Gegen die Großen – manchmal
Analyse zu Volt, Freien Wählern und Co. zeigt: So stimmen die Kleinparteien in Europa ab
Kleine Partei, ganz eigene Haltung? In vielen Belangen mag das im Europaparlament stimmen. Bei Abstimmungen nur bedingt, wie eine Analyse zeigt.
Die Europawahl ist eine Besonderheit. Nicht nur, weil sie als staatsgrenzenübergreifender Urnengang ungewöhnlich ist. Für Wählerinnen und Wähler bietet sie auch besondere Optionen: 2024 dürfen erstmals auch Menschen ab 16 wählen. Und die Auswahl auf dem Stimmzettel ist besonders schwierig. Denn die von der Bundestagswahl bekannte Fünfprozenthürde gibt es nicht. Auch eine Stimme für Kleinparteien kann also lohnen.
Das Angebot ist groß. 34 Parteien und politische Vereinigungen stehen fürs Kreuzchen bereit. Was aber nicht allen Wählenden bewusst sein dürfte: Die Abgeordneten der Kleinen verfolgen zwar das parteieigene Programm – sie schwirren aber nicht als eine Art freie Radikale durchs Parlament. Die überwiegende Mehrheit schließt sich den großen Fraktionen an. Eine Datenauswertung von IPPEN.MEDIA in Zusammenarbeit mit Abgeordnetenwatch zeigt, wie diese Parlamentarier abstimmen.
Kleinparteien bleiben in Europa selten allein: Ohne Fraktion „weitgehend einflusslos“
Sechs kleine Parteien und Listen hatten bei der Europawahl 2019 von der Absenz der Sperrklausel profitiert: Ins Parlament schafften es je eine Vertreterin oder Vertreter von Tierschutzpartei, ÖDP, Familien-Partei, Volt und Piraten – Freie Wähler und die PARTEI entsendeten sogar je zwei Parlamentarier.
Die erste Erkenntnis: Fast alle schlossen sich Fraktionen an. Tierschutzpartei, ÖDP, Volt und Piraten sortierten sich im Grünen-Lager ein, die Familien-Partei bei der konservativen EVP um CDU und CSU. Die Freien Wähler fanden mit der FDP bei der liberalen „Renew“ zusammen. Zunächst blieb nur PARTEI-Chef Martin Sonneborn fraktionslos – sein Listenkollege Nico Semsrott schloss sich ebenfalls den Grünen an.
Nach Ansicht von Europa-Experte Stefan Thierse ist das ein gut erklärbares Gesamtbild – und alles andere als verwerflich. „Wer keiner Fraktion angehört, ist als einzelner Abgeordneter weitgehend einflusslos“, sagt er IPPEN.MEDIA. „Kleinparteien, die sich keiner Fraktion anschließen, tun das aus der bewussten Entscheidung heraus, nicht wirklich am politischen Entscheidungsprozess im Europäischen Parlament teilhaben zu wollen.“ Sonneborn etwa nutze das Parlament eher als Bühne. Bleibt aber die Frage: Behalten die Kleinparteien-Vertreter bei Abstimmungen ihren eigenen Kopf – oder stimmen sie stets mit der Fraktion?
Kleinparteien bei der Europawahl: Einige bemerkenswerte Abweichungen zur „großen“ Fraktion
Das Bild ist gemischt. Bei insgesamt 29 ausgewerteten Abstimmungen aus dem Jahr 2024 stimmte etwa Volt-Politiker Damian Boeselager zwei Mal anders als die deutschen Grünen-Fraktionskollegen. Drei Mal tat das der „Pirat“ Patrick Breyer. Familien-Partei-Vertreter Niels Geuking wich zwei Mal von der EVP-Linie ab. Die Freien Wähler Engin Eroglu und Ulrike Müller votierten vier beziehungsweise ein Mal anders als die deutschen FDPler – waren sich dabei bemerkenswerterweise aber auch untereinander nicht immer einig.
Unter diesen Fällen befinden sich durchaus „große Themen“: Bei den neuen EU-Schuldenregeln votierte Eroglu mit Nein, Breyer mit Ja, jeweils entgegengesetzt zu ihren jeweiligen Fraktionen. Breyer stimmte beim Piraten-Kernthema KI gegen ein neues Gesetz und damit auch gegen die Grünen-Linie. Geuking scherte bei Plänen zur „Wiederherstellung der Natur“ aus: Die EVP stimmte dagegen, der Familien-Partei-Politiker dafür. Boeselager enthielt sich bei der finalen Abstimmung zur Lockerung der Regeln für neue Gentechnik – die Grünen votierten dagegen. Auf eine Nutzer-Frage bei Abgeordnetenwatch erläuterte er seine Haltung: „Wir unterstützen weitere Forschung und die eventuelle Aufnahme von gentechnisch veränderten Pflanzen in das Produktionsportfolio der europäischen Landwirt*innen“ – kleine klassisch grüne Haltung.
| Partei, Abgeordnete/r | Partei-Ergebnis 2019* | Fraktion | Ausschüsse** | Abweichungen zu deutschen Fraktionskollegen |
|---|---|---|---|---|
| PARTEI, Nico Semsrott | 2,4 | Grüne/EFA | Haushaltskontrolle | - |
| PARTEI, Martin Sonneborn | 2,4 | fraktionslos | Bürgerliche Freiheiten | - |
| Freie Wähler, Engin Eroglu | 2,2 | Renew (liberal) | Wirtschaft und Währung | Ethikgremium (Enthaltung), Neue Schuldenregeln (Nein), Neue Führerscheinregeln (Nein), Neue Transparenzregeln für politische Werbung (Ja) |
| Freie Wähler, Ulrike Müller | 2,2 | Renew (liberal) | Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Petitionsausschuss | Neue Führerscheinregeln (Nein |
| Tierschutzpartei, Martin Buschmann | 1,4 | seit 1/2020 fraktionslos | Industrie, Forschung und Energie | - |
| ÖDP, Manuela Ripa | 1,0 | Grüne/EFA | Industrie, Forschung und Energie | - |
| Familien-Partei, Niels Geuking | 0,7 | EVP (konservativ) | Beschäftigung und Soziales | Ethikgremium (Enthaltung), Wiederherstellung der Natur (Ja) |
| Volt, Damian Boeselager | 0,7 | Grüne/EFA | Konstitutionelle Fragen | Neue Gentechnik (Enthaltung) |
| Piratenpartei, Patrick Breyer | 0,7 | Grüne/EFA | Bürgerliche Freiheiten | Neue Schuldenregeln (Ja), Abgasnormen (Enthaltung), KI-Gesetz (Nein) |
*Angabe in Prozent. **Ohne Mitgliedschaften in außenpolitischen Delegationen und stellvertretende Mitgliedschaften. Quellen: Europaparlament, Abgeordnetenwatch.de
Ebenfalls bemerkenswert: Beide FW-Parlamentarier gaben grünes Licht für die Aufnahme eines Rechts auf Abtreibung in die EU-Grundrechte-Charta. Damit waren sie zwar auf Linie mit ihren Liberalen – überraschen könnte just diese Entscheidung angesichts des oft CSU-nahen FW-Kurses in Bayern dennoch. ÖDP-Politikerin Manuela Ripa und Semsrott fielen indes jedenfalls in der betrachteten Stichprobe nicht durch Abweichungen zu den deutschen Kollegen in der grünen „Adoptiv-Fraktion“ auf.
Europaparlament: Abstimmungen sind nicht alles – PARTEI und Tierschutzpartei durchleben Turbulenzen
Wichtig zu betonen ist aber auch: Abstimmungen sind im Europaparlament nicht alles. Wie in Deutschland arbeiten Ausschüsse zu unzähligen Fachthemen. Und die Fraktionen ringen auch intern um Kompromisse und Haltungen. Es gibt also viele Einflussmöglichkeiten hinter den Kulissen. Die Ausschusszugehörigen der Kleinpartei-Abgeordneten sind breitgefächert (siehe Tabelle) – und Fraktionsgemeinschaften auch auf kommunaler Ebene keine Seltenheit. Experte Thierse sieht indes alle bislang vertretenen Listen mit Chancen auf einen Wiedereinzug.
Bleibt eine Randnotiz: Ob Zufall oder nicht – in der zurückliegenden Legislatur waren ein paar der Kleinparteien für Überraschungen gut. Bei der Familien-Partei übergab der Vorsitzende Helmut Geuking Anfang 2024 das EP-Mandat an seinen Sohn Niels, bei der ÖDP Ex-Parteichef Klaus Buchner im Juli 2020 an Ripa.
Semsrott verließ die PARTEI ebenso wie Martin Buschmann die Tierschutzpartei. Semsrott war mit dem Kollegen und Chef Sonneborn und dessen Umgang mit Rassismusvorwürfen nicht mehr einverstanden. Buschmann sah sich Berichten über eine NPD-Vergangenheit ausgesetzt – und trat anders als Semsrott auch aus der Grünen-Fraktion aus. Teil der Statistik zu Fraktions-Abweichungen war er deshalb nicht mehr. Bei der Europawahl 2024 stehen beide nicht mehr auf dem Stimmzettel. (Florian Naumann)
Rubriklistenbild: © IMAGO/Dwi Anoraganingrum
