Missbrauchs-Skandal in der Kirche
Wer beerbt Papst Benedikt? Wie es im Missbrauchs-Prozess in Traunstein nun weitergeht
Wer beerbt Papst Benedikt XVI.? Und wie beurteilt ein Gutachter die seelischen Schäden durch Missbrauch? Im Zivilverfahren gegen Joseph Ratzinger und die katholische Kirche am Landgericht Traunstein sind noch Fragen offen. Doch der Abschluss scheint in Sichtweite.
Rosenheim/Traunstein – Der Berliner Anwalt Andreas Schulz hat schon in vielen prominenten Fällen gestritten. Zum Beispiel vertrat er im NSU-Prozess den Geschädigten eines Anschlags. Auch für Betroffene des Missbrauchsskandals der katholischen Kirche machte er sich stark. Sein aktuelles Verfahren in Traunstein sprengt dann noch mal den Rahmen.
Es ist ein historischer Prozess. Ein Prozess, in dem es um die Verantwortung der Kirche im allgemeinen und eines Papstes im besonderen geht. Wie schuldig machte sich Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche? Der Skandal hatte auch in Rosenheim hohe Wellen geschlagen. Dort war ein Priester eingesetzt worden, obwohl im Bistum bekannt gewesen war, welche Untaten er andernorts verübt hatte.
Im aktuellen Fall stellt sich noch dazu die Frage nach der speziellen Rolle von Erzbischof Ratzinger. In welchem Ausmaß war er mitverantwortlich dafür, dass ein pädophiler Priester ungeahndet tun konnte, was er tat? Dass er unter anderem das Leben von Andreas Perr aus Garching ruinieren konnte?
Wie sieht das System hinter dem Missbrauch aus?
Wie derlei passieren konnte, wie das System hinter dem Missbrauch aussah, das will Schulz unter anderem mit dem Traunsteiner Prozess geklärt wissen. „Strafprozesse kamen jahrzehntelang nicht in die Gänge, weil die Vertuschungsstrategien der Kirche auf allen Ebenen – in der Justiz und in der Zivilgesellschaft – Wirkung zeigten“, sagte der Berliner der Morgenpost. „Strafanzeigen von Opfern wurden unterdrückt, Zeugen und Angehörige mit Exkommunizierung und ewigen Höllenfeuer bedroht.“
Ein System der Vertuschung hatte auch das Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl im Erzbistum München-Freising ausgemacht. Dieses Gutachten löste 2023 den Greihansel-Skandal in Rosenheim aus.
Papst-Prozess: Was tut sich in Traunstein?
Oberflächlich tut sich am Landgericht in Traunstein in der Sache wenig. Es ist wohl so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm, eine Entscheidung könnte schon in ein paar Wochen fallen. Denn während ein Verfahren in Sachen „Missbrauch“ gerade ruht, arbeitet ein Experte im andern Verfahren am entscheidenden Gutachten. Wie sieht das im Einzelnen aus?
Genaugenommen hat das Gericht zwei Klagen zu bearbeiten, die Andreas Perr eingereicht hat. Die eine betrifft den Pfarrer H., der in den 90er-Jahren Perr missbraucht haben soll, beziehungsweise seine Dienstherrn in der katholischen Kirche. Perr fordert in diesem Zivilverfahren 300.000 Euro Schmerzensgeld. Außerdem macht er den früheren München-Freisinger Erzbischof Joseph Ratzinger persönlich für seine Leiden mitverantwortlich. 50.000 Euro umfasst die Forderung.
Worin könnte die Schuld des Papstes bestehen?
Einiges deutet darauf hin, dass der spätere Papst Benedikt XVI. sehr wohl über die Neigungen des verurteilten Kinderschänders informiert gewesen war, als er dem Einsatz H.s in Oberbayern zustimmte. Das Recherchekollektiv „Correctiv“ machte bereits vergangenes Jahr auf den so genannten „Traubensaft“-Brief aufmerksam. Da H. seine Opfer wohl aufgrund einer Unverträglichkeit stets alkoholisiert missbrauchte, erteilte Ratzinger als Chef der Glaubenskongregation dem Priester 1986 eine Ausnahmegenehmigung: Er dürfe im Gottesdienst Traubensaft statt Wein verwenden.
Warum sucht das Gericht nach Ratzingers Erben?
Auf die Mitverantwortung Ratzingers für die Untaten des Priesters begründet sich die sozusagen persönliche Forderung Perrs an Ratzinger. Da der Papa emeritus 2022 verstarb, müsste jemand anderer in die Bresche springen und an Ratzingers Statt zahlen. Deswegen stellt sich nun eine Frage, die sich im Zusammenhang mit Päpsten selten stellt: Wer beerbt eigentlich einen Pontifex?
Aber: Ratzingers Bruder Georg starb 2020. Die Suche nach weiteren Erbberechtigten gestaltet sich daher schwierig. „Von einem Testament hat man nichts gehört“, sagt Richterin Cornelia Sattelberger, Sprecherin des Landgerichts Rosenheim, auf Anfragen des OVB.
„Da Herr Ratzinger zum Zeitpunkt seines Todes im Vatikan lebte, ist zunächst nach dem dort geltenden Recht zu ermitteln, wer potentieller Erbe geworden sein könnte.“ Dann seien potentielle Erben anzuschreiben, „vielleicht gibt es einen, der das Erbe annimmt“. Erst dann, wenn diese Kandidaten das Erbe ausgeschlagen haben, frage sich, wer am Ende der Reihe steht. „Hier wäre es wohl der italienische Staat“, sagt Sattelberger. Derzeit ruht das Verfahren.
Was tut Missbrauch einem Menschen an?
Andreas Perr geriet in einen Abwärtsstrudel der Sucht. Ausgelöst, so behauptet er mit einiger Überzeugungskraft, wurde es durch die Untaten, die ihm in den 90er Jahren in Garching widerfuhren. Über die Zusammenhänge von Missbrauch und und seelischen Schäden wird sich ein Gutachter äußern, der bereits im Prozess um den Mord an Hanna W. in Aschau äußerte: der Psychiater Dr. Rainer Huppert aus München.
Dieses Gutachten soll im Mai vorliegen, heißt es aus dem Landgericht Traunstein. Es werde allerdings wohl nicht öffentlich vorgetragen, sondern den Parteien in dem Verfahren schriftlich zugänglich gemacht. Dann werden sich die Anwälte der Diözese München-Freising und Andreas Schulz ihrerseits äußern.
Entscheidung schon im Frühjahr?
Wie wird das Gericht entscheiden? Das erfährt man womöglich noch Ende Mai, eher aber im Juni. Eine Tendenz zeichnet sich ab: Bereits am ersten Verhandlungstag vergangenes Jahr hatte das Gericht eine Mitverantwortung des Erzbistums wie auch Ratzingers festgestellt. Die Kirche und der damalige Erzbischof trügen eine Mitschuld, weil sie den Täter fahrlässig weiter als Seelsorger einsetzten. Dabei sei bekannt gewesen, dass H. Kinder missbraucht habe.
Welche Folgen könnte ein Traunsteiner Urteil haben?
Andreas Perr wurde Mitte der 90er Jahre als Ministrant im Alter von zehn, elf Jahren von diesem Gemeindepfarrer in Garching an der Alz sexuell missbraucht. Schlimme Erfahrungen, die ihn aus der Bahn geworfen hätten, wie er sagt. Wie das Landgericht entscheidet, könnte Auswirkungen weit über die Diözese München-Freising hinaus haben. Anwalt Schulz sieht das Urteil als möglichen „Meilenstein“, der hinsichtlich der Höhe der Entschädigung als Maßstab für andere Gerichte dienen könnte.