem Westen.“ Das hänge auch damit zusammen, dass West und Ost nach der Wende andere Startmöglichkeiten hatten. Gerade in ländlichen Räumen könne man das sehen. „Wenn jemand dort ein Haus erbt, ist das nicht viel wert. Wer in München ein Grundstück erbt, muss nie mehr arbeiten. Da fühlen sich viele als Menschen zweiter Klasse.“

Potenziale sehen statt zu meckern: „Eigenverantwortlichkeit ist bei manchen unterrepräsentiert“

Er sehe bei vielen Thüringern eine Bitterkeit, die in den Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung gewachsen sei. Ein Aspekt, der in Gesprächen mit vielen Thüringerinnen und Thüringern immer wieder auftaucht, ist das Thema Migration. Auch im Wahlkampf schießen sich die Parteien darauf ein, vor allem die AfD, die kaum ein anderes Thema hat. Das ist insofern bemerkenswert, als Thüringen eine ziemlich geringe Ausländerquote im Vergleich zu anderen Bundesländern hat. Woher kommen die Vorbehalte? Koschlik hat eine Theorie: „Ich glaube, eine gewisse Grundangst vor Fremdem steckt in jedem Menschen. Geht man rational mit Angst um, können Ursachen leichter verstanden, die Intensität des Gefühls reduziert und sinnvolle Lösungen gefunden werden.“

Bei einigen Menschen sei die Rationalität aber einer starken Emotionalität gewichen. „Das resultiert meines Erachtens aus den Erfahrungen und Enttäuschungen der ‚Wende‘“. Arbeitsplatz-, Einkommens- oder Wohlstandsverluste waren und sind für viele Realität – die versprochenen „blühenden Landschaften“ sind vielerorts ausgeblieben.“ Jetzt schleicht sich ein Gefühl ein: „Bei ‚Fremden‘ hingegen unterstützt der Staat scheinbar bedingungslos, egal ob es sich um den griechischen Finanzmarkt oder Flüchtlinge aus Syrien oder der Ukraine handelt.“

Da setze ein emotionaler, irrationaler Bewertungsprozess ein und die eigenen Enttäuschungen würden auf die „Fremden“ projiziert, glaubt Koschlik: „Ein perfekter Nährboden für Ausländerfeindlichkeit.“ Der Wendeprozess sei bis heute noch nicht abgeschlossen. „Fehler in der Umsetzung und ihre bis heute wirkenden Folgen wurden auch nicht ehrlich und auf Augenhöhe aufgearbeitet“, findet Markus Koschlik.

„Andererseits sehen die Straßen hier oft besser aus als im Westen und die Städte sind wunderbar restauriert worden“, sagt Koschlik. Es ärgere ihn, dass manche sich in ihrer Opferrolle einigeln würden, statt die Potenziale zu sehen. „Diesen Mecker-Ossi, den gibt es ja tatsächlich. Einige Leute meckern immer über alles.“ Oft suchen Menschen dann die Schuld beim Staat, selbst bei ganz alltäglichen Problemen. „Vielleicht kommt das noch aus DDR-Zeiten, weil der Staat früher alles entschieden hat. Die Eigenverantwortlichkeit ist bei manchen so ein bisschen unterrepräsentiert. Das nervt.“

Höcke mit Grußwort zur Kulturverantstaltung? „Dann muss ich ablehnen“

Jetzt sei es aber an der Zeit, den Blick auf Potenziale zu richten. Thüringen könne bei Themen wie erneuerbarer Energie und nachhaltigem Bauen endlich wieder punkten, nachdem über Jahre ganze Industriezweige abgewandert waren. „Dafür muss man sich einsetzen und es wollen, statt zu meckern. Dafür plädiere ich“, sagt Koschlik. Zum Glück gebe es auch viele Menschen, die sich dafür einsetzten, das Positive an Thüringen zu zeigen.

Johannes Gräßer aus Erfurt sorgt sich, dass AfD-Chef Björn Höcke mehr Einfluss in Thüringen bekommen könnte.

Auch Johannes Gräßer nimmt das für sich in Anspruch. Der Musiker ist künstlerischer Leiter der jüdisch-israelischen Kulturtage in Erfurt und leitet unter anderem ein Klezmer-Orchester, das jiddische Musik neu interpretiert. Das Land sei so vielfältig, das müsse man immer wieder zeigen, sagt Gräßer. Er fürchtet um den Kulturbetrieb in Thüringen, wenn die AfD und Björn Höcke mehr Einfluss bekommen sollten. „Falls es jemals einen Ministerpräsidenten Höcke geben sollte, der ein Grußwort zu den jüdisch-israelischen Kulturtagen sprechen will, muss ich das ablehnen“, sagt er. Auch wenn es ihm schwerfalle: Vielleicht würde er dann sogar wegziehen aus seiner Heimat.

Rubriklistenbild: © Peter Sieben

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