Todesschuss von Grassau-Mietenkam
„Schreit zum Himmel“? Massive Vorwürfe von Eltern des Erschossenen (†35) – Staatsanwalt reagiert
Am 9. Dezember 2024 wurde in Grassau-Mietenkam ein 35-Jähriger Mann nach einer Geiselnahme von einem Polizisten erschossen. Jetzt reden die Eltern des Getöteten erstmals mit der OVB-Redaktion und erheben schwere Vorwürfe gegen die Polizei. So kontert die Staatsanwaltschaft.
Grassau - Der Todesschuss von Grassau-Mietenkam am 9. Dezember 2024 schockte eine ganze Region. In den Monaten seitdem war nur die Version der Polizei bekannt, wie die schrecklichen Ereignisse jenes Abends samt Notruf und Geiselnahme der Mutter abgelaufen sein sollen. Bis zum Montag (28. April 2025), als eine Mail der Eltern des getöteten 35 Jahre alten Mannes die OVB-Redaktion erreichte. Inhalt: Eine brisante Stellungnahme unter dem Titel „Wie unser einziger Sohn durch Polizeigewalt ums Leben kam.“ Mit vielen Fragen, die sich wohl jeder Vater und jede Mutter nach solch einer Tragödie stellen würde.
„Sinnloser Tod eines Zivilisten“
„Das war kein Einsatz bei dem Jemand hätte sterben müssen. Das ist der sinnlose Tod eines Zivilisten, der gegen die Gewalt durch mindestens sechs bewaffnete Polizeibeamten keine Chance hatte und auch keine Chance bekommen hat! Nur wegen der äußerst aggressiven, brutalen, gnadenlosen und übereilten Vorgehensweise der Polizei musste unser einziger Sohn sterben“, schreiben die Eltern, die ihren Namen nicht öffentlich preisgeben wollen: „Für immer und ewig aus dem Leben gerissen und unwiederbringlich. So viel Verachtung für menschliches Leben schreit zum Himmel!“
Zum Schluss des emotionalen Schreibens folgt der wohl wichtigste Grund, warum die Eltern nach so langer Zeit ihr Schweigen gebrochen haben: „Wir hoffen, dass der Tod unseres Sohnes nicht unter den Teppich gekehrt wird und von einem unparteilichen Gericht geprüft wird!“ Das wäre dann der Fall, wenn die Ermittlungen einen hinlänglichen Straftats-Verdacht gegen den Polizisten ergeben würden, der den tödlichen Schuss abgegeben hat. Geführt werden die Untersuchungen von unabhängigen Ermittlern des Bayerischen Landeskriminalamts unter fachlicher Führung der Staatsanwaltschaft Traunstein.
Staatsanwalt: Schusswaffengebrauch rechtmäßig
„Auch nach den aktuellen Erkenntnissen besteht weiterhin kein Anfangsverdacht für ein strafbares Verhalten durch den Polizeibeamten, der deshalb als Zeuge vernommen wurde“, schreibt Oberstaatsanwalt Rainer Vietze auf Anfrage des OVB: „Nach aktuellem Verfahrensstand ist von der Rechtmäßigkeit des polizeilichen Schusswaffengebrauchs auszugehen.“ Das Vorermittlungsverfahren sei allerdings noch nicht abgeschlossen: „Insoweit bleiben die Ergebnisse der weiteren Überprüfung abzuwarten. Es steht insbesondere noch der Abschlussbericht des Bayerischen Landeskriminalamts aus.“ Derzeit gilt der Polizist, der den tödlichen Schuss abgegeben hat, nicht als Beschuldigter, sondern als Zeuge.
Die Erklärung der Eltern mit der Schilderung der Mutter über den Tathergang könnte mehr Licht ins Dunkel ins bringen - schließlich ist sie die einzige Person abseits der beteiligten Einsatzkräfte, die das Geschehen miterlebt hat. Laut OVB-Recherchen war sie nur Ende Januar zu einer offiziellen Vernehmung geladen. Dort habe sie auf Anraten ihres damaligen Anwalts allerdings die Aussage verweigert, weil gegen ihren getöteten Sohn als mutmaßlicher Täter ermittelt wurde. Der Grund für die Bezeichnung als Täter: Der 35-Jährige Mann hatte seine Mutter laut eigener Aussage als Geisel genommen und war nach dem Eintreffen der Einsatzkräfte mit einem Messer in der Hand nach draußen gelaufen.
So war der Tathergang aus Sicht der Eltern
Diese Angaben der Polizei bestätigen die Eltern des Getöteten in ihrem Schreiben und schildern den dramatischen Verlauf des Abends detailliert. Sie sprechen von Depressionen ihres Sohens, am Abend des 9. Dezember 2024 sei sein Stresspegel so erhöht und er so verzweifelt gewesen, „dass er ganz spontan beschlossen hat, sein Leben beenden zu wollen bzw. getötet zu werden. Er sagte zu seiner Mutter: ‚Heute ist mein letzter Tag.“ Dann habe er den Notruf/die Polizei angerufen und behauptet, er hätte seine Mutter als Geisel genommen.
Brisant allerdings ein Detail, dass die Eltern in ihrer Stellungnahme in diesem Zusammenhang schildern: Es habe aber gar keine Geiselnahme gegeben, was seine Mutter in seiner unmittelbaren Nähe während des von ihm getätigten Notrufes auch mehrmals lautstark wiederholt habe. Danach informierte die Mutter den getrennt lebenden Vater, der sofort ins Auto stieg und nach Grassau-Mietenkam raste. Als er nach einer Fahrzeit von 25 bis 30 Minuten eintraf, war der Sohn bereits durch eine Polizeikugel gestorben.
„Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden“
Der genaue Ablauf vor dem Todesschuss wird von den Eltern so geschildert: „Sie haben an der Haustür geklingelt und die Mutter hat die Tür geöffnet, denn sie dachte, der Vater wäre angekommen. Zwei Polizeibeamte mit Schutzschildern vor den Körpern wollten ins Haus eindringen. Als die Mutter erkannte, es ist die Polizei, sagte sie sofort: ‚Ich bin keine Geisel!‘ Unser Sohn hielt ein Messer aus der Küche in der Hand, welches er seit dem Notruf nicht mehr abgelegt hatte. Als unser Sohn die Polizei gesehen hat, ist er an ihnen vorbei aus dem Haus gestürmt. Er konnte ja gar nicht wissen, dass draußen zwei weitere Polizeibeamte mit schussbereiten Waffen in den Händen nur darauf warten. Als er die ersten ein, zwei Schritte aus dem Haus gemacht hat, wurde ihm ins Herz geschossen und er starb auf der Stelle. Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden und es erinnert uns eher an einer Hinrichtung als an einen Polizeieinsatz.“
Harte Vorwürfe der Eltern, die in ihrer Erklärung ebenfalls einräumten, dass ihr Sohn an diesem Tag sein Leben beenden wollte. War es also ein gezielter Selbstmord des 35-Jährigen Mannes durch einen Polizisten, der im Fachjargon als „SBC - suicide by cop“ (Selbstmord durch Polizisten) bezeichnet wird? Eine Frage, die vermutlich nur der Getötete selbst beantworten könnte.
Die Fragen der Eltern
Die Eltern stellen sich aber auch noch andere Fragen: Zum Beispiel, warum es keinen Versuch einer Deeskalation oder eines Gesprächs durch geschulte Fachkräfte mit ihrem getöteten Sohn gab, wie es sonst bei Geiselnahmen gemeinhin üblich sei. Die Redaktion stellte diese Frage der Staatsanwaltschaft, bekam allerdings keine Antwort. Zum Einsatz waren schnell zusammengezogene Polizisten aus der Region gekommen. Was die Eltern zur nächsten Frage führt: Warum wurde das Spezialeinsatzkommando (SEK) mit ausgebildeten Psychologen und spezialisiert auf Geiselnahmen nicht eingeschaltet?
Eine Antwort darauf hat kurz nach der Tat Jürgen Köhnlein als Bayerns Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft gegeben: „Nach Amokläufen wie dem von Ansbach hat sich eine Änderung in der Philosophie von Polizei-Einsätzen ergeben. Die anrückende Streife muss sofort intervenieren, wenn akute Gefahr besteht. Was bringt es, wenn die Polizisten den Tatort absperren. Und bis das SEK kommt, sind die Opfer einer Geiselnahme oder eines Amoklaufs verstorben?“
Eine Notlage habe es auch vor dem Todesschuss von Grassau ganz offenbar gegeben. Die Einsatzkräfte vor Ort gingen von einer Geiselnahme und einer „akuten Notlage für die Mutter“ des 35-jährigen Messer-Angreifers aus, zumal es zuvor am Telefon „lautes Geschrei im Hintergrund“ gegeben habe. „Wenn Hilferufe da sind, wenn Menschenleben in Gefahr sind, müssen die Beamten handeln“, so Köhnlein zum OVB: „Sonst hätte es möglicherweise ein Blutbad gegeben.“
Die „Eine-Million-Euro-Frage“
Das sehen die Eltern des Getöteten anders. Die „Eine-Million-Euro-Frage“ für sie ist, warum ihrem Sohn direkt ins Herz und nicht ins Bein geschossen wurde. Auch darauf hat Köhnlein bereits geantwortet: „Es gibt in solchen Momenten für einen Polizisten nur zwei Möglichkeiten: Entweder Flucht oder der Einsatz der Schusswaffe. In Bruchteilen von Sekunden gezielt in Arm oder Bein zu schießen, ist schlichtweg nicht möglich.“
Bleiben noch weitere offene Fragen der Eltern: „Kannten die Polizeibeamten, der Einsatzleiter oder der Todesschütze unseren Sohn privat oder aus früheren Einsätzen?“ Auch diese konkrete Frage des OVB wurde von der Staatsanwaltschaft nicht beantwortet.
Bleibt noch die Gegenfrage, warum die Eltern erst jetzt den Weg an die Öffentlichkeit gesucht haben. Der Vater begründet das nach Rückspräche mit dem OVB mit Empfehlungen des von der Rechtsschutzversicherung bereitgestellten Anwalts. Diesem sei inzwischen aber gekündigt worden, die Suche nach einem neuen Rechtsvertreter läuft.
Sagt die Mutter doch noch aus?
Möglichweise würde eine Aussage der Eltern bei den Ermittlern helfen, die deren Version der schrecklichen Ereignisse ja noch gar nicht kennen. Die Tür ist laut Rainer Vietze jedenfalls noch offen, wie er dem OVB bestätigt: „Der Mutter des Verstorbenen wurde bereits Gelegenheit zu geben, sich zu äußern. Die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in dem Vorermittlungsverfahren oder zu einer Aussage als Zeugin besteht weiterhin.“

