„Viele Touren nicht mehr so möglich, wie vor 20 Jahren“
Wenn der Kitt der Berge schmilzt: Das Felssturz-Risiko in den Alpen steigt
Steinschlag, Felssturz, Gletscherbruch: Für Alpinisten wird der Weg zum Gipfel zunehmend zum Risiko - weil der Kitt der Berge schmilzt. Der Alpenverein mahnt, diese Gefahr bei der Tourenplanung zu berücksichtigen. Und manche Wege sind bereits gar nicht mehr begehbar.
München – Allein schon die Bilanz dieses Sommers ist alarmierend. Mitte August: Drei Münchner Alpinisten kommen bei einer Klettertour im Kaisertal gerade noch mit dem Leben davon. Sie wurden von teils fußballgroßen Steinen getroffen. Anfang August: Ein gewaltiger Felssturz trifft im Mont-Blanc-Massiv zwei Seilschaften. Er kostete zwei Alpinisten das Leben, die anderen wurden schwer verletzt. Ebenfalls Anfang August: In den Hohen Tauern gerät ein Österreicher auf 3000 Metern in einen Steinschlag und wird schwer verletzt.
DAV mahnt, erhöhtes Risiko zu berücksichtigen
Felsstürze, Gletscherbrüche, Steinschläge – das Risiko für Alpinisten steigt. Das zeigt auch die jüngst veröffentlichte Unfallstatistik des Deutschen Alpenvereins (DAV). Mittlerweile gehen neun Prozent aller Unfälle der DAV-Mitglieder beim Bergsteigen und Hochtourengehen auf Stein- und Eisschlag zurück. Eine der Hauptursachen: Der schmelzende Permafrost, der viele Berge wie ein Kitt zusammenhält. Der DAV mahnt dringend dazu, dieses erhöhte Risiko bei der eigenen Tourenplanung zu berücksichtigen.
Auf dem Weg zum Gipfel bekommen viele Alpinisten die neuen Bedingungen schon zu spüren. „Wir steigen hier über einen gewaltigen Schutthaufen zum Gipfel des Zuckerhütl“, klagt Sophie Mayer aus Kolbermoor bei Rosenheim. Sie ist Mitglied einer Vierer-Seilschaft, die kürzlich den höchsten Berg (3507 Meter) der Stubaier Alpen bestieg. Der Aufstieg ist stark steinschlaggefährdet. Einheimische Bergführer meiden inzwischen den Hauptgipfel. „Die Steinschlaggefahr ist einfach zu groß“, berichten ortsansässige Alpinisten.
„Viele Touren nicht mehr so möglich, wie vor 20 Jahren“
„Aufgrund des Rückgangs der Gletscher und des Permafrosts sind viele Zustiege und Touren nicht mehr so möglich, wie sie vor 20 Jahren waren“, weiß Walter Zörer, Präsident des Verbandes der Österreichischen Berg- und Skiführer. Auch der Normalweg auf den Großglockner wurde bereits verlegt. Sogar das berühmte Matterhorn wird aufgrund des auftauenden Permafrostes regelmäßig komplett gesperrt, so Thomas Wanner vom Österreichischen Alpenverein. Kaum mehr möglich ist im Sommer auch die Normalroute auf den Mont Blanc, sie ist zu gefährlich. Sophie Mayer und ihre Seilschaft wichen auf den Westgipfel des Zuckerhütls aus. Der Aufstieg ist sicherer, allerdings ein paar Meter niedriger, aber immer noch 3500 Meter hoch.
Bei dem Marmolata-Unglück in Südtirol im vergangenen Sommer waren es vor allem die konstant hohen Temperaturen und die dadurch rasante Zunahme des Schmelzwassers im Inneren des Gletschers, die zum Abgleiten einer riesigen Eisschuppe führten. Unweit davon, am Ortler, bröselt bereits eine Berghütte auf 3269 Meter, das Rifugio Casati, gebaut auf einem Permafrostboden. Doch nachdem dieser schwindet, droht im nächsten Jahr der komplette Abriss des vierstöckigen Gebäudes. Denn das Fundament senkt sich im südlichen Teil der Traditionshütte. Die Ursache: Die Bodenmorphologie verschiebt sich, was das Fundament zunehmend in Mitleidenschaft zieht und offenbar einen Teil des Gebäudes zum Sinken bringt. Tiefe Risse an den Außenwänden entstanden, Fliesen im Inneren fielen von den Wänden, Türen schließen nicht mehr. Auch immer häufigere Felsstürze nähern sich dem Gebäude. Im Juni verschwand in Tirol ein Gipfel samt Gipfelkreuz von der Bildfläche. Mindestens 100.000 Kubikmeter Gestein stürzten vom Südgipfel des Fluchthorn-Massivs bei Galtür. Menschen kamen nicht zu Schaden.
Allgäuer Alpen: Gipfel des Hochvogels bricht zusehends auseinander
Ein ähnliches Szenario droht in den Allgäuer Alpen. Der Gipfel des 2592 Meter hohen Hochvogels bricht zusehends auseinander. Die Hälfte des Gipfels mit bis zu 260.000 Kubikmeter Fels wird unweit Oberstdorf ins Tal stürzen. Niemand weiß allerdings wann. Doch Michael Krautblatter hat den Hochvogel fest im Blick. Als Professor für Hangbewegungen der TU München hat er in den vergangenen Jahren den Gipfel komplett verkabelt.
Auf seinem Monitor sieht Krautblatter jede Bewegung des Gipfels, den ein immer breiter und tiefer werdender Spalt am Gipfelkreuz durchzieht. Momentan ist der Riss gut 40 Meter lang, acht Meter tief und drei Meter breit. Im Rahmen seines Projekts „AlpSenseBench“ brachten Krautblatter und seine Instituts-Mitarbeiter Sensoren am Berg an, die die Veränderungen „im hundertstel Millimeter-Bereich messen“, so der Forscher, der seit 2004 den schwindenden Permafrost beobachtet. „Der Hochvogel spaltet sich wirklich in der Mitte durch“. Kommt es zum „Worst-Case-Szenario“, vertraut Krautblatter auf seine Messstationen. „Womit wir rechnen, ist, dass kurz zuvor eine Beschleunigung passiert, das heißt, dass wir von einem Zentimeter pro Tag, einem Zentimeter pro Stunde reden. Und in dieser Zeit würden wir direkt noch mal warnen“.
Der Geologe ist sich sicher, dass der Südflügel des Gipfels irgendwann komplett abbrechen wird. Langzeitvorhersagen seien schwierig, aber „wir können zwei bis drei Tage vorher ziemlich gut sagen“, so Krautblatter, „ob und wie stark sich das Auseinanderdriften beschleunigt“.