Dahoam am Land - Die Familienkolumne von Andreas Reichelt, Folge 12
Wenn Kopfhörer die Stimme der Eltern rausfiltern - Familienleben 2.0
Das Essen steht auf dem Tisch. Ich allerdings stehe vor einer verschlossenen Zimmertür und klopfe. Erst sanft. Dann lauter. Ich rufe den Namen des darin lebenden Teenagers. Erst sanft. Dann lauter. Schließlich werde ich wütend. Nicht auf die Kinder, nein. Sondern auf all die blitzgescheiten Menschen, die Musik-Apps für Handys, Video-Player für Tablets und Bluetooth-Verbindungen für Kopfhörer entwickelt haben. Achso: Da wäre natürlich auch noch der Typ, der das „Noise Cancelling“ (deutsch: Geräuschunterdrückung) entwickelt hat. Ja, ist ja auch wichtig, dass der Kopfhörer Umgebungsgeräusche komplett herausfiltern kann. Wäre ja auch dumm, wenn die Kinder mal pünktlich zum Essen kämen.
Dahoam - Kennen Sie noch die Serie „Unsere kleine Farm“? Fernsehen ohne Blut, ohne schnelle Szenenwechsel und frei von Flackerlicht? Eine kleine Triangel auf der Veranda, eine Mama, die sanft dagegentippt und die Kinder kommen über blühende Wiesen dahergelaufen, weil es Essen gibt. Schließlich sitzt die ganze Familie am Tisch und unterhält sich rege.
Altmodisch, ja, ich gebe es zu. Ich mag das moderne Fernsehen ja nicht besonders. Auch mit dem Internet verbindet mich keine tiefe Freundschaft. Jedoch diese Szenarien der heilen Welt, wie man sie früher zeichnete, holen mich emotional ab. Trotzdem: Sie sind längst überholt.
Wenn heute Jugendliche über blühende Wiesen schlürfen, muss man ja schon Angst haben, dass sie an einer Pollenallergie leiden und „endgradig“ niesen müssen. Oder noch schlimmer: Womöglich läuft ein Kind schneller als das andere. Nicht dass da noch ein Wettkampf entsteht, wäre ja traumatisch. Schlimmstenfalls würde das langsamere Kind beim nächsten Sportunterricht noch als letzter gewählt! Die Abschaffung des Wettkampfs zugunsten des Wettbewerbs dient dem Kinderwohl, na ja. Ich habe da eine andere Theorie.
Die Gefahr am zu ehrgeizigen Laufen ist, dass den Kindern dabei ihre Kopfhörer runterrutschen und sie diese verlieren. Oder aber das Signal zum Beenden der Rennerei nicht hören können, weil der „Noise“ auf digitalem Wege „gecancelt“ wurde. Und weil keiner am Ende der Piste steht und ähnlich wie im Film „Forrest Gump“ ein Banner zum Stehenbleiben hält.
Apropos „Stehenbleiben“: Ich stehe immer noch vor der Tür meiner Tochter, als sich diese öffnet. „Huch, was machst Du denn da?!“, erschrickt sie und fügt hinzu: „Wann gibt es Essen? Ich hab Hunger!“
„Jetzt. Oder: Wenn ich es wieder aufgewärmt habe, ich stehe hier seit einer Viertelstunde“, antworte ich.
Das „Klopf halt einfach an …“ meiner Tochter lasse ich lieber unkommentiert.
Irgendwann begegne ich dem Erfinder des „Noise Cancellings.“ Dieser Moment wird dann übrigens so laut werden, dass das keiner mehr „canceln“ kann.
ar