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Frankfurter-Rundschau-Interview
„Fleischangriffe“ – und verräterisches Blutvergießen: Selenskyjs Fraktionsvize kontert Putin
Was sagt die Ukraine selbst zu Russlands Behauptungen? Eine wichtige Abgeordnete wählt im Interview klare Worte – und appelliert an Friedrich Merz.
Vilnius – In Deutschland wird viel über die Ukraine oder gefühlt sogar im Namen der Ukraine gesprochen. Mit der Ukraine? Eher selten. Dabei haben Menschen wie Yevheniia Kravchuk natürlich besonders direkte Antworten auf viele Fragen – gerade auf (Propaganda-)Vorhaltungen aus dem Lager von Wladimir Putin.
Das mit den direkten Antworten ist durchaus wörtlich zu nehmen: Die stellvertretende Fraktionschefin von Wolodymyr Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ im ukrainischen Parlament reist im Ukraine-Krieg immer wieder ins Ausland – und muss dreieinhalb Jahre nach Beginn von Russlands Überfall immer noch oft dasselbe erzählen. Bevorzugt ohne Umschweife.
Das Interview am Rande einer Konferenz in Vilnius ist eigentlich schon vorbei, da dreht sich Kravchuk nochmal um – und gibt eine zweite bittere Replik auf Russlands Vorwurf mangelnder Wahlen in der Ukraine: Sie klammere nicht an ihrem Amt. „Wissen Sie, ich habe meinen Posten seit 2019. Heute hat meine Tochter Ihren letzten Schultag in der 5. Klasse und ich verpasse die Feier. Wahrscheinlich wäre ich einfach froh, wenn ich nicht mehr durch Europa reisen müsste, um Menschen zu erklären: ‚Tut endlich etwas, sonst werden sie auch euch angreifen.‘“
Demokratie im Ukraine-Krieg – „Signale? Russland sendet Raketen in die Ukraine, keine ‚Signale‘“
Frau Kravchuk, dreieinhalb Jahre nach Beginn der russischen Vollinvasion: Wie arbeitet das ukrainische Parlament? Gibt es angesichts des Krieges große Einigkeit – oder Parlamentsalltag mit Konflikten und scharfer Oppositionsarbeit?
Zunächst mal: Wir haben eine starke Opposition im Parlament. Was wir nicht haben: Eine Opposition gegen die Erkenntnis, dass Russland existenzieller Feind der Ukraine ist. Zwei Punkte einen die Rada am meisten. Die Unterstützung für die Armee und die Arbeit für die Integration der Ukraine in Europa. Denn in beiden Fragen ist auch die ukrainische Gesellschaft geeint.
Sie warnen, dass sich laut Umfragen teils mehr als 30 Prozent der Jugendlichen in westeuropäischen Ländern andere als demokratische Staatsformen vorstellen könnten. Einfluss haben dabei wohl Signale und Desinformation aus Russland. Wie sehen Sie die Lage in der Ukraine, ist die Demokratie trotz Krieg tief verwurzelt?
Moment: „Signale“? Russland sendet Raketen in die Ukraine, keine Signale! Die sind äußerst klare „Signale”; nicht zu überhören.
Natürlich spielt Russland im Kontext der Ukraine eine völlig andere Rolle. Was ich meine: Sehen Sie die Demokratie in der Ukraine sicherer in den Köpfen junger Menschen verankert als in Deutschland, Frankreich oder Spanien? Vielleicht, weil die Abgrenzung zu Russland so klar ist?
Zunächst einmal fürchten alle jungen Menschen in der Ukraine um ihr Leben und ihre Zukunft. Ihre Frage betrifft den Meinungsbildungsprozess vor einer Wahl – an dem Punkt sind wir aktuell nicht. Insofern ist es zu früh, zu überlegen, ob junge Menschen bei der nächsten Wahl Links- oder Rechtsextremisten wählen könnten. In jedem Fall gibt es viele Programme für die Jugend, neue Räte, neue Organisationen. Lwiw in der Westukraine ist 2025 Europas „Hauptstadt der Jugend“. Trotz Krieg.
Mobilisierungsalter im Ukraine-Krieg: „Selenskyjs Antwort ist klar – auch für die USA“
Eine für junge Menschen in der Ukraine existenzielle Frage ist die nach dem Einberufungs- oder Mobilisierungsalter. Wie schwer ist es, solche Entscheidungen als Parlamentarierin mitzutragen?
Wir folgen da der Militärstrategie. Es geht ja auch darum, wie viele Menschen überhaupt mobilisiert werden können – schließlich muss auch die Wirtschaft weiter laufen. Die Entscheidung, das Mobilisierungsalter von 27 auf 25 zu senken, war nicht unsere, sondern die des Militärs und des Präsidenten. Das Parlament hat sie natürlich unterstützt. Aber eines will ich klarstellen.
Yevheniia Kravchuk und die Werchowna Rada
Yevheniia Kravchuk (39) ist ausgebildete Journalistin und izusammen mit ihrer Partei „Diener des Volkes” (benannt nach Wolodymyr Selenskyjs politischer Erfolgs-Sitcom) 2019 erstmals in die Rada eingezogen. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind unter anderem Jugend- und Kulturpolitik. Kravchuk ist stellvertretende Chefin der Fraktion und Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.
Die Rada arbeitet trotz Krieg weiter. Die Arbeit der prorussischen Partei „Oppositionsplattform” wurde zwar bis zum Kriegsende suspendiert, ihre gewählten Abgeordneten sitzen aber weiter im Parlament – so sie nicht zurückgetreten sind oder gerichtlich verurteilt wurden, wie etwa Ex-Oligarch Viktor Medwetschuk für Hochverrat. Schon 2019 blieben mehrere Sitze für die von Russland besetzten Gebiete im Donbass unbesetzt. Wahlen (inklusive Nachwahlen für Direktmandate) sind laut Verfassung unter Kriegsrecht nicht möglich.
Bitte.
Im Krieg ist alles anders. Haben wir um diese Situation gebeten? Nein. Russland hat uns angegriffen. Das ist kein Konflikt, das ist eine Aggression. Für uns ist das ein Kampf um die Existenz, um Freiheit. Aber wenn Ihre Frage ist, ob wir eine weitere Absenkung diskutieren, dann lautet die Antwort „nein”. Wolodymyr Selenskyj hat sich sehr klar positioniert, auch in Richtung der USA.
Warum in Richtung der USA?
Es gab Fragen der USA in dieser Hinsicht. Es hieß, „als wir im Korea-Krieg kämpften, war das Mindestalter 18“. Aber sehen Sie: Wir haben immer noch Brigaden, die keine ordentliche Ausrüstung besitzen. Also, was bitte soll der Ratschlag sein – dass wir eine Brigade aus Schulabsolventen bilden und sie ohne Munition sitzenlassen? Auf keinen Fall! Genau deshalb ist die Ukraine übrigens militärisch so innovativ: Weil wir das einzelne Menschenleben wertschätzen. Die Russen tun das nicht, sie schicken ihre Leute in Fleischangriffe.
„Freunde Russlands sollten sich fragen, ob man Putins Präsidentschaft anerkennen kann“
Sie haben Wolodymyr Selenskyj angesprochen. Eine vor den Verhandlungen zu einem Kriegs-Ende zentrale Behauptung Putins lautet: Selenskyj und auch das Parlament hätten mangels Wahlen kein Mandat mehr. Wie lautet Ihre Antwort darauf?
Seit Wladimir Putin Präsident in Russland ist, gab es sechs verschiedene Präsidenten in der Ukraine. Gut, da war auch noch Medwedew für eine Amtszeit – aber das war nur Schauspiel. Die Ukrainer sind in dieser Zeit mehrfach auf die Straße gegangen, um zu sagen „genug ist genug“. In der aktuellen Lage ist es unmöglich, Wahlen abzuhalten, das sagt schon der Menschenverstand. Sollen Menschen während russischer Luftangriffe wählen gehen? Sie können jeden aus der Opposition anrufen – er oder sie wird Ihnen dasselbe sagen.
Wie wird der Weg zu Wahlen in der Ukraine denn aussehen?
Wir werden Wahlen nach dem Ende des Krieges und des Kriegsrechtes abhalten. Die Vorbereitungen dafür werden dann laut dem Zentralen Wahlkomitee etwa sechs Monate dauern. Alleine schon wegen der Registrierung: Millionen Menschen sind innerhalb des Landes migriert, wir haben mittlerweile vier bis fünf Millionen Wahlberechtigte im Ausland. Übrigens: Putin hat die Verfassung geändert, um noch einmal als Präsident antreten zu können. Die Venedig-Kommission des Europarats hat das klar gerügt. Die Freunde Russlands sollten sich also einmal fragen, ob die Wahl Putins zum Präsidenten überhaupt anerkannt werden sollte.
Eine andere Kritik aus Russland lautet, die Ukraine gewähre russischsprachigen Menschen nicht genug Minderheitenrechte.
Sehen Sie, die größte Gefahr für die Rechte einer jeden in der Ukraine lebenden Person – ob sie nun Russisch, Ungarisch oder Rumänisch spricht – ist die ständige Lebensgefahr. Und in der Verfassung gibt es eine Staatssprache, das ist Ukrainisch. Deshalb wird im Bildungssystem oder von Beamten Ukrainisch gesprochen. Aber niemand verbietet Menschen, auf der Straße Russisch zu sprechen. Wenn Sie in die Ukraine kommen, werden Sie viele Leute Russisch sprechen hören. Wichtig zu verstehen ist auch: Es liefen über Jahrhunderte hinweg Russifizierungsbemühungen. Die Ukraine ist seit 1991 unabhängig – und sie wurde bis dahin von Russlands stets unterdrückt. Deshalb wollen wir den Ukrainern zumindest das Ukrainische zurückgeben.
Warum hat Putin so viele russische Muttersprachler getötet? Weil sie nicht auf Knien vor dem Kreml rutschen wollten.
Seit Februar 2022 haben sogar viele russische Muttersprachler aufgehört, Russisch zu sprechen. Warum übrigens hat Wladimir Putin so viele russischsprachige Menschen zum Beispiel in Mariupol getötet? Die Antwort lautet: Weil sie nicht russische Staatsbürger werden wollten. Weil sie nicht auf Knien vor dem Kreml rutschen wollten.
Hilfe gegen Putins Russland für die Ukraine: „Deutschland hatte genug Traumabewältigung“
Ihre Partei, Diener des Volkes, gehört zur liberalen Parteienfamilie in Europa. Beeinträchtigt das Bundestags-Aus der FDP die Zusammenarbeit mit Deutschland?
Wir arbeiten in vielen Gremien gut mit den Deutschen zusammen. Aber natürlich hoffen wir auf ein bisschen… Wie drückt man es am besten aus? Auf weniger Widerstreben der Koalition und des neuen Kanzlers bei einigen Entscheidungen. Ich weiß, dass es vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs Teil der deutschen Gesellschaft ist, davor zurückzuschrecken, Panzer oder Raketen zu liefern, die russische Soldaten töten könnten. Aber ich möchte daran erinnern, dass die Russen – zuletzt erst am 9. Mai – die Rolle der Ukrainer in der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg vergessen machen wollen. Und Russland kopiert viele Vorgehensweisen der Nazis. Deutschland hatte genug Traumabewältigung. Wir müssen damit jetzt aufhören.
Worauf hoffen Sie konkret? Eine alte Forderung ist die nach Taurus-Marschflugkörpern.
Ich bitte seit zwei Jahren um Taurus. Ich kann das natürlich wiederholen: Bitte geben Sie uns die Taurus! Wir wissen, dass es in Russland diese Flugfelder gibt, auf denen Flugzeuge mit Raketen beladen werden, um dann nachts aufzusteigen und Menschen in der Ukraine zu töten. Geben Sie uns diese Marschflugkörper! Dieser Mangel ist der Grund, warum wir in der jüngsten Mission so kreativ sein mussten – weil es keinen anderen Ausweg gibt. Ich weiß nicht, warum Deutschland so zögert.
Nochmal: Wir bombardieren militärische Ziele! Die Russen bombardieren zivile Infrastruktur, Energieinfrastruktur, um Menschen zu terrorisieren. Es ist in Kiew schwierig, einen normalen Tagesablauf und Schlaf zu bekommen. Denn jede zweite Nacht gibt es einen Drohnenangriff, eine Shahed-Drohne über dem eigenen Haus. Ein anderer Punkt aus der deutschen Debatte hat mich zuletzt übrigens auch sehr besorgt.
Welcher ist das?
Dass es linke Politiker und Menschen in Deutschland gibt, die sagen: ‚Lieber hätte ich eine Besetzung, als für mein Land zu kämpfen.‘ Wahrscheinlich gibt es nicht genügend Berichte über die Realität der Besetzung! Ich kann an diese Menschen nur appellieren: Kommen Sie in die Ukraine, sprechen mit Menschen, die wirklich Besetzung erlebt haben und entscheiden Sie dann, ob es wirklich das ist, was Sie wollen – ohne Essen und in Angst in einen Keller gesperrt zu werden, beispielsweise. Menschenrechte kann man nur garantieren, wenn man sich verteidigen kann. (Interview: Florian Naumann)
Einen Faktencheck zum Interview lesen Sie ab Dienstag auf unseren Portalen.