Am 20. Juni 1920
„Wie nach schwerem Erdbeben“ - Fatale Explosion der Pulvermühle verwüstete 1920 Stephanskirchen
Insgesamt 31 Menschen kamen bei Explosionen in den 100 Jahren des Betriebs der Pulvermühle in Stephanskirchen ums Leben, zahllose weitere wurden verletzt. Zuletzt und in nie zuvor gesehenem Ausmaß am 20. Juni 1920. Wir blicken an Hand von Beiträgen aus dem OVB-Zeitungsarchiv auf die Geschichte des Areals zurück, auf dem sich zuletzt das „Arri“-Werk befand.
Rosenheim/Stephanskirchen - „Die Pulverfabrik ist durch einen Blitzschlag in die Luft geflogen!“, dieser Schreckensruf sei am 8. Juni durch ganz Stephanskirchen und Rosenheim geeilt, berichtet der Rosenheimer Anzeiger am 9. Juni 1897. Es habe ein schweres Gewitter gegeben. „In der Richtung gegen Stephanskirchen konnte man kurz vor 8 Uhr zwei plötzlich stark aufsteigende intensiv weiße Rauchsäulen beobachten, welchen eine ungeheure Detonation folgte, die in weitem Umkreise in den verschiedenen Gebäulichkeiten vielfachen Schaden verursachte.“ Von den 50 Teilgebäuden der Fabrik seien 20 total vernichtet worden, die Trümmer in einem Kilometer Umkreis verstreut worden. „Die Ortschaften Riedering, Landl, Krottenhausmühle, Stephanskirchen, Ried, Eitzing, Sims, Riedering haben viel Material- und Futterschaden erlitten.“
„Den Einwohnern unserer Gemeinde und ihrer Umgebung ist die ‚Pulvermühle‘ im Laufe der vielen Jahre ihres Bestehens zum Begriff geworden, umso mehr, als sie in ihrer ‚Blütezeit‘ nicht nur zahlreichen Arbeitern aus der hiesigen Gegend Arbeit und Verdienst verschaffte, sondern auch durch die verschiedenen Explosionsunglücke Leid und Tränen in manche hiesige Familie brachte“, resümierte der Stephanskirchener Ortschronist Konrad Kießling in einem Beitrag für das Rosenheimer Tagblatt Wendelstein (RTW) in der Ausgabe vom 24. Juni 1950. Von ihrer Gründung durch einen Burghauser Apotheker 1830 bis zu ihrer Aufgabe 1932 war das Werk in Stephanskirchen in Betrieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren dort die „Arri“-Werke beheimatet, deren Geschichte nun auch bald ein Ende finden wird.
„Wie nach schwerem Erdbeben“ - Fatale Explosion der Pulvermühle verwüstete 1920 Stephanskirchen
1891 hatte der Sohn des Pulvermühle-Begründers Hayler die Fabrik an einen Geschäftsmann namens Franz Winterholler verkauft, „welcher in unermüdlicher Tätigkeit seit Jahren seine Fabrik mit größter Sorgfalt bei Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln einer Renovation unterzog“, wie der eingangs zitierte Bericht im „Anzeiger“ versichert. Bereits 1894 ereignete sich eine Explosion, bei der mehrere Arbeiter ums Leben kamen. Allerdings habe das Unglück 1897 weit mehr Zerstörung angerichtet, so die Zeitung. Winterholler sei „von dem Schicksal schwer betroffen worden, und im schmerzlichen Jammer stand derselbe nach seiner heute früh erfolgten Ankunft aus Wien vor der Unglücksstätte.“
Was ist eine Pulvermühle eigentlich?
Dort wurden die zur Schießpulverherstellung notwendigen Zutaten Holzkohle, Schwefel und Salpeter gemahlen oder zerkleinert und zur explosiven Mischung zusammengestellt. Wie auch in Stephanskirchen wurden sie, um Wasserkraft als funkenfreie Antriebsquelle zu haben, meist an Fließgewässern und möglichst weit von Ortschaften errichtet
1915 habe sich dann erneut ein Unglück ereignet, berichtet Chronist Kießler in einem weiteren Beitrag zur Geschichte der Pulvermühle im RTW vom 29. Juni 1950. „Ein wahrer Unglückstag für die Gemeinde war der 29. Januar 1916. Früh halb 10 Uhr gab es einen dumpfen Schlag, den man sogar bis Prutting verspürte“, so Kießler weiter, „Anfangs dachte man an einen Bombenabwurf feindlicher Flieger. Bald aber stellte sich heraus, dass im Füllraum der Pulverfabrik eine Granate explodiert war. 5 Arbeiter blieben tot und verbrannt an der Unglücksstätte liegen. Einige Verwundete wurden durch die Bemühungen des Oberfeuerwerkers Pawlik unter eigener Lebensgefahr gerettet. Wie durch ein Wunder explodierte nur eine einzige Granate, welche nicht einmal geschlossen war, während an die 2000 Granaten in der Nähe lagerten.“
„Eine Explosion nach der anderen“
Zweimal 1917 und zweimal 1918 ereigneten sich weitere Explosionen mit mehreren Toten und Verletzten, so Kießling. Vermutlich wegen der durch den Ersten Weltkrieg in dieser Zeit angewendeten Zensur finden sich dazu nicht immer auch Zeitungsberichte. Bereits im März 1920 kam es zu einem weiteren Unglück, das zwei Tote und sechs Verletzte forderte. Die letzte Explosion ereignete sich dann am 20. Juni 1920. „Gegen abends 7 Uhr schlug der Blitz kurz nacheinander zuerst in die Pulverfabrik und dann in das Brandlanwesen von Sims, das alsbald lichterloh brannte“, schildert Kießling in einem finalen Beitrag im RTW am 6. Juli 1950, „Unterdessen aber breitete sich der Brand in der Granatenfüllerei weiter aus. Eine Explosion nach der andern erfolgte.“
„Schließlich schrie Schmiedmeister Fortner von Stephanskirchen: ‚Raus aus den Häusern!‘“, so Kießling weiter, „Kaum hatte man dieser Aufforderung Folge geleistet, als auch schon die Fensterscheiben klirrten und eine gewaltige Detonation erfolgte. Eine schwarze Rauchwolke stieg empor und überschüttete die Umgebung mit Steinen und Trümmern, zum Glück ohne jemand zu töten oder zu verletzen.“ Es seien enorme Schäden in der Umgebung entstanden. „Die Kirchenfenster der Stephanskirchcner und der Schloßberger Pfarrkirche wurden schwer mitgenommen. Steinblöcke von 5 Zentner Gewicht wurden mehrere hundert Meter weit geschleudert und eine Eisenschiene, 8 Meter lang und 3 Zentner schwer, flog 250 Meter weit, nachdem sie vorher einen Eichenstamm entgipfelt hatte. Etwa 6000 Fensterscheiben wurden in der Umgebung zerbrochen. In den älteren und schlechter gebauten Häusern wurde die Zimmerdecke gehoben, die Mauern und Stallgewölbe zeigten vielfach Sprünge wie nach einem schweren Erdbeben.“
Massive Schäden durch Explosion 1920
„Die vorgestrige Explosion der Pulverfabrik Stephanskirchen infolge Blitzschlag zählt, was den Sachschaden anbelangt, zu den folgenschwersten Naturereignissen seit Menschengedenken in unserer engeren Heimat“, hieß es am 2. Juli 1920 im „Anzeiger“. Es sei dabei die Frage aufgekommen, wer nun für den Schaden aufkomme. „Bürgerliches Recht und Bestimmungen der Versicherungsgesellschaften sprechen bei der Einwirkung ‚höherer Naturgewalten‘ die Ersatzpflicht ab. Es sind jedoch diesmal soviel kleine Existenzen geschädigt, dass mit einer solchen Wendung nicht leichtfertig an den Tatsachen vorbeigegangen werden darf.“ Auch im Landtag habe es deswegen eine Anfrage gegeben. Allerdings finden sich keine nachfolgenden Berichte, dass dies zu etwas geführt habe.
Das folgende Jahrzehnt brachte dann das Ende des Betriebs. „Anfangs April 1924 ging die Pulvermühle an die Firma ‚Süddeutsche Sprengstoffwerke‘ ‚Monachitwerke‘, über, welche sie 1932 stilllegten und abbrachen“, berichtet Kießling, „Die gänzliche Auflösung erfolgte am 21. Mai 1932. Nach fast genau 100 Jahren Bestehen (1830—1932) haben die Pulvermühle und die ihr angeschlossenen Werke ihre Tätigkeit eingestellt. 31 brave Arbeiter und Arbeiterinnen büßten während dieser Zeit ihr Leben durch Unglücksfälle im Werk ein, viele andere verloren dort ihre Gesundheit.“
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