„Dahoam am Land“ - Die Familienkolumne von Andreas Reichelt
Ferienstart: Von 0 auf Chaos in weniger als einer Sekunde
Sie sind das ultimative Lernziel, die Oasen für gehetzte Lern-Sportler im Jugendalter: die Sommerferien. Doch wie man nach nur einem Tag ohne Schule bereits völlig verwahrlosen kann, ist mir schleierhaft. Obwohl ich einst Schüler war und nun als Vater zwei Studienobjekte bei mir wohnen habe.
Es ist eine Tatsache, dass die Schüler immer mehr ans Ende ihrer Kräfte gelangen, je mehr sich die Ferien nähern. Was wir Berufstätigen mit einer gewissen Portion Neid betrachten, ist gar nicht mal so dumm verteilt. Denn unsere Kiddies haben im Schulalltag schon auch einige Hürden zu meistern. Und so sind sie sichtlich erleichtert, in regelmäßigen Abständen Auszeiten zu bekommen. Waren wir das nicht alle irgendwie, als wir die letzte Klausur geschrieben haben oder zum finalen Kolloquium kamen? Ja, auch wir fanden Ferien toll. Endlich kein Lernstress mehr! Dass es den Schülern ähnlich geht, ist doch klar.
Wir Eltern betrachten oftmals die Ferien als die Zeit, in der wir Stunden der Wonne mit unseren Lieben verbringen können, gemeinsam ausschlafen, zusammen frühstücken. Doch wenn wir dann am ersten Tag der herbeigesehnten Wochen das Kinderzimmer betreten wollen, erwartet uns das Inferno. Berge von Kleidungsstücken, Geschirr und leere Flaschen überall, dazwischen ein Kind. Irgendwo. Wahrscheinlich zumindest, man kann ein leises Schnarchen vernehmen. Doch sehen kann man es nicht. Ja, mit den Ferien stellt sich eine sofortige Verwahrlosung ein.
„Hallo?“, rufen Vater oder Mutter leise in den „Borstentier-Stall“. Keine Antwort. „Lass mich schlafen“, sollte der Grunzlaut wohl heißen, der dann als akustisches Lebenszeichen seinen Weg durch den Dschungel des Zimmers bahnt. Ohne Machete ist ein Durchkämpfen zum Bett nicht möglich, zu groß die Gefahren. Wenngleich diese nicht aus Schlangen oder Raubtieren bestehen, so lauern doch allerorts Legosteine zwischen den T-Shirts, die beim Drauftreten höllisch schmerzen.
Nicht selten geben die Eltern daher auf und frühstücken zu zweit. Zum Unglück der Kinder, denn so können sie Pläne schmieden. Wie die Kinder in diesen Ferien erstmalig im Haushalt mithelfen müssen. Wie sie ihre Räder waschen, die im ganzen Zimmer verteilten Arbeitsblätter sortieren - oder noch besser - die Wäsche bügeln können. Wenn sie irgendwann aufstehen.
Ich schreibe mich mit der Kolumne so richtig in phantasievolle Rage. Und wähne mich im Recht. Doch nein, als ich zu meinen Kindern ins Zimmer gehe, stelle ich fest: Bei uns zu Hause ist das alles nicht so. Tatsächlich sind die Zimmer ordentlich. Die Große hat heute sogar gekocht. Schupfnudeln mit Speck und Sauerkraut.
Ich weiß zwar nicht, wann das passiert ist, aber irgendwie sind sie wohl aus dem Chaos-Alter raus gewachsen. Es besteht also noch Hoffnung: Vielleicht kann auch ich irgendwann aus diesem Chaos-Alter herauskommen und werde ein ordentliches Kind. Gar so ordentlich wie meine Frau? Na ja, wollen wir mal nicht übertreiben. Irgendwo klingelt doch ein Handy. Da, unter dem Kamera-Equipment. Oh hat aufgehört, schön, dann brauche ich es nicht mehr suchen.
ar