Exklusiv-Interview
Weniger Wohlstand für Oberbayern ohne Brenner-Nordzulauf? IHK-Experte spricht Klartext
Die Wirtschaft schwächelt. In Krisenzeiten setzen Experten Hoffnung in die europäische Zusammenarbeit. Wie wichtig ist der Brenner-Nordzulauf für die EU? Und hängt die Wirtschaft in der Region Rosenheim von Bahngleisen ab? Dr. Korbinian Leitner von der IHK München-Oberbayern hat eine klare Meinung.
Rosenheim/München – Die wichtigste Nord-Süd-Achse Europas soll noch leistungsfähiger werden. Womöglich schon ab 2032 erleichtert der Brenner-Basistunnel den Alpentransit. Die Arbeiten jedenfalls sind weit vorangeschritten. Währenddessen wird in Bayern diskutiert. Über die Notwendigkeit eines Brenner-Nordzulaufs. Brauchen wir ihn in Gestalt einer Neubau-Trasse?
Die Meinung der Industrie- und Handelskammer München und Oberbayern als Anwalt der Wirtschaft in der Region ist klar: Der Brenner-Transit ist wichtig. Und ohne neuen Nordzulauf droht in Bayern ein Engpass, der auch die Region Rosenheim teuer zu stehen kommen könnte. Warum, das erklärt für Deutschlands größte Wirtschaftskammer Verkehrsexperte Dr. Korbinian Leitner.
Aus Sicht der Wirtschaft: Brauchen wir den Brenner-Nordzulauf?
Korbinian Leitner: Eindeutig ja.
Sie sagen das so kategorisch. Warum?
Leitner: Die bayerische und die italienische Wirtschaft sind eng miteinander verwoben. Die hiesigen Unternehmen haben seit Generationen bestehende Verbindungen und Verträge mit Partnerfirmen in Oberitalien und in Südtirol. Die kann man nicht einfach austauschen. Das sind etablierte Handelsbeziehungen, die uns auf dem Weltmarkt profitabel werden lassen. Wir dürfen uns doch nicht als Konkurrenten sehen. Wir produzieren gemeinsam innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums und sind nur gemeinsam konkurrenzfähig.
Aber man braucht dazu extra einen unglaublich aufwändigen Nordzulauf? Könnte man nicht die bestehende Strecke ertüchtigen?
Leitner: Die Bestandsstrecke ist leider nicht ausreichend. Der Brenner-Basistunnel ist Teil eines Korridors von Skandinavien bis zum Mittelmeer. Das ist ein europäischer Verkehrsweg. Und dieser Korridor ist auf vier Gleise angelegt. Auch künftig werden wir vier Gleise haben, zwei durch den Tunnel und zwei über den Brennerpass. Hören Sie sich bei Spediteuren um. Die sagen schon jetzt, dass es kaum genügend Slots auf der Schiene mehr gibt. Wenn wir also den Verkehr auf die Schiene verlagern wollen, brauchen wir auch Kapazitäten auf der Schiene. Die Autobahn wird für den Schwerverkehr ohnehin immer enger. Da sind all die Fahrverbote in Tirol. Und jetzt kommen auch noch jede Menge Baustellen dazu, für die nächsten zehn, zwanzig Jahre. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als auf die Schiene zu gehen. Diese Kapazitäten des Brenner-Basistunnels können wir nur nutzen, wenn der Tunnel einen leistungsfähigen Anschluss hat.
Mit welchem Zuwachs beim Transport von Gütern ist denn zu rechnen?
Leitner: Die drei Nationalstaaten Deutschland, Österreich und Italien haben gemeinsam eine Prognose für den Brennertransit erstellt. Sie sind auf den Internetseiten der sogenannten Brenner Corridor Plattform abrufbar. Auf dieser Basis sind und werden die Entscheidungen zu Planungs- und Baumaßnahmen getroffen. Gemäß dieser Prognose ist im Güterverkehr bis zum Jahr 2030 mit einer Steigerung des Transportvolumens auf der Schiene um 53 bis 95 Prozent zu rechnen. Die Vorausschau bis 2040 geht sogar von Erhöhungen um bis zu 215 Prozent aus. Daraus geht eindeutig der Bedarf für die Viergleisigkeit hervor. Ich möchte ergänzen: Planung und Bau von Infrastruktur sind generell auf Jahrzehnte ausgelegt, hier geht es nicht um kurzfristige, konjunkturelle Schwankungen in der Wirtschaftsleistung.
Nun wird aber von kritischer Seite auch angemerkt, dass die Italiener mitnichten so weit sind, wie sie behaupten. Und dass sie den Zulauf im Süden über lange Strecken gar nicht vierspurig ausbauen.
Leitner: Das kann ich nicht nachvollziehen. Die Italiener investieren in den Tunnel mehrere Milliarden Euro. Und sie wissen, wenn sie da keinen entsprechenden Zulauf bauen, wird sich dieses Investment nicht lohnen. Für die italienische Seite ist völlig klar, dass dieser Südzulauf zwischen Verona und dem Südportal des Tunnels in Franzensfeste kommen muss.
Italien und Österreich hoffen auf Entlastung vom Straßenverkehr. Aber warum sollen die Menschen in der Region Rosenheim Grund für ein Projekt opfern, von dem vor allem die Nachbarn profitieren?
Leitner: Die Nachbarn profitieren, aber zuvorderst profitieren wir selbst. Wir in München und Oberbayern liegen historisch gesehen am Kreuzungspunkt von zwei großen Verkehrskorridoren, Ost-West und Nord-Süd. Wir haben großes Interesse daran, dass unsere Unternehmen einen guten Anschluss nach Italien haben. Wegen der intensiven Kontakte zu oberitalienischen Firmen. Und diese gemeinsame Wirtschaft funktioniert nur, wenn ein effizienter Gütertransport zwischen diesen Regionen möglich ist.
Welche Folgen befürchten Sie, wenn wir den Brenner-Basistunnel nicht zur Gänze ausnutzen?
Leitner: Bleiben wir bei der formalen Seite. Wir haben als Nation drei Verträge unterzeichnet, dass wir diesen Nordzulauf errichten. Die Nachbarn vertrauen darauf. Sie investieren in den längsten Eisenbahntunnel der Welt! Wir würden uns gegenüber unseren Nachbarn nicht nur blamieren, wir würden Verträge brechen. Österreich würde daraufhin die Fahrverbote weiter verschärfen, weiter Kapazitäten auf der Straße einschränken. In dem Moment, da der Tunnel eröffnet wird, wird Tirol uns dazu zwingen, auf die Schiene zu gehen.
Dann konsumieren wir weniger. Dann gibt es weniger Verkehr und weniger Notwendigkeit, neue Gleise zu bauen.
Leitner: Das sagen Sie mal Ihren Lesern. Wir sind in Europa nur deshalb profitabel, weil wir einen gemeinsamen Wirtschaftsraum haben und weil wir hier zusammenarbeiten. Das ist der Vorteil des europäischen Binnenmarktes. Nur deshalb können wir in der Welt bestehen. Und wir können nur dann kooperieren, wenn der Warenaustausch innerhalb unseres Wirtschaftsraums funktioniert. Zuverlässig, berechenbar und effizient. Daran hängt unser Lebensstandard. Und daran hängen in der Region Rosenheim viele Jobs.
Aber selbst wenn wir den Brenner-Nordzulauf haben: Irgendwie müssen die Güter ja auch auf die neuen Gleise gelangen, und da hapert es doch bislang sehr, oder?
Leitner: Das ist richtig. Bayern braucht zusätzliche Terminalkapazitäten. Und es wird bereits investiert. Einerseits wird der bisherige Rangierbahnhof in München-Nord zu einem zweiten Terminal ausgebaut. Daneben haben wir in München-Riem ein leistungsfähiges Terminal, das in konjunkturell guten Zeiten allerdings ans Limit stößt. Zusätzlich haben wir das Terminal in Regensburg. Dort hat jüngst im Oktober Helrom den Betrieb aufgenommen, eine Firma, die zeigt, wie man in einem sehr einfachen Verfahren Sattelauflieger auf die Schiene bringt. Ein revolutionäres Verfahren.
Inwiefern?
Leitner: Es ist eine sehr einfache Lösung. Die Waggons schwenken aus, und mit einer einfachen Zugmaschine können die Sattelauflieger eingeschoben werden, sehr schnell und ohne zusätzliche Technologie wie zum Beispiel einen Portalkran.
Warum hört man in Deutschland so wenig von den Vorteilen des Brenner-Basistunnels?
Leitner: Es stimmt, dass die Skepsis überwiegt. Wir als Wirtschaft haben uns zum Ziel gesetzt, für den Bau zu werben und die Vorteile des Nordzulaufs sowie der neuen Brenner-Strecke zwischen München und Verona hörbar zu kommunizieren. Zum Beispiel, indem wir deutlich machen, wie sehr der Wohlstand unserer Region an dieser Verkehrsachse hängt.
Die Südtiroler behaupten, es gebe bei ihnen weniger Widerstand gegen das Projekt eines Brenner-Zulaufs. Weil die Politik ihre Arbeit besser gemacht, besser geworben und diskutiert habe. Ist da was dran?
Leitner: Ich kann es mir vorstellen. Als Südtiroler sieht man ohnehin die Notwendigkeit der Verlagerung auf die Schiene vor der Haustür. Weil die Täler dort noch enger sind als bei uns. Gleichzeitig ist die Politik bei uns in der Verantwortung zu erläutern, warum es diesen Tunnel und diesen Nordzulauf braucht. Und welche Vorteile dieser Anschluss auch für die hiesige Wirtschaft hat.
Politische Versäumnisse gibt es auch bei der Infrastruktur für die Bahn. Taugt die Schweiz dagegen als Vorbild?
Leitner: Was man sich allemal als Vorbild nehmen könnte, ist die Stabilität im Investment. Seit Jahrzehnten investiert die Schweiz einen deutlich höheren Betrag pro Kopf ins Schienennetz. Und das funktioniert ziemlich gut. Genau zu dieser Verlässlichkeit wollen wir auch in Deutschland – ohne die ebenfalls nötigen Investitionen in die Straße zu vernachlässigen.
