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IPPEN.MEDIA-Interview
Grüner Umweltminister vor Thüringen-Wahl: „Wir sind wie Monster für viele Leute“
Grünen-Kandidat Bernhard Stengele erklärt, warum seine Partei in Thüringen so unbeliebt ist – und warum er AfD-Mann Björn Höcke wegen eines Gedichts angezeigt hat.
Erfurt – Der Minister schwärmt vom Bärlauch. „Wunderbar, wie das duftet“, sagt Bernhard Stengele und zeichnet imaginäre Geruchsschwaden mit den Händen nach. Der Grünen-Politiker, der seit 2023 Thüringens Umweltminister ist, kommt gerade aus dem Nationalpark Hainich, einem dichten Wald an der Grenze zu Hessen, wo der Bärlauch in Massen blüht. Diese Landschaften, die müsse man schützen, sagt er.
Stengele ist Spitzenkandidat seiner Partei bei der Thüringen-Wahl, den Wahlkampf geht er hemdsärmelig an. Der 61-Jährige ist ausgebildeter Schauspieler, ein Theatermensch. Man trifft sich im Café nahe dem Landtag in Erfurt, Stengele ist in Plauderstimmung, bestellt Kaffee mit Hafermilch und eine Limo – „die ist prima hier“. Ernst wird er, als es um Thüringens AfD-Chef Björn Höcke geht, der Ministerpräsident werden will. Fatal wäre das, findet Stengele. Zuletzt hat er den Rechtsaußen-Politiker sogar angezeigt, wegen eines Gedichts im AfD-Wahlprogramm. Wie es dazu kam, was seine Ziele für die Thüringen-Wahl sind und warum ihn Sahra Wagenknecht an eine Guru erinnert, erzählt er im Interview mit IPPEN.MEDIA.
Thüringen-Wahl: Grünen-Kandidat zeigt AfD-Chef Björn Höcke an
Was glauben Sie, wie der nächste Ministerpräsident oder die nächste Ministerpräsidentin von Thüringen heißen wird?
Ich beschäftige mich nicht vordergründig damit, wer Ministerpräsident wird. Wir Bündnisgrünen haben ein klares Ziel: Wir wollen in den Landtag kommen und da so gut mitspielen, wie wir können.
Ihr Ziel ist vielleicht gefährdet, in Umfragen zur Thüringen-Wahl stehen die Grünen gerade bei unter fünf Prozent. Und bei der Europawahl hat Ihre Partei zuletzt denkbar schlecht abgeschnitten. Woran liegt’s?
In Thüringen kreisen wir traditionell immer um die fünf Prozent herum. Tatsächlich gibt es aktuell aber so viel Gegenwind wie noch nie. Das Thema Klimaschutz wurde europaweit, in Deutschland und in Thüringen total nach hinten durchgereicht. Was inhaltlich wirklich falsch ist, für uns jetzt aber besonders herausfordernd, weil es ein Kernthema ist.
Es scheint nicht das Thema zu sein, was die Thüringer gerade bewegt, oder?
Nicht nur das. Wir sind wie Monster für viele Leute. Das muss man Menschen, die nicht in Thüringen leben, mal erklären. Da denken viele, die AfD-Leute, das sind die Monster. Aber hier sind wir in manchen Gegenden für viele ein reines Feindbild, dass es wirklich schwer ist, dagegen anzugehen.
Grüne schwach bei Umfrage vor Thüringen-Wahl: „Wir sind angeblich an allem schuld“
Ja, das spielte eine große Rolle. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat Deutschland glänzend durch die Energiekrise geführt. Aber die Leute erinnern sich nur daran, dass die Energiepreise hochgegangen sind. Dass die schon jetzt wieder auf dem Niveau von 2017 liegen, das nimmt niemand wahr. Ich stimme in die Kritik, die es auch in meiner Partei gegen das Gebäudeenergiegesetz gab, ausdrücklich nicht ein. Das Gesetz wurde durch Kampagnen von außen viel schlimmer dargestellt, als es jemals geplant war.
Viele Politiker berichten, dass Beleidigungen und Übergriffe gegen sie zugenommen haben. Nehmen Sie das auch wahr?
Bei mir ist es nicht so. Ich treffe zum Beispiel oft mit Menschen zusammen, die gegenüber Naturschutz und Klimaschutz aufgeschlossen sind. In dem Bereich haben die Bündnisgrünen, auch lange vor meiner Zeit, eine sehr gute Arbeit gemacht. Aber viele Grünen-Mitglieder, die in den ländlichen Räumen leben, sind geradezu heldenhaft, wenn sie bekennen, zu welcher Partei sie gehören. Das muss man leider wirklich so sagen.
Umweltminister ist ausgebildeter Schauspieler: „Ich habe keine Angst vor Publikum“
Sie sind ausgebildeter Schauspieler. Hilft Ihnen das als Politiker?
Die Anforderungen an Selbst- und Außendarstellung sind hoch, in beiden Berufen. Ich bin hingegen als Typ eher zurückhaltend. Aber wenn ich etwas verstanden und verinnerlicht habe, kann ich es auch prägnant ausdrücken. Meine Erfahrung als Regisseur in internationaler Theaterarbeit hilft mir noch mehr. Meine letzte große Produktion war mit Arabern und Juden aus Tel Aviv. Der Konflikt, der jetzt so furchtbar eskaliert ist, war ja schon immer da. Und ich habe gelernt, wie man mit jemandem umgeht, der eine komplett andere Sichtweise auf die Welt hat. Wie man ein Gespräch so führen kann, dass es wieder konstruktiv ist.
Können Sie Ihre Reden auch schneller auswendig lernen als andere?
Nein, das mache ich gar nicht. Für meine Redenschreiberin ist es tatsächlich manchmal frustrierend, glaube ich. Weil ich mich nie an ein Skript halte. Ich rede immer frei. Das mag mit meiner Bühnenerfahrung zusammenhängen. Ich habe keine Angst vor Publikum, spüre die Situation. Fürs Thema habe ich mich natürlich gut vorbereitet. Dann stelle ich mich hin und fange an zu reden. Im Kontakt bin ich nicht ängstlich, ich mag gerne Widerspruch.
Sie haben Thüringens AfD-Chef Björn Höcke wegen Volksverhetzung angezeigt, weil im Wahlprogramm der Partei ein Gedicht des Lyrikers Franz Langheinrich abgedruckt ist. Der hat im Kulturbetrieb des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle gespielt. Das Wahlprogramm ist schon länger bekannt. Warum kam die Anzeige ausgerechnet jetzt?
Mir war der Abdruck im Wahlprogramm vorher nicht bekannt. Tatsächlich bin ich aufmerksam geworden durch einen Zeitungsartikel darüber vor wenigen Wochen. Dazu kam noch ein Disput auf X zwischen AfD-Leuten und Jens Christian Wagner, dem Chef der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald. Da wurde ihm vorgeworfen, er nehme die AfD in Sippenhaft. Dass die AfD ihm gegenüber ausgerechnet ein Nazi-Wort nutzt, ist ein Unding. Als ich das gelesen habe, hab ich wirklich laut vor mich hingesagt: Jetzt reicht es.
Dann sind aber nochmal ein paar Wochen vergangen.
Ich habe das erst einmal genau geprüft und mit vielen Leuten darüber geredet, ob ich Anzeige erstatten soll oder nicht. Als Theatermensch habe ich einen intensiven Bezug zu Lyrik. Ich kann Ihnen jetzt, aus dem Stand, das ist nicht übertrieben, zweieinhalb Stunden deutsche Gedichte aufsagen. Und ich bin so empört über diesen Vorgang, weil er so perfide ist. Es wirkt wie ein harmloses Naturgedicht, aber Langheinrich war ein Nazi-Dichter.
Anzeige gegen AfD-Chef Höcke vor Thüringen-Wahl: „Die wollen das Unsagbare wieder sagbar machen“
Und Sie gehen davon aus, dass Björn Höcke das klar war?
Zu 100 Prozent. Jeder anständige Mensch würde sagen: Dann lasse ich ein solches Gedicht lieber weg, sobald klar ist, dass das kein normales Gedicht von einem harmlosen Lyriker ist. Aber die AfD nutzt das bewusst, das ist eine intelligente und perfide Strategie. Die wollen in kleinen Schritten das Unsagbare wieder sagbar machen.
Kommt Ihnen der Zeitpunkt denn im Wahlkampf gelegen?
Natürlich ist das auch Gegenstand unserer Wahlauseinandersetzung. Wir müssen ja darauf hinweisen, wer die AfD ist.
Glauben Sie, die AfD nutzt Thüringen als Versuchslabor, um zu testen, was an Provokation möglich ist?
Das glaube ich eher nicht. Was der AfD klar ist: In Thüringen gibt es ein paar Prozent mehr an Menschen, die eine feste faschistische Überzeugung haben, als in anderen Bundesländern. Vor allem aber gibt es eine Unzufriedenheit mit der Grundsituation und mit der Demokratie, die hier höher ist als woanders. Und das nutzen die aus.
Ein Thema, das oft für Unzufriedenheit sorgt, ist eine mangelhafte Infrastruktur auf dem Land. Bus fahren ist dort schwierig. Die Verkehrswende ist ein Thema der Grünen. Was wollen Sie besser machen?
Ich war gestern bei einer Firma, die mir gesagt hat, dass das 49-Euro-Ticket für sie Wettbewerbsnachteile hat. Denn zu dem Unternehmen fährt kein Bus. Zu anderen Firmen aber schon. Mitarbeiter sagen jetzt: Ich hab 200 Euro Spritkosten, wenn ich zu euch will. Da fahr ich lieber für 49 Euro mit dem Bus und heuer bei einer anderen Firma an. Das gibt es im ländlichen Raum häufiger. Wir brauchen dringend ein variantenreiches ÖPNV-System, wie zum Beispiel den Rufbus. Oder die Finanzierung von Taxischeinen, damit mehr Menschen mobil sind.
Kooperation mit Wagenknecht-Partei nach Thüringen-Wahl denkbar
Je nachdem, wie die Wahl ausgeht: Wäre eine Zusammenarbeit zwischen Grünen und der Wagenknecht-Partei BSW denkbar?
Es war für Thüringen zuerst eine Erleichterung, dass es jetzt eine Partei gibt, die dafür sorgen könnte, dass wir hier überhaupt zu Mehrheitsverhältnissen kommen. Denn die CDU unter Mario Voigt ist in ihrem vernagelten Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber der Linken wirklich zum Problem geworden. Und das gegenüber einem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, der bundesweit geachtet ist. Das ist eine moralische Überhöhung von dieser CDU. Falls wir gefragt werden, ob wir an der Regierungsbildung teilnehmen, und es darum geht, eine Mehrheit zustande zu bringen, sind wir bereit, weite Wege zu gehen. Deshalb würde ich eine Zusammenarbeit nicht ausschließen wollen. Wenngleich das Bündnis Sahra Wagenknecht im Ansatz schon eine gewisse Zumutung für Demokraten ist.
Inwiefern?
Wir hatten noch nie in Deutschland eine Partei, die wie eine Person heißt. Das halte ich für einen sehr kuriosen Führungsanspruch. Das erinnert mich an Yoga oder die Osho-Bewegung. Als wäre Sahra Wagenknecht eine erleuchtete Guru. Sie hat neulich erst gefordert, man müsse in ihrer Partei grundsätzlich ihre abseitige Haltung zum Ukraine-Krieg teilen, Waffenlieferungen ablehnen und ihre unerträgliche Opfer-Täter-Umkehr mittragen Was, wenn zum Beispiel die BSW-Spitzenkandidatin und ehemalige Linke Katja Wolff das anders sieht? Bekommt sie dann Probleme in der Partei, die heißt wie die Vorsitzende? Das halte ich für problematisch.