Wenn Abgeordnete ausscheren
Allein gegen die „Frühstücksrichtline” – und CSU-Kugelschreiber-Sorge: Vier erstaunliche EU-Momente
Im EU-Parlament tobt die Demokratie – das zeigt auch eine Auswertung in Zusammenarbeit mit „Abgeordnetenwatch“. Vier überraschende (Fast-)Alleingänge:
Das Europaparlament, das unbekannte Wesen: 705 Abgeordnete bestimmen dort die Zukunft der Mitgliedsstaaten mit. Doch Details dieser Arbeit nehmen bestenfalls eingefleischte Politik-Nerds wahr. Dabei laufen in Straßburg und Brüssel nicht nur wichtige, sondern auch durchaus faszinierende, teils vielsagende politische Prozesse.
Wenn etwa im Bundestag Abgeordnete anders abstimmen als ihre Fraktion – etwa zum Thema Ukraine-Militärhilfen –, dann ist das schon mal ein Skandälchen. Im Europaparlament (EP) aber gibt es mehr Freiheiten: Anders als man vermuten könnte, haben zum Beispiel die nationalen Koalitionen ihre Brüsseler Kollegen nicht immer fest im Griff. Da kann das Parlament schon mal zum Schauplatz von Gewissensentscheidungen oder Sonderwegen werden.
IPPEN.MEDIA hat in Zusammenarbeit mit dem Portal abgeordnetenwatch.de vor der Europawahl 29 besonders bedeutsame oder vielbeachtete namentliche EP-Abstimmungen deutscher Parlamentarier im Jahr 2024 ausgewertet. In einigen davon sind abweichende Voten einzelner Abgeordneter aufgefallen. Es geht um Asyl, Russland, Gebäudesanierungen – oder auch die “Frühstücksrichtlinie”. Wenn Abgeordnete ausscheren: Vier markante Fälle.
Beim Asylpakt endet die Ampel-Treue: „Der Kopf ist zum Denken und nicht zum Abnicken da“
- Der Anlass: Rund acht Jahre rang die EU um ein neues, gemeinsames Asylrecht. Mitte April stand das „GEAS“ genannte Paket dann schließlich. Kerninhalte unter anderem: Ein Teil der Asylgesuche soll an den EU-Außengrenzen entschieden werden, weitere Drittstaaten als „sicher” eingestuft werden können. Eine „Krisenverordnung” soll Sonderregeln ermöglichen.
- Das Ergebnis: Das Paket hat am 11. April auch, aber nicht nur, die Vertreter der Ampel-Koalition im EP entzweit. Final abgestimmt wurde in zehn Durchgängen über einzelne Bestandteile. Ein Beispiel: der Punkt „Schnellverfahren an den Außengrenzen“. Die Grünen-Parlamentarier stimmten trotz Mahnungen aus Deutschland dagegen, die FDP dafür – und die SPD zeigte sich uneins. Neun Ja-Stimmen standen bei ihr vier Enthaltungen und drei Nein-Stimmen entgegen.
- Das steckt dahinter: Das Thema Asyl vor der Europawahl erstmal abzuräumen, war vielen nationalen Regierungen wichtig – auch die Ampel ließ sich dafür auf Kompromisse ein. Die Grünen spaltete die Frage zutiefst. Aber auch die SPD stand im Fokus. Immerhin war Nancy Faeser als Innenministerin eine wichtige Mitspielerin beim Schnüren des Pakets.
Der SPD-Abgeordnete Udo Bullmann war für eine der Nein-Stimmen verantwortlich. Er erläutert IPPEN.MEDIA seinen Konflikt: „Nach Jahren des Stillstands im Rat unterstütze ich auch jeden neuerlichen Versuch, einheitliche Regelungen und menschenwürdige Bedingungen zu schaffen“, betont er. Das Parlament habe „lange und intensiv“ um ein EU-Asylsystem „basierend auf Grund- und Menschenrechten gekämpft“ – und die Situation an den Außengrenzen sei nicht mehr tragbar.
„Zwei kritische Aspekte“ hätten aber eine Nein-Stimme verlangt: Dass die Durchreise durch einen „vermeintlich sicheren Drittstaat“ genüge, Asylanträge abzuweisen, sei ein „großes Risiko“ – eine größere Zahl aussichtsreicher Asylanträge werde dann wohl nicht mehr individuell geprüft. Und die Krisenverordnung könne dazu führen, dass Regeln zum Schutz von Asylsuchenden „allzu leichtfertig“ aussetzbar seien. Generell seien gemeinsame Haltungen in der Fraktion zwar wichtig, meint Bullmann – „In grundsätzlichen Fragen, in denen die eigene Ethik und grundlegende Werte berührt werden, ist der Kopf aber zum Denken und nicht zum Abnicken da”, betont er.
Dreimal CSU gegen Pläne für „Transparenz politischer Werbung“: Unnötige Kugelschreiber-Konsequenzen?
- Der Anlass: Nicht nur in Deutschland ist 2024 ein recht großes Wahljahr – in turbulenten Zeiten. Mit „neuen Regeln für Transparenz und das Targeting politischer Werbung“ will die EU Manipulation verhindern. Und auch „ausländische Einflussnahme auf Wahlen“. Ersichtlich werden soll zum Beispiel, welche Werbung „politisch“ ist, wer wieviel dafür bezahlt hat und ob, gerade online, bestimmte Zielgruppen adressiert werden.
- Das Ergebnis: Die deutschen Parlamentarier von SPD, Grünen und Linken stimmten am 27. Februar für die Pläne, die FDP enthielt sich. Nur die AfD votierte dagegen – und ebenso wie sechs der 29 Unions-Abgeordneten. Auffällig: Gerade die CSU zeigte sich skeptisch. Nur EVP-Chef Manfred Weber stimmte für die Pläne. Zu einer Enthaltung von Marlene Mortler kamen drei Nein-Stimmen der Abgeordneten Christian Doleschal, Monika Hohlmeier und Angelika Niebler. Aus der gesamten restlichen EVP-Fraktion wandten sich nur je eine Abgeordnete aus Schweden und Slowenien ebenfalls gegen den Plan.
- Das steckt dahinter: Stellvertretend für ihre Parteifreunde – auch die erkrankte Monika Hohlmeier – hat Niebler das überraschende Votum erläutert: Ursprünglich habe sie die Pläne unterstützt. „Ich war Berichterstatterin im Rechtsausschuss für die ‚Neuen Transparenzregeln für politische Werbung’. Mein ausgewogener Bericht zu diesem Vorschlag, den ich selbstverständlich auch unterstützt habe, fand dort eine Mehrheit“, sagt sie. Es sei schließlich „zwingend erforderlich, etwas gegen Wahlmanipulation und Fake News zu tun“ – wie etwa russische Desinformationskampagnen auf X bewiesen.
Dann seien die Pläne jedoch an anderer Stelle erheblich ausgeweitet worden: Die Regeln gälten nun „nicht nur für Wahlen, wie die Europawahl oder Bundestagswahl, sondern auch für jede Kommunalwahl“. Kommunalpolitikerinnen und -Politiker seien aber meist ehrenamtlich tätig – und wohl auch nicht Ziel von Wahlmanipulationen, erklärt Niebler. Auch der Offline-Bereich sei nun betroffen: „Es ist fraglich, ob bei Werbemitteln wie Kugelschreibern bürokratische Anti-Desinformationsregeln benötigt werden“, meint sie.
Die Ausweitung der ursprünglichen Pläne bestätigt die Organisation Transparency International IPPEN.MEDIA auf Anfrage. Tatsächlich sei man darüber durchaus „überrascht“ gewesen, sagt Mitarbeiter Raphael Kergueno – man habe sich auch selbst eigentlich auf den Online-Bereich fokussiert. Allerdings müssten nur große Tech-Konzerne Geldströme für politische Werbung tatsächlich unmittelbar in einem zentralen Register veröffentlichen. Die Regeln für Offline-Werbung könnten Wunsch einiger Mitgliedsstaaten gewesen sein, meint er: „Es ist möglich, dass einige Staaten Probleme haben, nachzuvollziehen, wer Plakate oder Broschüren bezahlt.“ Ein denkbares Beispiel sei Bulgarien, das nur schwache Regeln habe – und auch politische Finanzierung von außerhalb der EU erlaube.
„Putin-Fanboys“: Die AfD sieht sich am Russland-Pranger - eine Abgeordnete bekommt zu viel
- Der Anlass: „Vorgehen gegen russische Einmischungsversuche“ stand am 25. April auf der Agenda des EU-Parlaments. Es ging vor allem um ein Signal: EU und Mitgliedsstaaten sollten sich mit Desinformation auseinandersetzen – und die AfD ihre finanziellen Bande zu Putins Kreml offenlegen. So forderte es die Entschließung. Denn Anlass waren auch Berichte über die AfD-Politiker Petr Bystron und Maximilian Krah.
- Das Ergebnis: Alle deutschen Parlamentarier stimmten dafür – sieben AfD-Abgeordnete wenig überraschend dagegen. Nicht aber Sylvia Limmer: Die Bayerin schloss sich dem Antrag an.
- Das steckt dahinter: Der erstaunliche Vorgang war ein Vorgeschmack auf das Folgende: Ende Mai verließ Limmer die Partei – nachdem die hart rechte ID-Fraktion die AfD unter Verweis auf die Skandale Krahs ausgeschlossen hatte. Limmer verwies im Spiegel nicht nur auf „ehemalige Flügel-Boys“, die die Partei dominierten. Sondern auch auf „Putin-Fanboys“. Diese arbeiteten in der AfD „viel stärker zusammen, als die Bürgerlichen“.
Es gibt aber auch eine längere Vorgeschichte: Beim AfD-Parteitag 2023 war Limmer mit einer Europa-Listenkandidatur gescheitert. „Ich ziehe meine Kandidatur zurück, denn auf diese Truppe habe ich keine Lust“, sagte sie damals schlussendlich auf der Bühne. Sie rügte eine Retourkutsche der „strammen Höcke-Kader“ für ihre Stimme für einen Parteiausschluss des „Flügel”-Politikers Andreas Kalbitz. Eine Zukunft im Europaparlament hatte Limmer jedenfalls nicht mehr – das könnte das Votum begünstigt haben.
Alleine gegen die „Frühstücksrichtlinie“: Ein CDU-Abgeordneter hat genug von „Bürokratieanforderungen”
- Der Anlass: Die neue „Frühstücksrichtlinie“ der EU soll ab 2026 die Inhalte von Honig, Fruchtsaft, Konfitüren und Co. für die Verbraucher transparenter machen. Ein Ziel laut dem Europäischen Rat etwa: „Betrug mit Honig“ bekämpfen. Ein Ergebnis: „Auf dem Etikett werden die Ursprungsländer in absteigender Reihenfolge des Gewichts angegeben, mit dem entsprechenden Prozentsatz für jedes Land.“ Bislang können dort Wendungen wie „Mischung von Honig aus EU-Ländern und Nicht-EU-Ländern“ stehen.
- Das Ergebnis: Alle bei der Abstimmung am 10. April anwesenden deutschen Parlamentarier stimmten zu. Sogar die AfD-Abgeordneten gaben grünes Licht. Ein absolut singuläres Ergebnis in den ausgewerteten Abstimmungen. Nur der CDU-Abgeordnete Axel Voss stimmte mit Nein. Im gesamten Parlament gab es nur 9 Nein-Voten und 10 Enthaltungen.
- Das steckt dahinter: Die „Frühstücksrichtlinie“ ist für EU-Verhältnisse ein erstaunlich unkontroverser Fall. Nicht nur aus Verbrauchersicht, sondern wohl auch für die meisten Erzeuger: „Die europäischen Imkerinnen und Imker können sich über viele Verbesserungen freuen“, erklärte etwa der Deutsche Imkerbund. Er forderte sogar weitere Maßnahmen.
Voss sah es anders – wohl aus recht grundsätzlichen Erwägungen, wie er auf IPPEN.MEDIA-Anfrage andeutete: Gegen die Richtlinie habe er gestimmt, „da die Anforderungen meines Erachtens überzogen waren“. Zudem gelte: „Wir brauchen dringend einen anderen Umgang mit Bürokratieanforderungen.“
Als Ex-AfD-Chef Meuthen EU-„Sanierungsvorgaben für Gebäude“ abnickte
Die kleine Reihung deckt naturgemäß nicht alle bemerkenswerten Abstimmungen ab. Am 11. April etwa stimmte laut der Abgeordnetenwatch-Erhebung der CDU-Parlamentarier Christian Ehler als einziger Unions-Politiker für ein Grundrecht auf Abtreibung. Mitte März stellte sich nur die AfD offen gegen Pläne zu einem EU-Medienfreiheitsgesetz – und mit ihnen die Grünen-Parlamentarierin Alexandra Geese. Sie warnte zuvor vor Gefahren der Desinformation, wenn Artikel nur schwer zu löschen sind. CSU-Spitzenmann Weber stimmte im April als einziger Unionspolitiker der Lockerung von Regeln für „neue Gentechnik“ nicht zu.
Und dann noch das: Als am 12. März über Sanierungsvorgaben für Gebäude abgestimmt wurde, fand sich aus laut den Daten von abgeordnetenwatch.de ausgerechnet der frühere AfD-Chef Jörg Meuthen unter den Unterstützern. Er ist allerdings mittlerweile fraktionslos.
Daten aus dem EU-Parlament: Warum die Fraktionsdisziplin nicht so wichtig ist – und auch mal etwas schiefgeht
Abweichungen dieser und ähnlicher Art mögen überraschen. Ganz so ungewöhnlich wie in der deutschen Politik sind sie nicht. „Die Fraktionsdisziplin im Europäischen Parlament ist verglichen mit der deutschen Politik um einiges schwächer ausgeprägt”, erklärt der erfahrene EU-Parlamentarier David McAllister (CDU) IPPEN.MEDIA: „Das liegt daran, dass das Europäische Parlament multinational ist. Die Fraktionen sind, wie man auf Englisch so sagt, ‚broad churches’. Sie decken also ein weites Spektrum unterschiedlicher Auffassungen ab.“
Experte Stefan Thierse von der Uni Bremen sieht das ähnlich. Er nennt einen weiteren Grund: Im Europäischen Parlament gebe es nicht das für den Bundestag so prägende „Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition“. Wenn, wie in den beleuchteten Fällen, innerhalb der Landesdelegationen von der Linie abgewichen wird, sei das aber zumindest ungewöhnlich. Gerade die „politische Mitte“ – Konservative, Sozialdemokraten und Sozialisten, Liberale und Grüne – stimme „in den allermeisten namentlichen Abstimmungen“ nahezu geschlossen ab.
McAllister räumt indes ein: Auch er selbst habe in der vergangenen Legislatur schon mal abweichend von der empfohlenen Linie für die gesamte Fraktion abgestimmt. Mit Blick auf einen aus dem Datensatz herausragenden Fall hat er aber eine überraschend banale Erklärung parat: Für das Lieferkettengesetz habe er „versehentlich falsch abgestimmt“. „Die Abstimmungen laufen schnell und elektronisch ab“, erläutert der CDU-Politiker. Im finalen Protokoll werde der Fehler korrigiert sein. „Meine Haltung zum Lieferkettengesetz ist ja bekannt: Es ist gut gemeint, aber es ist nicht gut gemacht.“ (Florian Naumann)
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