„Unterschiede zu Baerbock“
Europas neues Asylrecht steht: „Meilenstein“ oder „trauriger Tag“ – ein Riss geht mitten durch die Grünen
Rund acht Jahre hat es gedauert. Nun hat sich die EU zum Thema Asyl (fast) geeinigt. Doch bei Grünen und SPD gibt es Zweifel – und Viktor Orbán schießt quer.
Brüssel/Berlin – Am Mittwoch (10. April) hat sich die EU im Parlament (fast) final auf neue Asylregeln geeinigt. Nach knapp einem Jahrzehnt währenden Verhandlungen. Doch die Meinungen über den Deal gehen weit auseinander. Europapolitiker sprechen auf Anfrage von IPPEN.MEDIA teils von einem „Meilenstein“, teils von einem „traurigen Tag für das europäische Asylrecht“. Und im Zentrum des Sturms stehen einmal mehr die Grünen.
Als Teil Ampel-Koalition haben sie die Einigung mit ermöglicht – als Opposition in Europa dagegengestimmt. „Europa bekommt verbindliche Regeln mit Humanität und Ordnung. Die verpflichtende Solidarität ist ein Meilenstein“, erklärte Außenministerin Annalena Baerbock Minuten nach der Abstimmung des Europaparlaments. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann pries die Einigung ebenfalls. Doch der profilierte Grünen-Asylpolitiker Erik Marquardt äußerte sich ganz anders. Und auch aus der SPD sind kaum verhohlene Zweifel zu vernehmen.
Asyl-Differenzen bei den Grünen: „Unterschiede auch zu Baerbock und Kretschmann“
Es gebe „Unterschiede zur Haltung von Annalena Baerbock und Winfried Kretschmann“, räumte Marquardt am Donnerstag gegenüber IPPEN.MEDIA ein. Eine Position laute, dass man Handlungsfähigkeit bewiesen habe, „und das ist ja auch grundsätzlich sinnvoll“. Man habe vor der Europawahl einen Kompromiss präsentieren wollen. Allerdings gelte: „Es kann nicht nur um Symbole gehen, am Ende muss sich auch etwas verbessern.“ Er selbst habe gegen das Asyl-Paket gestimmt, Parteitagsbeschlüsse hätten der Europafraktions den Rücken gestärkt. „Aber es darf jetzt nicht um Parteitaktik gehen, sondern wie man das Asylsystem besser organisiert und nicht aus dem Blick verliert, dass es um Menschen geht.“
Das neue „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS)
Der Pakt ermöglicht es Mitgliedsländern, Migranten mit geringen Asylchancen direkt an den Außengrenzen in ihre Heimatländer oder in „sichere“ Drittstaaten abzuschieben. Geflüchtete sollen zudem besser erfasst werden. Dafür müssen künftig bereits sechsjährige Kinder Fingerabdrücke und andere biometrische Daten abgeben. Zur Entlastung von Hauptankunftsländern wie Italien, Griechenland und Zypern sieht die EU zudem einen verpflichtenden Solidaritätsmechanismus vor. Damit sollen pro Jahr mindestens 30.000 Geflüchtete umverteilt werden. (AFP)
Europas neues Asylpaket GEAS: Auch die SPD zweifelt – Jubel bei der Union
GEAS sei „bei Weitem kein perfektes Gesetzespaket und als sozialdemokratische Fraktion mussten wir hohe Zugeständnisse machen“, räumte die EU-Abgeordnete Birgit Sippel gegenüber IPPEN.MEDIA ein. Wichtig seien zwar neue „klare Regeln“ und der Hebel für die Wahrung europäischen Rechts. Dass sie einige Sorgen hat, deutete die Expertin für Justiz und Inneres aber ebenfalls an. Die Kommission müsse „Hüterin der Verträge“ sein und Verstöße der Mitgliedsstaaten „unverzüglich sanktionieren“, um Menschenrechtsverletzungen konsequent zu bestrafen, betonte sie. Damit forderte Sippel eigentlich eine Selbstverständlichkeit ein – und warf so ein Schlaglicht auf die Praxis in der EU.
Ganz anders scheint die Stimmungslage bei der CDU im EU-Parlament zu sein. „Mit der Einigung erzielen wir auch einen Triumph europäischer Werte über politische Stagnation und Boykott“, freute sich Lena Düpont (CDU) auf Anfrage. Die innenpolitische Sprecherin von CDU und CSU im Parlament lobte ein „faires“, „effizientes“ und „zukunftsfähiges“ Asyl- und Migrationssystem.
SPD schluckt in Brüssel Asyl-Kompromiss – Ungarn und Polen rütteln schon wieder daran
Marquardt zweifelt das an – genauso wie die Hoffnung, dass „GEAS“ Rechtspopulisten schwächen wird. „Die Stimmung ist jetzt, dass man eine gemeinsame Lösung gefunden hat. Aber es wurde ja keine einfache Lösung beschlossen, sondern 1000 Seiten komplizierte Regeln. Es wird sehr viel zusätzliche Bürokratie geschaffen.“ Er erwarte einen „großen Flickenteppich“. Das ergebe aber auch Spielräume bei der Umsetzung. „Das Asylrecht ist schlechter als vorher, aber es ist nicht abgeschafft. Es gibt nur noch mehr Arbeit.“ Viele Felder seien von GEAS gar nicht betroffen, etwa Integration, Arbeitskräfte und der Ausgestaltung von Abkommen mit Drittstaaten.
Die Konservativen kritisierte Marquardt. Deren Grundannahme sei, „dass man Rechtspopulisten schwächt, in dem man Teile von Forderungen und Vorurteile übernimmt, oder ‚die Leute an den Stammtischen abholt’. Aber es ist nicht erst seit gestern zu sehen, dass das nicht funktioniert.“ Natürlich gehe es darum, reale Probleme zu lösen – aber auch um eine „Krisenwahrnehmung“ und „darum, wie man die Lage erklärt und für das Asylrecht wirbt. Das hat sich im Fall der Ukraine gezeigt.“
An den Plänen wird ohnehin schon gerüttelt. „Ungarn wird sich niemals dem Massenmigrationsrausch beugen!“, schrieb Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán auf X. Die Umverteilung oder Zahlung bei Nichtaufnahme von Migranten werde „für Polen sicherlich nicht gelten“, erklärte sein polnischer Amtskollege Donald Tusk. (fn/as)
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