Seuche drohte auf Mühldorf überzugreifen
Fahrlässige Tötung in 97 Fällen? Das war der „Riesenprozess“ zur Typhus-Epidemie in Neuötting 1950
Sogar eine Ausbreitung in den Nachbarlandkreis Mühldorf fürchtete man zeitweise: 1948 wütete eine Typhus-Epidemie in Neuötting. Vor 75 Jahren dann, im Sommer 1950 kam es zu einem juristischen Nachspiel, das wir an Hand von Artikeln aus dem OVB-Zeitungsarchiv nachzeichnen.
Altötting/Neuötting - „In dem Augenblick, da diese Zeitung den Lesern unter die Augen kommt, hat im historischen Rathaussaal in Altötting ein Prozess begonnen, der nicht nur allenthalben die größte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit findet, sondern auch hinsichtlich der Vorarbeit, die für ihn geleistet werden musste, zu den umfangreichsten Verfahren gehört, die jemals die Große Strafkammer beim Landgericht Traunstein beschäftigt haben, und der darüber hinaus nicht nur bedeutsame grundsätzliche Fragen aufwirft, sondern weittragende Folgen haben dürfte“, vermeldete das Rosenheimer Tagblatt Wendelstein (RTW) in seiner Ausgabe vom 20. Juli 1950.
„Es handelt sich um den sogenannten Neuöttinger Typhus-Prozess, das gerichtliche Nachspiel zu der Typhus-Epidemie in Neuötting vom Mai 1948, die zahlreiche Todesopfer gefordert hat. Es soll darin festgestellt werden, ob jene Epidemie durch schuldhaftes Verhalten einzelner Personen herbeigeführt oder begünstigt worden ist. Die Anklage laute auf Vergehen der fahrlässigen Tötung in 97 Fällen. Angeklagt sind fünf Personen, und zwar: der ehemalige Amtsarzt von Altötting, Dr. Horst Schmidt [...] Stadtrat Franz Xaver Leitl, städtischer Wasserreferent von Neuötting, Bürgermeister Wirthmüller, Neuötting, Brunnenwart Clemens Breitenlohner und Hilfsarbeiter Ennsmann.“ Auch sollte die Frage geklärt werden, ob der Bau einer neuen Wasserleitung nicht unnötig verzögert worden sei.
Seuche drohte auf Mühldorf überzugreifen – Fahrlässige Tötung in 97 Fällen? Das war der „Riesenprozess“ zur Typhus-Epedimie in Neuötting 1950
Was war geschehen? „In Neuötting ist eine Typhusepidemie ausgebrochen, von der nach den vorliegenden Meldungen über 100 Personen betroffen wurden“, meldete das Oberbayerische Volksblatt (OVB) in seiner Ausgabe vom 25. Mai 1948. „Bereits seit den Pfingsttagen hatten die Ärzte in Neuötting eine Häufung von typhusverdächtigen Erkrankten festgestellt. Die bakteriologische Untersuchung ergab einwandfrei Typhus als Krankheitsursache. Nach Mitteilung des Gesundheitsamtes befanden sich am Sonntag etwa 122 Personen in verschiedenen Krankenhäusern zur Behandlung bzw. zur Beobachtung.“
„Wenn es sich auch in der Hauptsache um leichtere Fälle handelt, so wenden die Gesundheitsbehörden ihre stärkste Aufmerksamkeit den wieder epidemischen Charakter tragenden Erscheinungen zu“, so die Meldung weiter. „Zur Verminderung der Ansteckungsgefahr wurden bereits sämtliche Schulen in Neuötting geschlossen. An die Bevölkerung werden laufend Flugzettel mit Verhaltungsmaßregeln verteilt. Tanzveranstaltungen sind verboten. Auf der Dultfestwiese wurde die Abgabe von Speiseeis, Limonaden und sonstigen Getränken polizeilich untersagt.“
Zwei Wellen 1946 und 1948
1946 und 1948 verheerten zwei Wellen von Typhus-Epidemien nicht nur, aber vor allem Neuötting. „1500 Menschen waren damals erkrankt, 134 starben. Neuötting mit seinen rund 5300 Einwohnern war vom 11. November 1946 bis 11. Januar 1947 und dann wieder vom 31. Mai bis zum 4. Juli 1948 eine abgeriegelte Stadt“, schildert die Stadt Neuötting in einem Eintrag dazu auf ihrer Website. Auch Altötting oder Tüßling hätten Fälle verzeichnet. „Neuötting war aber als Stadt am meisten betroffen. 97 Menschen fanden alleine 1948 den Tod, etwa zehn Mal so viele, nämlich 1050 – davon allein in Neuötting 750 – waren erkrankt.“
Erreger ist das Typhusbakterium. Es wird fäkal-oral übertragen, also beispielsweise durch verunreinigte Nahrungsmittel oder verschmutztes Wasser. Genau das wurde den Neuöttingern in der von Hungerwintern geprägten Nachkriegszeit zum Verhängnis: „Jeder, der ein Stückchen Garten hatte, nutzte jeden Quadratzentimeter zum Anbau von Lebensmitteln. Und der Garten wurde mit dem Wasser aus dem Mörnbach gegossen.“ Der Bach wiederum wurde teilweise als Abort genutzt.
Tanzbetrieb auch im Kreis Mühldorf untersagt
„Man ist jetzt dazu übergegangen, sämtliche noch außerhalb der Anstalten befindlichen Erkrankten in das heute, Freitag, in Betrieb genommene Hilfslazarett ‚Josefs-Burg‘ (130 Betten) einzuweisen, sodass in Privathäusern sich keine Kranken mehr aufhalten“, berichtete das OVB dann am 11. Juni 1948. Zu diesem Zeitpunkt waren es bereits 600 Erkrankungen und 30 Todesfälle, „Wie an anderer Stelle der vorliegenden Ausgabe unserer Zeitung bekanntgegeben, sind nun auch in Mühldorf entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden.“
„So ist zum Beispiel ab morgen, Samstag, der gesamte Tanzbetrieb in Stadt und Land Mühldorf stillgelegt. Es hat sich bei Kontrollen gezeigt, dass aus dem Sperrgebiet Leute nach Mühldorf zum Tanzen herüberwechselten, womit die Gefahr der Übertragung auch für Mühldorf in greifbare Nähe gerückt war. Im Übrigen macht das Amtsgericht Altötting darauf aufmerksam, dass jede Übertretung mit einem Monat Gefängnis geahndet wird. Das Sperrgebiet erstreckt sich vorläufig nur auf die unmittelbare Nähe der Stadt Neuötting.“
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Schon in jenem Bericht aus dem Juni heißt es außerdem: „Die Stimmung der Bevölkerung in den von der Seuche befallenen Gebieten richtet sich gegen den ehemaligen Stadtrat in Neuötting, dem eine gewisse Nachlässigkeit In der Erstellung einer neuen Kanalisation nach der vorjährigen Epidemie vorgeworfen wird.“ Auch im Bayerischen Landtag kamen Fragen auf, wie man einer Anfrage vom 8. Juni 1948 aus der FDP-Fraktion entnehmen kann. Darin wird die Staatsregierung unter anderem ersucht, die Ursachen der Epidemie bis Jahresfrist zu klären.
„Warnzeichen für das gesamte Land“
In der Folge kam es also, wie eingangs geschildert, im Sommer 1950 zum „Riesenprozess“. „Im Neuöttinger Typhusprozess erhob die Strafkammer des Landgerichts Traunstein gegen den Regierungsmedizinalrat Dr. Schmidt [...] keinen Schuldspruch, obwohl, wie das Gericht feststelle, eine höhere Chlorierung des Leitungswassers für die Schmidt verantwortlich gewesen wäre, die Epidemie des Jahres 1948 wesentlich eingeschränkt hätte“, berichtete das Rosenheimer Tagblatt Wendelstein dann am 8. August. Sachverständige hätten beschieden, dass er unter den Umständen korrekt gehandelt habe. Auch Bürgermeister Wirthmüller, Stadtrat Leitl und die Brunnenwarte hätten Freisprüche erhalten.
Gutachter hatten in dem Prozess angemahnt, die Geschehnisse seien „ein Warnungszeichen für das ganze Land“, was Maßnahmen zur Sicherung der Wasserversorgung beträfe. „Die Bauarbeiten in Neuötting, dessen Typhusepidemie ein Warnzeichen dargestellt hat, gehen dem Ende entgegen. Auf dem Gebiet der Wasserversorgung und der Abwasserbeseitigung gibt einen Fünfjahresplan, der sich auf die 1Behebung der Missstände in den Schwerpunkten beschränkt“, konnte dem Bayerischen Landtag dann in dessen Sitzung am 3. August 1954 vermeldet werden. (hs)