Wenn Menschen „desorganisiert“ leben
Vermüllen, Horten, Messie-Syndrom: So hilft Robert Birk im Wasserburger Land bei Wohn-Chaos
Chaos in der Wohnung: Das hat fast jeder schon mal erlebt. Doch wenn die Unordnung überhandnimmt, kann ein Hang zum „desorganisierten Leben“ dahinter stecken. Sozialpädagoge Robert Birk betreut Menschen, deren Wohnungen überquellen und vermüllen. Ab wann das Sammeln zur Krankheit wird.
Wasserburg/Rosenheim – Bücher stapeln sich bis unter die Decke, der Müll sammelt sich, das dreckige Geschirr verkrustet in der Spüle. Wenn das Chaos in der Wohnung so überhandnimmt, dass kein Durchkommen mehr ist, dann hilft Robert Birk. Seit knapp einem Jahr bietet der Sozialpädagoge regelmäßig im Wasserburger Bürgerbahnhof eine Sprechstunde für „Desorganisiertes Wohnen und Leben“ an. Birk ist Leiter der koordinierten Fachstelle für pathologisches Horten der Diakonie Rosenheim und betreut Menschen, in deren Wohnungen sich Gegenstände türmen. Die Dunkelziffer der Betroffenen ist hoch, berichtet er.
Etwa 9.000 Personen im Landkreis und Stadt Rosenheim, schätzt Sozialpädagoge Birk, leiden unter solchen Wohnverhältnissen. Zwei bis fünf Prozent der Menschen in Deutschland sind betroffen. Die Zahlen gehen allerdings teils weit auseinander, auch weil sich wenige Betroffene melden. „Die Scham ist sehr groß“, sagt Birk. Oft sei der soziale Rückzug eine Folge des Lebensstils. Wie viele Betroffene es wirklich gibt, weiß deshalb niemand.
„Trockene“ und „nasse“ Sammler
„Desorganisiertes Wohnen“, der Laie würde diese Personen wohl als „Messie“ bezeichnen. Ein Begriff, den Birk vermeidet, zum einen wegen des sozialen Stigmas. Zum anderen, weil es verschiedene Formen von „Desorganisiertem Wohnen“ gebe. „Es gibt die trockenen oder aktiven und die nassen oder passiven Sammler“, sagt Birk. Als „trockene Sammler“ bezeichnet der Sozialpädagoge Personen, die aktiv Gegenstände sammeln, weil sie für sie von unschätzbarem Wert sind. Die vorherrschende psychische Erkrankung hier sei das „pathologische Horten“, eine anerkannte Zwangsstörung.
Oft seien Traumata der Auslöser für die Erkrankung, die Gegenstände würden den Personen Sicherheit geben, sagt Birk und berichtet von Wohnungen, wo nur noch schmale Gänge zu den wichtigsten Orten führen. Oft herrsche zwar Ordnung in dem Chaos, dennoch seien die Einschränkungen nicht zu unterschätzen. Bei einer Klientin, die exzessiv Bücher sammle, sei beispielsweise schon die Statik des Hauses angegriffen.
„Nasse Sammler“ im Gegensatz dazu würden oft an einem Vermüllungs-Syndrom leiden. „Hier häufen sich oft Lebensmittelreste, Kot und grundsätzlich Abfall in der Wohnung“, erklärt Birk. Meist würden hier andere psychische Erkrankungen im Vordergrund stehen, wie Depression oder Schizophrenie, die es den Betroffenen unmöglich machen würden, Herr der Lage zu werden. „Wer an einer wirklich schweren Depression erkrankt ist, schafft es oft nicht, aus dem Bett aufzustehen. Die Vermüllung der Wohnung kann somit die Folge sein“, sagt der Sozialpädagoge. Diese Personen werden deshalb auch als passive Sammler bezeichnet. Unter dem bekannten Begriff des „Messie-Syndroms“ ordnet Birk Menschen ein, die eine Misch-Form aus beiden Sammlertypen aufweisen. Wobei er betont, dass Fälle meist so individuell seien, dass diese Einordnung immer wieder verschwimme.
„Der Bedarf ist enorm“
Seit Mai 2023 ist Birk in der Fachstelle für pathologisches Horten angestellt. Demnächst soll das Angebot personell und materiell aufgestockt werden, denn: „Der Bedarf ist enorm.“ Allein im vergangenen Jahr hätten ihn 150 Anfragen erreicht, oft von Nachbarn und Angehörigen, die unter den Lebensumständen leiden würden, oder von Behörden wie dem Gesundheitsamt. „Seltenst kommen die Anfragen von den Betroffenen selbst“, sagt Birk. Die Scham sei schlicht zu groß.
Auf Wunsch auch Hausbesuche
65 Personen habe er zu Hause besucht, 20 Betroffene betreue er durchschnittlich gleichzeitig. „Grundsätzlich sind alle Altersgruppen vertreten“, erklärt er. Derzeit kümmere er sich um Personen zwischen 21 und 84 Jahren in jeder Einkommensstufe. „Ich habe auch Klienten, die im Besitz mehrerer Häuser sind“, sagt er. Wobei „desorganisiertes Wohnen“ vermehrt bei einkommensschwächeren Personen auftrete. Als Sozialpädagoge steht Birk den Betroffenen beratend zur Seite und macht, wenn gewünscht, auch Hausbesuche und unterstützt die Betroffenen beim Entrümpeln oder Sortieren.
Wobei Birk betont, dass nicht jeder Hobby-Sammler an „pathologischem Horten“ erkrankt ist. „Der typische Modelleisenbauer mit mehreren Bahnen im Keller ist kein Horter“, sagt Birk. Zur Störung werde es erst, wenn die Personen selbst und/oder Dritte wie Nachbarn oder Angehörige unter dem Lebensstil leiden würden. „Wenn eine Person sich nicht mehr angemessen ernährt, sich immer mehr zurückzieht, dann handelt es sich um ein Problem“, so Birk.