Alle Antworten zum Online-Riesen
„Shoppen wie ein Milliardär“ bei Temu: Grandiose China-Böller oder trügerische Schnäppchen?
Vor einem Jahr drängte die Plattform Temu auf den deutschen Markt. Die Angebote sind zu schön, um wahr zu sein. Was hat es damit auf sich?
München – Blitzdeal! Ein „stylischer Gürtel aus echtem Rindsleder“ – schon 23 000 Mal verkauft. Wer jetzt klickt, bekommt ihn um 63 Prozent reduziert und zahlt nur noch 7,11 Euro. In fünf bis neun Werktagen soll er vor der Haustür liegen, Versand gratis. „Guter Gürtel. Weiß nur nicht, wo da das Rindsleder sein soll“, kommentiert ein deutscher Käufer. Seit einem Jahr ist die Online-Plattform Temu in Deutschland verfügbar. Unter dem Motto „Shoppe wie ein Milliardär“ kann man so ziemlich alles kaufen: Socken, Autositzbezüge, Heißluftfritteusen oder eine Papageienbadewanne – und das zu extrem niedrigen Preisen. T-Shirts ab 1,79 Euro, kabellose Kopfhörer für 6,07 Euro, eine Drohnen-Kamera für 38,46 Euro. So gut wie jedes Angebot ist rabattiert. Wie kann das sein – und wo ist da der Haken?
Was ist Temu?
Temu ist eine Plattform für Händler mit Sitz in China. Das Konzept funktioniert wie ein Online-Basar. Die Aufmachung der Webseite ist chaotisch, Hinweise wie „Beeil dich, gleich ist es weg“ drängen zum schnellen Kauf. Hin und wieder können Nutzer an einem virtuellen Glücksrad drehen oder an Gewinnspielen teilnehmen. Das Konzept funktioniert: Der Shop ist erst seit April 2023 auf dem deutschen Markt und rangierte schon wenige Monate später auf der Liste der meistgenutzten Online-Marktplätze in Deutschland auf Platz vier, direkt hinter den Giganten Amazon, Ebay und Otto. Laut einer Umfrage des Marktforschungsunternehmens Appinio haben 26 Prozent der Deutschen zwischen 16 und 65 Jahren allein im zweiten Halbjahr 2023 über Temu eingekauft. Im März hat sich Temu auch für Verkäufer aus den USA geöffnet, eine Öffnung für europäische Händler ist in Planung.
Wer steckt hinter Temu?
Temu ist eine Tochtergesellschaft der PDD Holdings mit Sitz in Shanghai. Die Plattform ging erstmals im September 2022 an den Start, zunächst in den USA. Die Idee der Gründer war, US-Amerikanern einfacheren Zugang zu Produkten aus China zu verschaffen. Im Frühjahr 2023 verlegte die PDD Holding ihren Hauptsitz von Shanghai nach Dublin – Irland gilt als besonders attraktiv in Sachen Steuern. Von dort expandierte das Unternehmen dann im April 2023 auch in den europäischen Markt: Neben Deutschland startete der Shop in Frankreich, Italien, in den Niederlanden, in Spanien und Großbritannien. Die PDD Holding hat ihren Gewinn im vergangenen Jahr fast verdoppelt. Das Unternehmen meldete kürzlich einen im Jahresvergleich um 90 Prozent erhöhten Nettogewinn von umgerechnet 7,6 Milliarden Euro.
Warum ist Temu so billig?
Temu selbst erklärt die extrem niedrigen Preise mit seinem Dropshipping-Modell: Dabei haben Shop-Betreiber keine eigenen Produkte vorrätig – die Hersteller verschicken die Ware also direkt an den Kunden, ohne sie zwischenzulagern. Das reduziere Transport- und Lagerkosten, sagte ein Temu-Sprecher gegenüber unserer Zeitung. Amazon hat hingegen nach eigenen Angaben 20 Logistikzentren in Deutschland.
Der US-Kongress führt die niedrigen Preise bei Temu hingegen auf katastrophale Arbeitsbedingungen zurück. „Die amerikanischen Verbraucher sollten wissen, dass es ein extrem hohes Risiko gibt, dass die Lieferketten von Temu mit Zwangsarbeit kontaminiert sind“, heißt es in einem Bericht vom Juni 2023. Demnach sei das Geschäftsmodell von Temu so ausgerichtet, dass damit das US-Verbot zur Einfuhr von Produkten aus Zwangsarbeit in China einfach umgangen werden kann. Temu verkaufe Produkte, die mit „Baumwolle aus Xinjiang“ deklariert werden – die Baumwollindustrie in der Uiguren-Region sei „untrennbar mit Zwangsarbeit verbunden“, heißt es. Der Temu-Sprecher sagt, die Vorwürfe seien „aus der Luft gegriffen“. Temu setze sich „für die Einhaltung ethischer Arbeitspraktiken ein“, indem es Zwangs-, Kinder- oder Strafarbeit verbiete.
Ist Temu ein Einzelphänomen?
Nein, auch andere chinesische Billiganbieter sind in Europa auf dem Vormarsch. Zu den Konkurrenz-Unternehmen von Temu gehören etwa Shein und AliExpress. Shein spezialisiert sich auf Fast Fashion aus China und gilt inzwischen als größtes Modeunternehmen der Welt. AliExpress funktioniert ähnlich wie Temu und wird oft als chinesisches eBay bezeichnet. Alle drei Plattformen stehen wegen Qualitätsproblemen, Gesundheitsrisiken und mangelnder Nachhaltigkeit in der Kritik.
Die EU hat hohe Sicherheitsstandards. Kann die Qualität bei Temu dann wirklich schlecht sein?
Kürzlich sorgte ein Testkauf des europäischen Spielwarenverbandes für Schlagzeilen. 19 Spielwaren von Temu hatte der Verband prüfen lassen. „Keines der Spielzeuge entsprach in vollem Umfang den EU-Vorschriften, 18 von ihnen stellen ein Sicherheitsrisiko für Kinder dar“, erklärte der Verband. Ein Schleimspielzeug, das Babys in den Mund nehmen, enthielt eine Chemikalie, deren Grenzwert um das Elffache überschritten war. Ein andermal sorgten Kleinteile für Erstickungsgefahr.
Die Verbraucherzentrale warnt vor Temu. Sonja Neumann, Referentin für Recht bei der Verbraucherzentrale Bayern, sagt: „Die Produkte sind nicht immer rechtskonform. Kommen die Produkte von außerhalb der EU, ist der Importeur verantwortlich.“ Das gelte bei einer Einfuhr aus wirtschaftlichen Zwecken, wenn das Produkt zum Verkauf oder Vermieten eingeführt wird. Wenn jemand privat etwa ein Spielzeug kauft und verschenkt, gilt die Haftung nach Einschätzung der Verbraucherzentrale nicht. Die Verkäufer in China seien schwer greifbar. Vor allem bei Elektroartikeln sollten Verbraucher „unbedingt“ auf eine zugelassene CE-Kennzeichnung achten: Das ist ein Hinweis darauf, dass ein Produkt vom Hersteller geprüft wurde und alle EU-weiten Anforderungen an Sicherheit, Gesundheitsschutz und Umweltschutz erfüllt sind.
Wird auf Nachhaltigkeit geachtet?
Der Einkauf bei Temu würde die Umwelt enorm belasten, sagt Verbraucherschützerin Sonja Neumann. „Die Produkte sind nicht darauf ausgelegt, lange zu halten oder wiederverwendet zu werden. Stattdessen landen sie in der Regel nach kurzer Zeit im Müll.“ Zudem fliege die Ware in mehreren Plastiktüten verpackt um den halben Globus, bevor sie vor einer deutschen Haustür liegt.
Temu selbst wirbt damit, nachhaltiger als der Einzelhandel zu sein. „Das traditionelle Einzelhandelsmodell basiert auf spekulativer Produktion und Versand, was oft dazu führt, dass eine beträchtliche Menge an Waren unverkauft bleibt und leider auch auf Mülldeponien landet“, sagt der Sprecher. Temu arbeite dagegen mit einem „nachfragegesteuerten Modell“. Außerdem schmückt sich das Unternehmen damit, bereits über fünf Millionen Bäume in Afrika gepflanzt zu haben. Die Verbraucherzentrale spricht von Greenwashing, also Werben mit falschen Klima- oder Umweltschutzversprechen.
Wie steht es mit dem Zoll?
Zollgebühren fallen erst ab 150 Euro an. Temu-Ware liegt meist darunter. Die Menge an Bestellungen verhindere jedoch, dass alle Pakete geprüft werden können, sagt Neumann. Von 2022 auf 2023 hat sich die Einfuhr von zollfreien Päckchen nach Europa verdoppelt – unter anderem wegen Temu. Die EU-Kommission will daher bis 2028 die Zoll-Freigrenze abschaffen. Die Menge an Paketen von Temu und dessen Konkurrent Shein sorgt sogar für Engpässe im weltweiten Lufttransport und treibt die Fracht-Raten auf Rekordhöhe. Laut Branchenexperten fliegen Shein und Temu je 4000 bis 5000 Tonnen Waren täglich aus. Das sind hundert Frachter vom Typ Boeing 777 – jeden Tag. Allein nach Deutschland verschickt Temu laut „Handelsblatt“ rund 200 000 Pakete – täglich. Bei Shein soll es eine vergleichbare Menge sein.
Der Temu-Sprecher betont, man halte alle EU-Vorschriften ein. „Wir teilen keine Pakete, um Zollkontrollen zu umgehen, und geben auch keine falschen Erklärungen ab.“ Würden Pakete aufgeteilt, geschehe das „ausschließlich aus logistischen Gründen“, etwa um Gewichtsbeschränkungen einzuhalten oder „um gesetzlichen Vorschriften zu entsprechen, die den getrennten Versand bestimmter Artikel vorschreiben“.
Wohin gehen Retouren?
Laut dem Temu-Sprecher werden die Retouren an ein EU-Sammelstellenlager gesandt. Nach einer Qualitätsprüfung würden diese gebündelt an die Verkäufer zurückgeschickt. „Derzeit stammen die meisten Erzeugnisse aus China. Wir gehen davon aus, dass wir durch die Öffnung der Plattform für Verkäufer aus den USA und Europa schließlich in der Lage sein werden, eine globalere Produktpalette anzubieten.“