Schon 1995 in Rosenheim diskutiert
30 Jahre „Apfelsaft-Paragraf“: „Kann man streichen“ oder „weiterhin absolut sinnvoll“?
Aktuell wird über eine Empfehlung für ein Alkohol-Werbeverbot diskutiert. Vor 30 Jahren wiederum wurde der „Apfelsaft-Paragraf“ eingeführt. Damals auch mit Befürwortern in Rosenheim. Seitdem muss in Gaststätten mindestens ein alkoholfreies Getränk höchstens genauso teuer wie das billigste alkoholhaltige Getränk sein. Wir blicken an Hand eines Zeitungsberichts von damals darauf zurück und haben sowohl beim Gaststättenverband als auch Suchthilfeexperten nachgefragt: Braucht es diese Regelung noch oder ist sie überholt?
Rosenheim - „Wir finden das neue Gesetz sehr gut. Ich glaube, dass sich dadurch etwas ändert“, zitiert das OVB in seiner Ausgabe vom 1. Februar 1995 zwei Teilnehmer einer Straßenumfrage in der Rosenheimer Innenstadt. „Ich wollte schon seit Jahren, dass so ein Gesetz eingeführt wird. Die Politiker haben das viel zu lange versäumt. Die jungen Leute wurden richtig zum Alkohol getrieben“, wird ein weiterer zitiert. Ein dritter: „Das Gesetz bringt bestimmt etwas. Das Billigste in den Lokalen war bisher ein Weißbier, das trinkt man. So einen großen Geldbeutel haben Jugendlichen nicht.“ Die Rede ist von einem damals jüngst in Kraft getretenen Reform des Gaststättengesetzes, heutzutage auch bekannt als „Apfelsaft-Paragraf“. Seitdem muss in Gaststätten mindestens ein alkoholfreies Getränk höchstens genauso teuer wie das billigste alkoholhaltige Getränk sein.
Zwar könnten Restaurant-Betreiber die Regelung einfach umgehen, in dem sie beispielsweise unübliche Getränke wie Milch oder Tee in ihre Speisekarte mitaufnehmen. Doch auch hier schiebt der Apfelsaft-Paragraf einen Riegel vor: Gaststätten sind verpflichtet, ein „attraktives, dem üblichen Nachfrageverhalten angepasstes Getränk“ anzubieten. Apfelsaft ist ein solches Getränk, was auch den umgangssprachlichen Namen des Paragrafen erklärt, wie unser Partnerportal merkur.de erläutert. Ende 2021 wurde das Gesetz um den Zusatz „in gleicher Menge“ ergänzt. So soll verhindert werden, dass Gastronomen unattraktive Mengen eines Getränks anbieten. Wenn Cola beispielsweise nur in Literflaschen erhältlich ist, könnte dieses zwar genauso teuer sein wie das billigste alkoholische Getränk. Aber die wenigsten Gäste wollen eine so große Menge auf einmal bestellen.
Schon 1995 in Rosenheim diskutiert: 30 Jahre „Apfelsaft-Paragraf“: „Kann man streichen!“ oder „weiterhin absolut sinnvoll!“
Die Junge Union (JU) sei unterdessen sogar noch einen Schritt weiter gegangen, erfahren wir aus dem Bericht von vor 30 Jahren: „Im Herbst letzten Jahres starteten sie ihre Aktion ‚spritzig, billig, nüchtern‘, mit dem Ziel, dass sich die Rosenheimer Wirte freiwillig dazu bereiterklären, mindestens ein alkoholfreies Getränk billiger anzubieten als das billigste alkoholhaltige Getränk bei gleicher Menge.“ Der damalige JU-Vorsitzende Georg Kaffl junior wird zitiert: „In Diskotheken und Cafés sind alkoholhaltige Getränke wesentlich billiger als alkoholfreie. Nach unseren Beobachtungen kostet ein halber Liter Mineralwasser in einer Rosenheimer Disco 10,80 Mark, eine Halbe Bier dagegen nur 6,50 Mark.“ Deshalb seien sie in 25 Discos, Kneipen und Cafés in Rosenheim gegangen, um die Gastwirte von ihrer Aktion zu überzeugen.
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Nur zwölf Gaststätten hätten sich freiwillig an der Aktion beteiligt. „Um die Jugendlichen zu informieren, in welchen Gaststätten sie ein alkoholfreies Getränk billiger erhalten als ein alkoholhaltiges, und um die anderen Wirte zum Mitmachen zu bewegen, ließ die Junge Union 5000 Karten mit den Namen der teilnehmenden Gaststätten drucken.“ Skepsis gäbe es unterdessen seitens des Hotel- und Gaststättenverbands (DEHOGA): „Das neue Gesetz ist für uns eigentlich nicht von Bedeutung“, wird dessen damaliger Pressesprecher Erich Ergenzinger wiedergegeben, „Alle unsere Mitglieder bieten schon seit mindestens 15 Jahren ein alkoholfreies Getränk zumindest zum gleichen Preis wie Bier an.“ Seiner Meinung nach hätte man sich das Gesetz sparen können, wenn es nicht ein paar „schwarze Schafe“ gäbe.
„Bin Verfechter freier Marktwirtschaft“
30 Jahre später sieht den Paragrafen auch DEHOGA-Landesgeschäftsführer Thomas Geppert kritisch: „Für mich ist er eine Regelung, die man sicherlich streichen könnte, denn ich bin ein Verfechter einer freien Marktwirtschaft, in der nicht alles bis ins letzte Detail geregelt sein muss. Der Pro-Kopf-Konsum von alkoholischen Getränken ist in Deutschland ohnehin kontinuierlich rückläufig, demnach würde sich jeder Wirt ins eigene Fleisch schneiden, wenn er das, was stärker gefragt wird, teurer anbietet. Wir leben außerdem mit Kommunikationskanälen wie Social Media und Online-Bewertungsportalen in einer Zeit, in der der öffentliche Druck auf einen Wirt sehr schnell sehr hoch werden würde, wenn er versuchen würde, Kinder ‚abzuzocken‘. Weiterhin kommen immer mehr alkoholfreier Getränkevariationen auf den Markt, nach Bier aktuell im Bereich Weine, Spirituosen und Cocktails, dementsprechend wäre es bei stark steigendem Angebot marktwirtschaftlich schlichtweg nicht logisch ein immer mehr zur Verfügung stehendes Angebot teurer zu machen.“
„Wenn es wirklich jemand gäbe, der alkoholhaltige Getränke günstiger als ein alkoholfreies anbietet, hat man allein in Bayern 35.000 andere Möglichkeiten etwas Trinken zu gehen“, so Geppert, „Allerdings möchte ich anmerken, dass wir in Bayern das deutsche Gaststättengesetz anwenden, weil es noch kein eigens bayerisches Gaststättengesetz gibt. Wenn keine besonderen Vorteile durch ein eigenes Gesetz entstehen, braucht man das auch nicht zwingend. Im Zuge eines solchen Landes-Gesetzes würde der Paragraf vermutlich sicherlich aus den genannten Gründen herausfallen. Eine Abschaffung im deutschen Gaststättengesetz wird es nicht geben, da das Gaststättenrecht wie gesagt föderalisiert wurde und daher an dem Gesetz nichts mehr geändert werden kann, da die Gesetzgebungshoheit jetzt bei den Ländern liegt.“
„Sollte alkoholfreie Varianten fördern“
„Wir finden diesen Paragrafen weiterhin absolut sinnvoll“, hält Ludwig Binder, Diplom-Sozialpädagoge und Geschäftsführer der Präventions- und Suchthilfeeinrichtung „neon“ in Rosenheim dagegen. Der systemische Paar- und Familientherapeut und psychoanalytische Sozialtherapeut Sucht leitet die Beratungs- und Behandlungsstelle von „neon“. Erst vor kurzem hatte sich sein Mit-Geschäftsführer Benjamin Grünbichler zur Frage eines Alkohol-Werbeverbots im Gespräch mit den OVB-Heimatzeitungen geäußert. Wie auch Grünbichler betont er, dass es keine „gesunde“ oder „sichere“ Menge an Alkohol gäbe. „Man sollte es also auf jede mögliche Weise fördern, alkoholfreie Alternativen zu haben.“
„Wie auch beim Alkohol-Werbeverbot gilt: Wir fordern keine Prohibition, kein absolutes Verbot von beispielsweise Alkohol. Aber genau so, wie beispielsweise Cannabis sollte seine Abgabe genau geregelt sein. Und wie viel etwas kostet, ist am Ende des Tages ein Argument für Konsumentscheidungen“, betont Binder, „Ja, der Konsum von Alkohol nimmt bei jungen Leuten ab und es gibt sogar einen Trend hin zu vollkommener Abstinenz. Aber jedes kleine bisschen. Wie gesagt: Nicht hin zu einem totalen Verbot der Abgabe und des Konsums. Aber zu Konsum in gewissen Maßen statt Massen.“ (hs)