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Geologe stuft im Gespräch Risiken ein

Nach Felssturz in Abtenau: Sind Geogefahren vorhersehbar? „Auch hier bei uns jederzeit möglich“

Auf einer Straße in Abtenau ist Dacia mit einem ein rund zehn Tonnen schwerer Fels kollidiert. Auf dem Landtalsteig im Nationalpark Berchtesgaden kam es im Frühjahr 2019 zu einem Felssturz, der den kompletten Weg versperrte.
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Die Felsstürze in Abtenau (linke Bilder) oder beim Landtalsteig im Nationalpark Berchtesgaden aus dem Frühjahr 2019 (rechts) zeigen wie Zerstörungskraft solcher Ereignisse.

Vermutlich war es der Bruchteil einer Sekunde, der beim Felssturz in Abtenau im Salzburger Land (25. Februar) über Leben und Tod entschied. Am Tag darauf teilte das Land Salzburg mit, dass von der Abbruchstelle keine akute Gefahr ausgehe. Doch: Wie sicher sind solche Gutachten? Welche Schutzmaßnahmen gibt es? Und: Nehmen solche Ereignisse aufgrund des Klimawandels zu? Fragen, die wir dem Geologen Stefan Kellerbauer aus Marktschellenberg gestellt haben. Manche Antwort fällt überraschend unangenehm aus.

Marktschellenberg - Wäre der rund zehn Tonnen schwere Felsblock bei Abtenau nur ein Ticken später auf die B162 geflogen, die beiden Insassen des Dacia hätten das Unglück wohl nicht überlebt. Trotzdem machte der folgenschwere Unfall erschreckend deutlich, wie schnell und unvorhersehbar Stein- und Blockschläge oder Felsstürze passieren. Vor allem, weil sich kurz darauf ein ähnlich dramatischer Vorfall in Südtirol ereignete. Am Tag danach teilte das Land Salzburg mit, dass der Geologe Ludwig Fegerl die Abbruchstelle untersucht und Entwarnung gegeben habe. Der Felssturz sei unvorhersehbar gewesen und auch das Wetter habe keinen unmittelbaren Einfluss darauf genommen. Unweigerlich keimen in einem die Fragen auf: Wie verlässlich ist ein solches Urteil? Wie werden Geogefahren untersucht? Und gibt es so etwas wie eine 100-prozentige Sicherheit?

Der Geologe und Geotechniker Stefan Kellerbauer aus Marktschellenberg kennt sich bestens damit aus. Seine Expertise und Erfahrung werden in ganz Bayern und Österreich für Standsicherheitsberechnungen in Salzbergwerken nachgefragt. Darauf hat er sich eigentlich spezialisiert, doch er nimmt auch immer wieder Aufträge von Behörden oder dem Nationalpark Berchtesgaden entgegen. Zum Beispiel im Herbst 2021 begutachtete er einen instabilen Felsblock in Schönau am Königssee, der eine erhebliche Gefahr darstellte.

Hier löste sich der Fels bei Abtenau und stürzte in die Tiefe.

Spurensuche beim Steinschlag

Oder er schreibt Gutachten im privaten Umfeld: Etwa, wenn es um Bauvoranfragen für Neubauten geht, die im Wirkungsbereich einer Geogefahr liegen. Das läuft dann so ab: Kellerbauer nimmt das Gelände und das Umfeld genauer unter die Lupe. Dabei achtet er beispielsweise auf einen aktiven Steinschlag. Das bedeutet aber nicht, dass er stundenlang einen Hang beobachtet, ob sich dort Steine lösen. „Mit einem geschulten Auge und der nötigen Erfahrung erkennt man zum Beispiel Einschlagmerkmale an Bäumen, zum Beispiel wenn die Rinde abgesplittert ist. Man erkennt auch, wie frisch diese Spuren sind“, schildert der Geologe. Es ist vergleichbar mit Detektivarbeit, könnte man auch sagen.

Der Geologe Stefan Kellerbauer mit seinem Hund auf Wandertour.

Außerdem achtet er darauf, ob es sich um kleine oder große Steine handelt und wie weit von der Abbruchstelle entfernt die äußersten Exemplare liegen. „Sie könnten natürlich auch noch weiter fallen oder rollen, aber: Wir gehen immer vom Normalfall aus, also von den Steinen, die schon da liegen.“ Und genau hier tritt schon die erste Problematik auf: Schutzmaßnahmen werden immer an ein mögliches Ereignis angepasst, das einem Normalfall entspricht. Kellerbauer: „Man kann nicht das denkbare schlechteste oder größte Ereignis als Grundlage auswählen, sonst gibt es in den Bergen keine Wanderwege oder Straßen mehr.“ Ein Restrisiko für den denkbar ungünstigsten Fall wird es also immer geben.

Mahnende Beispiele gibt es genügend

Neben der Gravitation - ab einer gewissen Neigung braucht es neben der Gravitationskraft keinen weiteren Auslöser für Steinschlag, Felssturz und Bergsturz (Gravitative Massenbewegungen) - spielt die Topografie eine wichtige Rolle. Dem Geologen zufolge fange das Material ab einer Geländeneigung von circa 30 Grad an, sich von selbst zu bewegen. „Das ist aber nicht vorhersehbar“, betont er. Zur Verdeutlichung erwähnt er den Felssturz bei der Felbertauernstraße in Österreich aus dem Jahr 2013 und sagt: „Wenn sich im Wald ein Fels löst und 200, 300 Höhenmeter nach unten rauscht, eine Schneise durch die Bäume schlägt und immer mehr Geröll in Richtung Straße rutscht: Wie soll man so etwas beurteilen und vorhersehen? Das geht nicht, da müssten wir hier bei uns im Talkessel alles bis zum Hohen Göll absperren.“

Eine 100-prozentige Sicherheit werde es nie geben, auch wenn mit gezielten Maßnahmen durchaus das meiste verhindert werden könne. Steinschlagbarrieren oder andere technische Maßnahmen kommen immer dann infrage, wenn es um ein Bestandsgebäude geht. „Es gibt aber die Philosophie, diese nicht bei Neubauten anzuwenden“, erklärt der Marktschellenberger. Der Grund: die notwendige ständige Wartung, die sich, wenn sie allmählich vernachlässigt wird, auf lange Sicht zu einem unkalkulierbaren Sicherheitsrisiko entwickeln würde.

Zeit, um in Ruhe die besten Optionen auszuloten

Bei Wanderwegen oder Klettersteigen gelte der Grundsatz: je steiler, desto größer das Risiko. Hier sind die Eigentümer des Geländes, zum Beispiel der Nationalpark, für die Sicherheit verantwortlich - so gut es eben geht. Kellerbauer zufolge würden sich immer mal wieder Wegpassagen herauskristallisieren, die anfälliger sind für Steinschläge. „Die sicherste Methode ist immer, zuerst den Weg zu sperren. Das verschafft den Verantwortlichen Zeit, in Ruhe die besten Optionen auszuloten.“ Der Weg kann entweder verlegt werden, um den Gefahrenbereich zu umgehen. Oder einmal im Jahr wird loses Material, dass auf den Weg oder Steig stürzen könnte, abgetragen.

Steinschlag, Felssturz, Bergsturz

Dem Bayerischen Landesamt für Umwelt (LfU) zufolge liegt die besondere Gefahr von Sturzereignissen darin, dass sie plötzliche und ohne Vorwarnung auftreten. Gleichzeitig entsteht durch die hohe Geschwindigkeit der Einsturzmasse am Einschlagsort eine große Energie.

Sturzereignisse werden folgendermaßen kategorisiert: Von einem Steinschlag spricht man bei einer Masse von bis zu zehn Kubikmetern. Darüber hinaus ist von einem Felssturz die Rede. Als seltene, hochdynamische Ereignisse mit über eine Million Kubikmeter bewegtem Material werden Bergstürze bezeichnet.

Der Umweltatlas

Das Gleiche gilt auch für Straßen: „Das Absperren ist einfach, aber wie geht es dann weiter?“ Der Geologe nennt mehrere Möglichkeiten: die Gefahrenstelle oder den abbruchgefährdeten Bereich an Ort und Stelle verankern, zum Beispiel durch Felsanker oder Sicherungsnetze. Messgeräte könnten ebenfalls zum Einsatz kommen, um Bewegungen im Gestein zu überprüfen. Die betroffene Straße ließe sich dann via Ampelschaltung sperren, sollte sich etwas andeuten. Auch sogenannte Schutzgalerien, wie sie häufiger in der Schweiz und Österreich anzutreffen sind, wären eine Variante, den Verkehr zu schützen.

Im Frühjahr 2019 ereignete sich ein Felssturz beim Landtalsteig im Nationalpark Berchtesgaden. Rechts ist die Abbruchkante deutlich zu erkennen.

Warum Sprengen und Abtragen die Lage verschlimmern kann

Für Kellerbauer ist das „Sprengen die schlechteste Option“. Früher sei diese Methode häufiger angewendet worden, doch es stelle sich oft heraus, dass dadurch die Lage nicht wesentlich verbessert werde. Auch das Abtragen von gelockertem Fels könne das Gegenteil bewirken und die Situation eher noch verschlimmern. „Manchmal ist es auch nur ein einzelner Block oder Stein, der sich löst, und der Rest sitzt sicher. Man weiß es nie so ganz genau.“

Natürlich könnte auch eine Straße komplett gesperrt werden oder, ähnlich wie bei einem Weg, verlegt werden. „Die Straßenbaulasträger nehmen aber in der Regel die Varianten, die weniger teuer und weniger unbeliebt sind“, so Kellerbauer. Grundsätzlich findet er aber, dass die „Behörden mehr als genug tun, um für die Sicherheit zu sorgen“. Es sei schlussendlich natürlich immer eine Budget- und Kapazitätenfrage, aber: „Die nehmen das Thema sehr ernst und sind alles andere als untätig oder schlampig.“

Übergriffiges Verhalten?

Im Gegenteil, von manchen Privatpersonen werden die rechtlichen Vorgaben manchmal schon als übergriffig empfunden, wie er aus seiner Arbeit als Gutachter weiß. „Die meisten finden diese Konsequenz so lange gut, bis sie mal selbst von behördlichen Vorgaben betroffen sind. Manchen wäre es lieber, wenn da mal ein Auge zugedrückt wird, ganz nach dem Motto: Da wird schon nichts passieren.“

Natürlich kosten diese Maßnahmen einiges, aber: Ein Menschenleben ist unbezahlbar.

Stefan Kellerbauer

Für den Geologen steht fest, dass in puncto Sicherheit nie genug getan werden kann. „Natürlich kosten diese Maßnahmen einiges, aber: Ein Menschenleben ist unbezahlbar.“ Im Extremfall muss er in seinem Gutachten festhalten, dass an dem geplanten Ort lieber nicht gebaut werden sollte - eine Empfehlung, die natürlich nicht immer gut ankommt.

Der letzte größere Bergsturz der Region

Kleinere Ereignisse sind schwieriger vorherzusagen - je nachdem, wie groß die Datenlage ist und das Interesse daran, sie vorherzusehen. Das hängt auch davon ab, wo sie stattfinden: in einem bewohnten Gebiet oder mitten im Nirgendwo in der unberührten Natur. Auch ein Bergsturz kann in tektonisch aktiven Gebieten aus dem Nichts heraus stattfinden. Manche kündigen sich dagegen über einen längeren Zeitraum an. Der letzte größere Bergsturz in der Region ereignete sich im September 1999 im Nationalpark Berchtesgaden. Schon Wochen und Monate zuvor warnte der Berggipfel seine Umgebung, wenn man es so ausdrücken will.

Am Fuße der Mühlsturzhörner im Klausbachtal sind die Spuren des Felssturzes deutlich zu erkennen. Beim mittleren Gipfel sieht man oben den gelben Bereich – hier ist der Gipfelaufbau ausgebrochen.

„Wanderer und Kletterer, die am Kleinen Mühlsturzhorn unterwegs waren, berichteten davon, dass sich die Routen veränderten, Sicherungsmittel fehlten oder lose wurden“, erinnert sich Kellerbauer. Damals brach im Gipfelbereich Gestein ab, über 200.000 Kubikmeter stürzten ins Klausbachtal. Er fuhr im Nachhinein extra mit Kollegen in den Nationalpark, um sich die Auswirkungen vor Ort aus nächster Nähe anzuschauen: nicht als Sensationstourist, sondern als Geologe.

Drohende Katastrophe im Allgäu

Bergstürze kommen sehr selten vor, aber auch in Zukunft sind sie nicht auszuschließen. In etwas größere Entfernung gibt es im Allgäu mit dem Hochvogel sogar ein sehr aktuelles Beispiel. Ein Szenario, das im Berchtesgadener Land genauso wie im benachbarten Chiemgau eher unwahrscheinlich ist. Die Wahrscheinlichkeit einer großen Permafrostverbreitung in der Region ist laut dem Umweltatlas des LfU gering. Größere Felsstürze und Steinschläge an markanten Gipfeln sind dennoch nicht auszuschließen. „Wie entsteht eine Felswand? Eine Seite bricht ab“, verdeutlicht der Marktschellenberger. Es sei auch am Watzmann ein Felssturz oder ein größeres Ereignis möglich. Eine Aussage, die auch für andere Berge gelte.

Kellerbauer geht davon aus, dass es vor allem im Zusammenspiel mit Starkregenereignissen häufiger zu einer Überschwemmung, einer Hangbewegung oder einem Erdrutsch kommen könnte. „Die Klimamodelle sagen für unsere Region nicht mehr Regen, sondern mehr solcher Extremereignisse voraus.“

„Die meisten Vorfälle bekommt niemand mit“

Aber Vorsicht, der Anschein kann auch trügen: Vielleicht werden mehr Ereignisse bekannt, weil es ein größeres Bewusstsein dafür gibt oder weil häufiger Schadensfälle bei Versicherungen aktenkundig werden. Kellerbauer ordnet ein: „Das Entscheidende ist ja: Die meisten dieser Vorfälle bekommt niemand mit, weil sie irgendwo in der abgelegenen Natur passieren. Wir Experten tauschen uns vielleicht untereinander aus oder wissen, wie wir die Spuren entsprechend zu deuten haben.“

Die meisten dieser Vorfälle bekommt niemand mit, weil sie irgendwo in der abgelegenen Natur passieren.

Stefan Kellerbauer

Die Wahrnehmung von Geogefahren in Deutschland gibt es Kellerbauers Empfinden nach erst seit 15 bis 20 Jahren. Zu seiner Studienzeit an der TU München von 1982 bis 1988 habe es Gefahrenhinweiskarten noch nicht gegeben. Das Bewusstsein kam erst in Verbindung mit Ereignissen wie dem Bergsturz in der Gemeinde Randa in Zermatt (Schweiz). Überhaupt seien die Schweizer bei diesem Thema deutlich weiter und fortschrittlicher. „Das liegt natürlich auch daran, dass sie damit viel mehr konfrontiert werden.“

„Vorfall wie in Abtenau auch hier bei uns jederzeit möglich“

Grundsätzlich gilt: Die Topografie ist entscheidend. Je steiler, größer und extremer, desto anfälliger sind manche Standorte. „Natürlich gibt es Gestein, das mehr oder weniger für einen Abbruch prädestiniert ist. Unterm Strich ist es aber Zufall: Ein Vorfall wie in Abtenau ist auch hier bei uns jederzeit möglich. An einer steilen Wand wird es immer gefährlich sein.“

Kellerbauers persönlicher Meinung nach spielt auch eine gesellschaftliche Entwicklung, die „All-Inclusive-Mentalität“, eine Rolle. Er sei in den Bergen aufgewachsen, sein Vater war Bergführer. „Da lernt man, mit Gefahren umzugehen und die Situationen richtig einzuschätzen. Wenn das Wetter nicht passt oder es zu spät am Tag ist, dann geht man besser einfach nicht mehr wandern oder den Klettersteig hoch.“ Seinem Gefühl nach fehle es immer häufiger am Bewusstsein dafür. Stattdessen werde sich darauf verlassen, dass schon jemand für die Sicherheit sorgt oder man im Notfall von jedem beliebigen Aufenthaltsort mit dem Handy die Bergwacht anrufen kann.

Der Geologe findet: „Die Gesellschaft muss nicht jedes Individuum vor jeder denkbaren Gefahr schützen. Man muss auch auf sich selbst aufpassen.“

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