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Bürgerversammlung zeigt Kontroverse auf

„Einmalige Chance“ – „blauäugig umgesetzt“? Warum Wasserburgs neues Wohngebiet nicht alle freut

Das neue geplante Wohnquartier auf der Brache nähe Schöpfwerk am Inn in Wasserburg stößt auf großes Interesse. Viele freuen sich über neuen bezahlbaren Wohnraum in Zentrumsnähe, doch es gibt auch zahlreiche kritische Stimmen.
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Das neue geplante Wohnquartier auf der Brache nähe Schöpfwerk am Inn in Wasserburg stößt auf großes Interesse. Viele freuen sich über neuen bezahlbaren Wohnraum in Zentrumsnähe, doch es gibt auch viele kritische Stimmen.

60 bis 80 Wohnungen, zum Teil sozial gefördert, nahe der Wasserburger Altstadt: Das ist ein großer Wurf im Kampf gegen die Wohnungsnot. Doch bei der Bürgerversammlung zum Vorhaben hatten die Skeptiker die Meinungshoheit. Warum das so ist.

Wasserburg – „Auch ich bin froh, dass Wohnraum geschaffen wird“, betonte Norbert Ruth. Eine Aussage, die Robert Mayerhofer, Leiter des Wasserburger Liegenschaftsamts, glücklich machte: „Das ist das erste Mal, dass einer das sagt“, rief er spontan aus. Denn auch nach eineinhalb Stunden Bürgerinformation zum geplanten Wohngebiet an der ehemaligen Essigfabrik in Wasserburg hatte sich die Debatte bis dato kaum um die laut Bürgermeister Michael Kölbl „einmalige Chance, altstadtnahen Wohnraum“ zu schaffen, sondern ausschließlich um die Verkehrsproblematik des neuen Quartiers gedreht.

Der Vorentwurf des Bebauungsplans „Ehemalige Essigfabrik“ in Wasserburg vom Juni 2024.

Doch Mayerhofer hatte sich zu früh gefreut: Auch Ruth sieht das Vorhaben kritisch. „Blauäugig“ sei es von der Stadt, anzunehmen, dass pro neu geschaffener Wohnung nur ein Pkw hinzukomme. Den zusätzlichen Autoverkehr Richtung frühere Essigfabrik müssten die Nachbarn in der alten Siedlung am Holzhofweg und Riedener Weg ausbaden. Hier liege ein Kindergarten, ein Förderzentrum für junge Menschen mit Behinderung, ein Spielplatz: Als „extrem gefährlich“ schätzen viele Anlieger die Verkehrslage im Holzhofweg, der Haupterschließung, nach dem Bau des Wohngebiets ein.

Verkehrsbelastung erhöht sich um das Zweieinhalbfache

Tatsache ist: Bereits jetzt ist der Holzhofweg in einer kritischen Situation, was die Verkehrslage angeht: Engstellen, zugeparkte Flächen, Sichtprobleme, zu hohen Geschwindigkeiten, die Fußgänger gefährden. Wenn das neue Wohngebiet fertig ist, fahren laut Berechnungen der Verkehrsplanerin Sibel Aydogdu in Spitzenstunden morgens und zum Feierabend vermutlich etwa 50 Fahrzeuge pro Stunde. Die Verkehrsbelastung würde sich um den Faktor 2,5 erhöhen. Das gelte jedoch rechtlich gesehen als hinnehmbar für ein Wohngebiet.

Trotzdem besteht Handlungsbedarf, das stritt während der gut besuchten Bürgerinformationsveranstaltung im Rathaus niemand von der Stadt ab: weder Bürgermeister Kölbl, noch Bauamtsleiterin Mechtild Herrmann, noch Liegenschaftschef Mayerhofer, noch Architekt Michael Leidl. Das Großbauvorhaben wird laut Rathauschef an einen Investor vergeben, weil die Stadt es aufgrund vieler Millionenprojekte in den nächsten Jahren weder personell noch finanziell stemmen kann. Geplant sei eine sogenannte Konzeptvergabe, die klare Vorgaben Richtung Bauherr mache. Im Rahmen der Bebauungsplanaufstellung und der Konzepterarbeitung müsse das Verkehrsproblem gelöst werden, versprachen die Vertreter der Stadt und der Planer.

Pferd von hinten aufgezäumt?

Das reichte den Kritikern aus der alten Siedlung, durch die der Verkehr Richtung neues Wohnquartier verlaufen wird, jedoch nicht aus. Sie äußerten mehrfach mit Nachdruck die Meinung, die Stadt zäume das Pferd von hinten auf: Zuerst hätte die Verkehrsproblematik gelöst, danach auf Grundlage dieser Erkenntnisse die Vorplanung für das Wohngebiet erstellt werden müssen. Wie denn eine Befriedung aussehen könne, wollten Bewohner des Holzhofwegs immer wieder wissen. Verkehrsplanerin Sibel Aydogdu stelllte Vorschläge vor, doch die Details werden im Rahmen des Bebauungsplanverfahrens festgezurrt.

Appell: Anzahl der Wohnungen verringern

Trotzdem: Anlieger Yann Martin findet, es gehe kein Weg daran vorbei, die Anzahl der Wohnungen zu reduzieren. Er forderte den Stadtrat auf, von der Idee, sogar noch ein fünftes Stockwerk aufzusatteln, wieder Abstand zu nehmen. „Das neue Quartier muss für alle verträglich gestaltet werden“, appellierte er. Auch dafür gab es Applaus. Er wünschte außerdem eine Wärmeversorgung für das neue Quartier, an die die Nachbarschaft der alten Siedlung anknüpfen könne. „Dann bessert sich vielleicht auch die Stimmung gegenüber dem Vorhaben“, prognostizierte der Anwohner. Wie die Wärmeversorgung aussehen könnte, steht noch nicht fest, so Kölbl, der auch diesbezüglich erneut darauf hinwies, dass es sich bei der Veranstaltung um eine vorgezogene Bürgerinformation handele. Details dieser Art seien noch nicht festgelegt. Bei der Konzeptvergabe an einen Investor gebe es dazu Lösungsansätze. Dieser ist noch nicht gefunden. Denn das Bauvorhaben ist aufgrund der schönen Lage am Hang und Inn, die allerdings Beschattung und Hochwassergefahr mit sich bringt, attraktiv und herausfordernd zugleich und mit einer Investition von etwa 30 Millionen Euro verbunden. Interessenten gibt es jedoch, ein potenzieller Investor nahm, ohne sich zu äußern, beobachtend an der Versammlung teil.

Fakten zum neuen Quartier

Grundstücksgröße: 8000 Quadratmeter (drei Grundstücke: zwei in Besitz der Stadt, eins im Eigentum der Heilig-Geist-Spital-Stiftung, die von der Kommune verwaltet wird

Versiegelte Fläche: früher 5677 Quadratmeter, laut Planung: 3596 Quadratmeter

Planungshoheit: Stadt Wasserburg

Anzahl Wohnungen: 70 bis 80 Ein- bis Vier-Zimmerwohnungen

Ziel: verdichtetes Wohnen in Stadtnähe mit gefördertem Geschosswohnungsbau

Investitionsvolumen: etwa 30 Millionen Euro

Bauherr: geeigneter Investor, ermittelt über eine Konzeptvergabe

Wie gebaut werden soll, steht bereits in groben Zügen fest: Der Siegerentwurf des städtebaulichen Wettbewerbs sieht einen langgestreckten Baukörper Richtung Hang und drei Solitär-Gebäudetürme Richtung Inn vor. Alle vier Häuser werden gemäß dem Hochwasserschutz ohne Keller geplant, in den Erdgeschossen sollen nur Stellplätze und Technikräume integriert werden, berichtete Stadtbaumeisterin Mechtild Herrman.

Ziel: bezahlbare Wohnungen

Erklärtes Ziel der Stadt: bezahlbare Wohnungen. Deshalb ist geförderter Wohnungsbau geplant. Bürger Hans Köck unterstrich die positive Bedeutung des Projekts und die in seinen Augen vorbildliche Vorgehensweise der Stadt und des Stadtrates. Er wies jedoch darauf hin, dass bei einem Invest von 30 Millionen für 4000 Quadratmeter Wohnfläche pro Quadratmeter 7500 Euro zu zahlen seien, das entspreche einer Miete von 20 Euro je Quadratmeter. „Bezahlbares Wohnen ist das nicht“, sorgte er sich. Doch Mayerhofer wies darauf hin, dass die Stadt öffentliche Förderungen erwartet.

Innerhalb des Quartiers sollen möglichst wenige Autos parken und fahren, weshalb ein eigenes Mobilitätskonzept geplant sei. Erschlossen werde die Wohnanlage über den Holzhofweg und eine Parkgarage am östlichen Eingang, so Architekt Leidl. Landschaftsarchitekt Harald Niederlöhner zeigte auf, dass sich der Versiegelungsgrad durch das neue Quartier gegenüber dem Bestand von früher, als hier eine Fabrik Essig und Ketchup produzierte, von 5677 auf 3596 Quadratmeter reduziere. Das Areal grenze an ein Flora-Fauna-Habitat-Gebiet. Drei Grünzonen seien erhaltenswert, Alternativ-Lebensraum für die Bechsteinfledermaus sei bereits am Schöpfwerk geschaffen worden.

Noch viele Hürden zu nehmen

Die Stadt muss noch einige Hürden nehmen, bis Baurecht geschaffen worden ist, berichtete Kölbl. Es gehe auch um den Immissionsschutz vor Lärm durch das nahe Schöpfwerk (temporär werden bei Hochwasserkrisen die Grenzwerte überschritten), den Stellplatznachweis auf dem Gelände (bisher sind nur 49 Parkflächen für mögliche 63 Wohnungen dargestellt), die Regenwasserentsorgung, Fluchtwege und die Gestaltung der Freianlagen. Doch die größte Herausforderung ist die Lösung der Verkehrsprobleme, zeigte die Veranstaltung deutlich. Der Unmut der Anlieger ist groß: „So kann das nicht funktionieren“, war mehrfach zu hören.

Trotzdem: Bürgermeister Kölbl versprach den Anliegern, ihre Sorgen würden „sehr, sehr ernst genommen“ und Lösungen erarbeitet. Und Dritte Bürgermeisterin Edith Stürmlinger zeigte sich überzeugt: „Es wird nicht so schlimm werden, wie Sie befürchten.“ Der nahe Busbahnhof motiviere viele Bewohner sicherlich dazu, den Pkw stehenzulassen und neue Formen der Mobilität auszuprobieren. So sieht es auch Isabella Hilger, wohnhaft am Marienplatz in Wasserburg. Sie warb abschließend dafür, „die großartige Chance, bezahlbaren Wohnraum in der Stadt“ zu schaffen, nicht zu zerreden. Es sei auch eine Möglichkeit, eine neue Mobilität zu fördern: etwa in dem Anreize geschaffen würden, auf das Auto zu verzichten.

Chronologie des neuen Wohnquartiers „Ehemalige Essigfabrik“

ab 2015: Verfolgung des Ziels, neues Baurecht zu schaffen

2018: Essigfabrik schließt

2016 bis 2018: Stadt erstellt das Integrierte Städtebauliche Entwicklungskonzept (ISEK), das für das Gelände der ehemaligen Essigfabrik ein Wohngebiet vorschlägt

2021: Kulturelle Zwischennutzung durch den AK 68: Street-Art-Projekte

2022: Städtebaulicher Ideenwettbewerb: Büro Kohlmayer-Oberst aus Stuttgart siegt, Änderung des Flächennutzungsplanes: Areal wird zum allgemeinen Wohngebiet, Aufstellungsbeschluss zum Bebauungsplan

2023: Brachfläche, Verkehrsuntersuchung

2024: Vorentwurf für den Bebauungsplan Nummer 52 „ehemalige Essigfabrik“ wird im Stadtrat gebilligt, Bürgerinformationsveranstaltung (vorgezogene Anliegerbeteiligung)

Weitere Schritte 2024: Konzeptvergabe ab Mitte Juli bis Ende 2024

Bauende: vermutlich 2030

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