„Nicht mehr wettbewerbsfähig“
Exodus der Industriegiganten: Volkswagen ist nur die Spitze des Eisbergs
Der Kampf um Kosten und Wettbewerbsfähigkeit erfasst den Industriestandort Deutschland: Deutsche Konzerne investieren weniger in der Heimat und zunehmend im Ausland.
Berlin/München – Mit der neuen Eskalationsstufe bei Volkswagen erreicht die alarmierende Lage der deutschen Wirtschaft ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Automobil- und Industrielandschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, der umfangreiches Handeln erfordert, um die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland sicherzustellen.
Die Ankündigungen bei VW, Stellen abzubauen und möglicherweise Werke zu schließen, sind lediglich die Spitze des Eisbergs. Denn zum einen findet eine schleichende Abwanderung und Verlagerung von Produktionskapazitäten schon seit Jahren statt, zum anderen sind weitere namhafte Zugpferde der deutschen Industrie betroffen.
Dazu gehören Zulieferer wie ZF Friedrichshafen und Bosch, Chemieriesen wie Bayer und BASF, oder auch der Stahlgigant ThyssenKrupp. Die aktuellen Entwicklungen werfen ein Schlaglicht auf die Herausforderungen, mit denen die deutsche Industrie und Wirtschaft konfrontiert ist.
Volkswagen als Symbol für den Wandel - trotz Gewinne „brennt der Dachstuhl“
Dabei ist es nicht so, dass es sich um defizitäre Unternehmen handelt: Jedoch ist die operative Marge der Wolfsburger Kernmarke VW Pkw zuletzt auf 2,3 Prozent gesunken – die schlechteste Umsatzrendite im gesamten Konzern. Trotz eines Erlöses von 3,5 Milliarden Euro im Jahr 2023 (konzernweit 17,9 Mrd.) steht der Autobauer vor enormen Investitionen in Höhe von 180 Milliarden Euro für Modernisierung und Digitalisierung. Markenchef Thomas Schäfer betonte, dass bei VW „der Dachstuhl brennt“.
Die angekündigten Maßnahmen seien dem Vernehmen nach notwendig, um den Konzern wettbewerbsfähig zu halten. Als Vergleich dient Focus.de der Blick zum japanischen Erzrivalen Toyota: Der weltgrößte Autobauer schafft es, mit weniger Mitarbeiter deutlich mehr Autos zu verkaufen.
So sorgt VW mit den geplanten Umstrukturierungen für größere Alarmstimmung: Denn es handelt sich um ein klares Zeichen dafür, dass die hiesige Automobilindustrie vor Umwälzungen steht und der Status als Hochlohnland bedenklich wackelt.
Deutsche Konzerne verlagern Arbeitsplätze und weitere Investitionen ins Ausland
Stellenabbau und die Verlagerung von Jobs ins Ausland sind seit geraumer Zeit ein probates Mittel, um diese und weitere Probleme durch den Wirtschaftsstandort Deutschland zu reduzieren. ZF Friedrichshafen plant, bis Ende 2028 hierzulande bis zu 14.000 Stellen abzubauen, weil sich viele Produkte anderswo günstiger produzieren lassen.
Auch Konkurrent Bosch steht vor der Herausforderung, sich auf die Ära nach dem Verbrennermotor vorzubereiten, wenn ein Großteil der Erzeugnisse aller Voraussicht nach nicht mehr benötigt wird. Alleine in der Antriebssparte sollen über 1000 Stellen entfallen.
Nicht nur die Autobranche mitsamt Zulieferbetrieben ist betroffen, auch die deutschen Chemiegiganten BASF und Bayer streichen Stellen und planen stattdessen größere Investitionen zum Beispiel in den USA und China. Als weiteres Beispiel dient der Stahlriese ThyssenKrupp, bei dem ein lange währender Streit eskalierte - auf Basis einer betriebswirtschaftlichen Negativentwicklung.
Deindustrialisierung Deutschlands? Mehrere Gründe für die Abwanderung
Die Gründe für die wirtschaftliche Entwicklung sind vielfältig: Eine sinkende Nachfrage auf den wichtigen Absatzmärkten, hohe Produktionskosten, Bürokratie und die Notwendigkeit von Investitionen in die Modernisierung sind die Hauptfaktoren.
Die Chefin des Verbands der Automobilindustrie (VDA) kritisiert die hohen Produktionskosten in der Bundesrepublik. „Das Problem ist, dass wir in Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig Autos produzieren können“, erklärte Hildegard Müller gegenüber NDR Info. Vor allem die Energie-, Bürokratie- und Arbeitskosten seien im Vergleich zu anderen Ländern sehr hoch.
Müller betont in dem Gespräch, dass die Autoindustrie „gewaltige Summen“ in die Transformation zur E-Mobilität investiere. Doch die ungünstigen Standortfaktoren würden es schwierig machen, kleine, günstige Elektroautos zu produzieren.
Geopolitische Faktoren beschleunigen Verlagerung von Arbeitsplätzen
Bei der wirtschaftlichen Gemengelage in Deutschland spielen geopolitische Faktoren eine große Rolle. Folgende Aspekte verleiten finanzstarke Unternehmen, Investitionen ins Ausland zu verlagern:
- Handelskonflikte und Protektionismus führen zu Beschränkungen und Zöllen, die deutsche Exporte belasten. Mit der Verlagerung von Produktionsstätten kann dies verhindert werden.
- Die geopolitische Instabilität, insbesondere die Reduktion der Energieimporte aus Russland infolge des Ukraine-Konflikts, hat in Deutschland zu höheren Energiekosten geführt.
- Länder wie die USA oder China bieten durch gezielte Subventionen und günstige Produktionsbedingungen attraktive Alternativen für deutsche Unternehmen, die Kosten zu senken und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.
- Mit einer Verlagerung der Produktion kann die Lieferkettenabhängigkeit reduziert werden, um wie im Falle einer Pandemie Risiken zu minimieren und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
- Niedrigere Lohnkosten in Ländern außerhalb der EU motivieren Unternehmen ebenfalls zur Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland.
Von der Bildfläche verschwunden: Zehn große Automarken, die es nicht mehr gibt




Zahlreiche Jobs in Gefahr - IG Metall will sieben Prozent mehr Lohn
Zeitlich brisant kommt da die Forderung der IG Metall für die rund 3,9 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie. Denn die für 2024 angekündigten Forderungen treffen auf schwierige wirtschaftliche Verhältnisse, nicht nur bei dem kriselnden Riesenkonzern VW. Die Angst um die Arbeitsplätze geht insbesondere im Automobilsektor um, in dem die Gewerkschaft eigentlich ihre stärksten Streiktruppen hat, so die Deutsche Presse-Agentur (dpa).
Die dritthöchste Forderung seit 30 Jahren wird vor allem mit Kaufkraftverlusten begründet, welche die Mitglieder in den zurückliegenden Hochinflationsjahren erlitten haben. Doch spätestens seit den Entwicklungen in Wolfsburg ist eindeutig, dass es auch und womöglich zuallererst um sichere Arbeitsplätze im Hochlohnland Deutschland geht.
Die Metallarbeitgeber verweisen auf gesunkene Produktion sowie die Auftragsflaute, jüngste Statistiken von Wirtschaftsforschern decken diese Position. „Unverträglich hoch“ sei daher in dieser Lage die Forderung nach 7 Prozent mehr Geld, erläutert NRW-Metall-Präsident Arndt Kirchhoff. (PF)
