Keine Plätze für Kinder mit Behinderung
„Riesen-Missstand“ in der Betreuung: Wie Carmen Cimander aus Soyen für ihre Kinder kämpft
Carmen Cimander aus Soyen betreut ihre Pflegekinder Aylin (5), Vivienne (7) und Madjid (4) mit Herzblut. Lange kämpfte sie um einen Kindergartenplatz – hatte irgendwann auch Erfolg. Trotzdem ist die Situation unbefriedigend. Woran Inklusion in der Praxis immer wieder scheitert.
Soyen – Mittwochvormittag: Eigentlich sollte Aylin (5) im Kindergarten sein. Stattdessen dringt ihre kindliche Stimme aus dem Kinderzimmer: „Mama, Mama“. Damit ist Carmen Cimander gemeint, ihre Pflegemutter. Über ein Jahr hat die Soyenerin, die als Fachkraft eine Intensivpflegestelle für Kinder mit fetaler Alkoholspektrumstörung (FASD) und Trauma betreibt, nach einem Kindergartenplatz für die Fünfjährige gesucht. Im Frühjahr vergangenen Jahres hatte OVB darüber berichtet. Inzwischen hat sie einen gefunden. Seit Anfang September gehen Aylin und ihr Bruder Madjid (4) in die Kindertagesstätte Mariä Himmelfahrt in Kirchdorf.
Damit sollte eigentlich alles gut sein, oder etwa nicht? Nein, denn Aylin verpasst an diesem Mittwoch zum wiederholten Mal einen Kindergartentag. Und das nicht etwa, weil sie krank ist. „Ihre Individualbegleiterin ist heute ausgefallen“, sagt Cimander. Für Aylin bedeutet das: Sie muss wieder einmal zuhause bleiben, denn ohne Begleitung kann die Fünfjährige den Kindergarten nicht besuchen.
Aylin hat FASD und Epilepsie. Ihre leibliche Mutter hat während der Schwangerschaft Alkohol getrunken, das Mädchen hat hirnorganische Schäden davon getragen. Sie ist geistig massiv eingeschränkt, außerdem weist sie stark autistische Züge auf. „Aylin ist schnell reizüberflutet“, erklärt Cimander. „Wenn es ihr zu viel wird, fängt sie laut zu schreien an und hält sich die Hände schützend über den Kopf.“ Das einzige, das helfe: Aylin aus der Situation herausnehmen, mit ihr einen ruhigen Ort suchen und warten, bis sich das Mädchen wieder reguliert hat. Dafür brauche sie eine Individualbegleiterin, die sie alleine beispielsweise im Garten des Kindergartens betreuen könne. „Aylin braucht einen Kompass in sämtlichen Alltagssituationen“, erklärt Cimander. „Dafür ist die Individualbegleitung da.“
„Individualbegleiter zu finden und zu behalten ist fast unmöglich“
Aylin habe einen nachgewiesenen Anspruch darauf – und doch sei die Theorie, wie so oft, weit von der Praxis entfernt. „Individualbegleiter zu finden und zu behalten ist fast unmöglich“, sagt Cimander. Zwei Personen seien bereits im ersten Kindergarten-Monat abgesprungen. „Die erste Begleiterin hat sich wohl etwas anderes vorgestellt“, erzählt Cimander. Sie habe bereits nach zwei Tagen wieder gekündigt. Bei dem zweiten Begleiter, einem älteren Herrn, hätte es mit Aylin nicht geklappt. „Sie wollte sich zum Beispiel nicht von ihm wickeln lassen“, sagt Cimander und findet: „Es ist ihr gutes Recht zu entscheiden, wer sie anfassen darf.“
Inzwischen hat deshalb Natalie Cimander, Carmen Cimanders leibliche Tochter, die Individualbegleitung übernommen. Sie war davor Teilzeit als FASD-Fachkraft bei ihrer Mutter angestellt, nun hat sie die Stelle aufgegeben, um Aylin täglich im Kindergarten zu begleiten. Entsprechend fehle sie im Haushalt, sagt Carmen Cimander. „Aber es geht nun mal nicht anders.“ Das ist ein Satz, den Cimander oft ausspricht. „Es ist nicht ideal, aber es geht nun mal nicht anders.“
Kirchdorfer Kindergarten „nicht ideal“
Auch der Kindergarten in Kirchdorf sei „nicht ideal“ für ihre beiden Kinder. „Keine Frage, ich bin dem Kindergarten sehr dankbar, dass sie Aylin und Madjid genommen haben, aber eigentlich ist es nicht das Richtige.“ Die Kinder seien überfordert mit der großen Gruppe, auch die nötigen Therapien könnten nur bedingt in den Kindergartenalltag integriert werden. Madjid brauche beispielsweise Ergo-, Physio- und Logopädie. Denn der Vierjährige hat eine genetische Anomalie, ist autistisch, spricht nicht, kann kaum laufen und wird über eine Sonde ernährt.
„Kann nicht die Lösung sein“
In einer Heilpädagogischen Tagesstätte wäre dies alles in einem Ort und könne spielerisch integriert werden. Im Regel-Kindergarten nicht. „Ich habe externe Therapeuten, die zum Kindergarten kommen, organisiert. Aber das kann nicht die Lösung sein“, sagt Cimander. Das Problem: Einen Platz in einer Heilpädagogischen Tagesstätte (HPT) zu finden, sei fast unmöglich. „Ich habe alle Einrichtungen im Umkreis von einer Stunde Fahrzeit abtelefoniert, aber niemand kann die beiden nehmen.“ Auch die Verfahrenslotsen aus Rosenheim hätten tatkräftig bei einer Platzsuche unterstützt, doch selbst dieser Fachdienst habe keinen Erfolg verzeichnen können.
Nun also doch der Kirchdorfer Kindergarten. Eigentlich ein Glücksfall, denn lange sah es so aus, als müsste Madjid noch ein Jahr zuhause bleiben. „Ich habe das Team dort angefleht, damit sie ihn aufnehmen“, sagt sie. „Ich kann ihn doch nicht wieder ein Jahr zuhause lassen. Er braucht soziale Teilhabe, gerade dieses Alter ist doch so prägend.“ Dennoch sei es lediglich eine Notlösung.
Älteste pendelt zwischen Attl und Kloster Au
Doch nicht nur für Aylin und Madjid musste Cimander auf einen Plan B zurückgreifen. Auch die Älteste, Vivienne, sollte eigentlich noch in eine Schulvorbereitende Einrichtung (SVE) gehen. Sie hat FASD und ist wie Aylin geistig eingeschränkt, hat außerdem epileptische Anfälle. „Eigentlich hätte sie noch ein Jahr in der SVE gebraucht“, sagt Cimander. Doch auch hier sei kein Platz zu finden. „Jetzt geht sie eben doch in die Schule, entgegen jeglicher Empfehlung.“ Immerhin gefällt es der Siebenjährigen in der Stiftung Attl und immerhin kann sie auch eine Heilpädagogische Tagesstätte besuchen und erhält dort Therapien. Allerdings nicht in Attl, sondern in Kloster Au. „Die HPT der Stiftung Attl hatte keinen Platz für sie.“
Die Konsequenz: Als Erstklässlerin sitze Vivienne jeden Tag über zwei Stunden im Bus, um von einem Ort zum nächsten gefahren zu werden. Eine enorme, zusätzliche Belastung, wie Cimander findet. Doch wieder stellt sie fest: „Es geht nicht anders.“
Für die Soyenerin steht fest: „Wir haben einen Riesen-Missstand.“ Das Problem sei, dass sich keine Behörde dafür interessiere, stattdessen würden sich Jugendamt und der Bezirk gegenseitig die Verantwortung zuschieben. „Wir brauchen jemanden von oben, der Plätze freischaufelt oder mehr davon schafft“, sagt sie. Denn so könne es nicht weitergehen.
Die Kinder seien in der Gegend verwurzelt, hätten hier ihre Familie, fühlten sich hier wohl. Nur von staatlicher Seite könne keine adäquate Betreuung gewährleistet werden, weil zu wenig Plätze geschaffen würden. „Meine Kinder sind ja kein Einzelfall“, stellt sie fest. Im Gegenteil: „Jede Familie, mit der ich spreche, hat dieselben Probleme.“ Cimander ist frustriert: „Wir reden von Inklusion, aber für mich ist sie gescheitert“, sagt sie. „Absagen von Kitas aufgrund der besonderen Behinderung oder weil wir einen Integrationsplatz brauchen, sind keine Ausnahme“, erzählt Cimander und stellt fest: „Wegen ihrer Behinderung werden meine Kinder oft wie Menschen dritter Klasse behandelt, anders kann man es nicht sagen.“
„Kein Rechtsanspruch auf einen HPT-Platz“: Das sagt der Bezirk Oberbayern
Auf Anfrage erklärt Constanze Mauermayer, Pressesprecherin des Bezirks Oberbayern, dass es keinen Rechtsanspruch auf eine Betreuung in einer Heilpädagogischen Tagesstätte (HPT) gebe. „Es gibt einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe zur Deckung eines festgestellten Hilfebedarfs. Das Recht der Eingliederungshilfe sieht jedoch keinen Anspruch auf einen konkreten Betreuungsplatz oder eine konkrete Einrichtung vor.“ Entsprechend setze ein HPT-Platz einen Bedarf voraus. „Sie können jedoch für einen konkreten HPT-Platz nur erbracht werden, wenn der HPT-Platz zur Verfügung steht.“ Diese Verfügbarkeit könne der Bezirk aber nur indirekt beeinflussen. „Der Bezirk Oberbayern als Träger der Eingliederungshilfe hat einen Sicherstellungsauftrag. Das heißt, der Bezirk Oberbayern muss geeignete personenzentrierte Leistungsformen sicherstellen. Dazu werden mit Leistungsanbietern Vereinbarungen über entsprechende Betreuungsangebote geschlossen“. Doch auch andere Faktoren, wie die Alterszusammensetzung und Geschlechterverteilung in einer Gruppe sowie die Häufung von herausfordernden Verhaltensweisen bei Kindern einer Gruppe würden eine Rolle für die Belegung der Plätze spielen. Einen realistischen Einblick in die Bedarfe der Kinder einer HPT hätten nur die zuständigen Fachkräfte vor Ort. Entsprechend liege die letzte Entscheidung über eine Aufnahme in einer HPT beim Träger.
Sollte kein HPT-Platz angeboten werden können, würden alternative Förderangebote geklärt werden, so Mauermayer. „Zum Beispiel ein Integrationsplatz im Kindergarten eventuell ergänzt durch Frühförderung (Komplexleistung interdisziplinäre Frühförderstelle) oder isolierte heilpädagogische Maßnahme oder in Ausnahmefällen Individualbegleitung.“ Der Bezirk Oberbayern sei stets bemüht, mit den einzelnen Trägern der Kindertageseinrichtungen die Platzanzahl der Integrationskinder auf ein Drittel der in der Betriebserlaubnis angegebenen Kinder festzulegen, um eine inklusive Betreuung zu gewährleisten. Eine Belegung der einzelnen Integrationsplätze erfolge durch die Einrichtungen selbst. „Jedoch bemühen wir uns, zu einem möglichst hohen Handlungsspielraum und mehr Flexibilität in der Ausgestaltung der inklusiven Betreuung beizutragen“, so Mauermayer.
Insgesamt gebe es im Bezirk Oberbayern etwa 4.700 HPT-Plätze, davon etwa 1.300 Plätze für Kinder im Vorschulalter. Ob es Wartelisten für freie Plätze gebe, sei nicht bekannt. „Wartelisten führt jede HPT individuell. Da Eltern sich in der Regel nicht nur bei einer HPT bewerben, sondern bei mehreren möglichen Einrichtungen, ist es für den Bezirk schwer zu erfassen, wie viele Plätze tatsächlich fehlen.“ Tatsache sei jedoch, dass sich auch in Heilpädagogischen Tagesstätten der Fachkräftemangel immer stärker bemerkbar mache. „In den vergangenen Jahren konnten nicht immer alle, mit dem Bezirk vereinbarten Plätze auch angeboten werden, da Gruppen aufgrund des fehlenden Personals geschlossen werden mussten, oder gar nicht eröffnet wurden“, bedauert Mauermayer. Der Bezirk Oberbayern sei aber jederzeit gerne bereit, Trägern, die Interesse an der Schaffung neuer HPT-Plätze für behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder im Vorschulalter oder Schulalter haben, nach Kräften zu unterstützen.



