Von BSW bis Letzte Generation
Europawahl-Stimme für Kleinparteien: Sechs alte Bekannte haben wohl Chancen – eine Partei wackelt
Zur Europawahl 2024 gibt es letztmals keine Prozenthürde. BSW, Volt und Co. – welche Kleinparteien haben Chance auf Mandate? Ein Experte antwortet.
Update vom 9. Juni, 18.40 Uhr: Lohnt sich die Stimme für eine Kleinpartei? Die ersten Hochrechnungen zur Europawahl 2024 liefern zumindest einen Fingerzeig: Nach Daten des Instituts infratest dimap für die ARD haben zunächst sieben Nicht-Bundestagsparteien gute Aussichten auf den Sprung ins Europaparlament; allen voran das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mit bis zu 6 Abgeordneten.
Gute Aussichten haben auch die Freien Wähler, die laut der ersten ARD-Hochrechnung sogar drei Sitze in Straßburg und Brüssel erhalten könnten, das wäre einer mehr als bislang. Die Satirepartei „Die PARTEI“ könnte ihre zwei Sitze verteidigen – wobei die Autorin Sibylle Berg anstelle von Nico Semsrott das zweite Mandat einnehmen würde. Eine Überraschung könnte der Europapartei Volt gelingen, für die drei (statt bislang einem) Sitze in Reichweite scheinen.
Chancen ihre Einzelmandate zu verteidigen haben laut infratest dimap ÖDP, Tierschutzpartei und Familien-Partei. Die ersten Hochrechnungen der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF sahen für die Tierschutzpartei sogar zwei Mandate in Reichweite. Die Piraten hingegen müssen um ihre Beteiligung im Europaparlament bangen; die 0,5 Prozent der Hochrechnung würden wohl nicht für den Wiedereinzug genügen. Veränderungen waren allerdings noch möglich; vorläufige Ergebnisse sollte es erst spät am Wahlabend geben.
Keine Daten gab es zunächst für zwei weitere Gruppierungen, denen Europaexperte Stefan Thierse von der Uni Bremen Chancen auf einen „Achtungserfolg“ zugesprochen hatte (siehe unten): Die Liste der „Letzten Generation“ und das linke Bündnis Mera25. Einen datengestützten Einblick in die Arbeit der Kleinparteien im Europaparlament erhalten Sie in diesem Artikel.
Europawahl-Stimme für Kleinparteien: Sieben alte Bekannte haben wohl Chancen – drei Newcomer auch?
Artikel vom 31. Mai 2024: Bremen/München – Es ist ein buntes Potpourri, das sich Informierten auf dem Wahlzettel eröffnet: Zur Europawahl am 9. Juni sind nicht nur in allen Bundesländern mindestens je 34 Wahlvorschläge ankreuzbar – ungewöhnlich viele von ihnen werden auch echte Chancen haben, ein Mandat zu erobern, wenn auch zum vorerst letzten Mal in dieser Form. Ab der Europawahl 2029 wird es wieder eine „Sperrklausel“ geben, also eine Prozenthürde für den Sprung ins Europaparlament.
Umso wichtiger ist 2024 diese Frage: Welcher der Wahlvorschläge abseits der aus dem Bundestag bekannten Platzhirsche hat denn Aussichten auf den Einzug ins Europaparlament? 2019 genügte bereits weniger als ein Prozent Stimmenanteil, wie Stefan Thierse vom Institut für Europastudien der Uni Bremen IPPEN.MEDIA sagt. Für die aktuelle Wahl sieht er reale Chancen bei sechs bereits in Brüssel und Straßburg vertretenen deutschen Kleinparteien – zudem für einen prominenten Newcomer. Und zumindest die Gelegenheit für „Achtungserfolge“ für zwei weitere Gruppen.
Kleinparteien bei der Europawahl: BSW und Freie Wähler haben laut Umfragen gute Chancen
Die Datenlage ist dabei schwierig. Denn die Umfragen zur Europawahl wiesen „in aller Regel diese Kleinparteien nicht gesondert aus, sondern verbuchen sie unter den sonstigen Parteien“, betont Thierse. Zwei Ausnahmen unter den nicht im Bundestag vertretenen Parteien gibt es aber:
Zum einen das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Den Umfragen zufolge lag das BSW zuletzt zwischen 3 und 4 Prozent – „das würde zwei Mandaten entsprechen“, sagt der Experte: „Mit dem BSW ist also sicher zu rechnen.“
Hinzu kommen die Freien Wähler. Die Institute INSA, Ipsos und Forsa fragten die Partei von Bayerns Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger im Jahr 2024 mit ab. Die Ergebnisse lagen dabei zwischen 2,5 und 3,5 Prozent. Auch das würde sicher für den Einzug ins Europaparlament reichen. Abseits dieser beiden ist etwas mehr Interpretationsarbeit nötig.
Stimme für eine Kleinpartei: Welche Chancen haben Die Partei, Piraten, ÖDP, Volt und Co?
Thierse erwartet jedenfalls, dass „Parteien, die bereits Abgeordnete im Europäischen Parlament haben und insofern einen Wahlkampf mit im Europäischen Parlament erfahrenen Spitzenkandidaten führen können, eine relativ gute Ausgangslage haben – besser auf jeden Fall als komplette Newcomer“.
Zu dieser Gruppe zählen neben den Freien Wählern sechs weitere Parteien: Die Satirepartei DIE PARTEI, die Piraten, die Familienpartei, die Tierschutzpartei, Volt und die ÖDP. Der ÖDP sprach ein Experte schon 2019 vor allem aufgrund ihres Zuspruchs in Bayern Chancen auf Europa zu. Alle Genannten sind übrigens schon seit 2014 im Europaparlament vertreten. Der Europaexperte der Uni Bremen traut zudem zwei Wahlvorschlägen Überraschungen zu.
Europwahl-„Achtungserfolg“ für Letzte Generation und Varoufakis möglich
„Das ist zum einen die Letzte Generation, die als sonstige politische Vereinigung antritt und dann Mera25“, sagt Thierse IPPEN.MEDIA. Letztere ist Teil der „Democracy in Europe 25“-Bewegung, gegründet vom streitbaren griechischen Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis. „Mera25 ist bei der letzten Bürgerschaftswahl in Bremen angetreten und hat 0,7 Prozent bekommen“, erläutert Thierse. Das lasse sich „sicher nicht auf eine bundesweite Wahl übertragen, aber zumindest für einen Achtungserfolg könnte es reichen“.
Zuletzt hatten die deutschen Kleinparteien im Europaparlament übrigens unterschiedliche Strategien gewählt. Die meisten Abgeordneten schlossen sich Fraktionen an: Die Vertreter von Volt, Piraten, Tierschutzpartei, ÖDP und auch der auf der DIE PARTEI-Liste gewählte Nico Semsrott den Grünen – wobei Tierschutzpartei-Vertreter Martin Buschmann 2020 erst aus der Fraktion und dann aus seiner Partei austrat. Das Mandat legte er trotz Berichten über eine NPD-Vergangenheit nicht nieder. Zum Unmut der Tierschutzpartei. Die zwei Freien Wähler schlossen sich der liberalen „Renew“ an, die Familienpartei der konservativen EVP um CDU und CSU.
Europawahl 2024 letztmals ohne Sperrklausel: Kleinparteien wählten Fraktionen – nur Sonneborn nicht
Oft, aber nicht immer stimmten diese Parlamentarier wie ihre jeweilige Fraktion. PARTEI-Chef Martin Sonneborn wählte eine andere Variante: Er ist fraktionslos geblieben – so, wie es zuletzt auch Buschmann und der Ex-AfDler Jörg Meuthen waren. „Wer keiner Fraktion angehört, ist als einzelner Abgeordneter weitgehend einflusslos“, sagt Thierse. An den Fraktionen bemesse sich von der Redezeit über Antragsrechte bis zu Geld für Mitarbeitende im Europaparlament fast jeder Einflusshebel. Sonneborn nutze das Europaparlament folglich „wirklich eher als Bühne“. Möglich scheint indes auch, dass die AfD-Vertreter nach der Wahl fraktionslos bleiben.
So oder so: Nach der Europawahl 2024 und der Periode 2024-2029 werden es die kleinen Parteien schwerer haben. „Es wird ab 2029 in der Bundesrepublik für Europawahlen wieder eine Zwei-Prozent-Sperrklausel geben“, erklärt Thierse. Anlass sei ein Beschluss des Rates der EU aus dem Jahr 2018 – Einwände hat das Bundesverfassungsgericht bereits zurückgewiesen. Möglich waren Sperrklauseln zwischen 2 und 5 Prozent. „Das heißt, Deutschland orientiert sich am unteren Rand dessen, was möglich ist“, betont Thierse. Bei den Kleinparteien sorgt das dennoch für Ärger: Die ÖDP etwa übt massive Kritik. (fn)
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