„Es fehlt an allen Ecken und Enden“
„Das grenzt an Kindeswohl-Gefährdung“: Wie eine Pflegemutter in Soyen mit dem System kämpft
Seit 15 Jahren ist Carmen Cimander Pflegemutter. Sie ist spezialisiert auf Kinder mit Behinderung und schwerem Trauma. Doch der „Kampf gegen Windmühlen“ zermürbt sie, denn Unterstützung bekommt sie kaum. Nun fehlt auch noch der Kindergartenplatz.
Soyen - „Achtung spielende Kinder“, das grell-rote Schild wirkt ein wenig fehl am Platz vor dem schlichten, weißen Haus in der Nähe des Soyener Bahnhofs. Doch der Warnhinweis ist eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. „Vivienne kann keine Gefahren einschätzen“, erklärt Carmen Cimander. „Es braucht nur eine Katze auf der Straße zu sitzen und sie rennt los.“ Vivienne (6) (die Nachnamen der Kinder werden zu deren Schutz nicht genannt) hat die fetale Alkoholspektrumstörung, kurz FASD genannt, abgeleitet von der englischen Bezeichnung „Fetal Alcohol Spectrum Disorders“. Viviennes leibliche Mutter hat während der Schwangerschaft getrunken, die Sechsjährige hat Schäden davon getragen. Sie ist geistig behindert, hat schwere Epilepsie.
Cimander hat sie bei sich aufgenommen, als das Mädchen ein Jahr alt war und Ärzten durch Zufall auffiel, dass das Kind Anzeichen von Vernachlässigung und Misshandlung aufweist. Das grelle, rote Schild vor dem Haus steht unter anderem wegen ihr dort. Denn Vivienne braucht besonderen Schutz und eigentlich auch besondere Fürsorge, doch die lässt von staatlicher Seite oft zu wünschen übrig, wie ihre Pflegemutter beklagt.
Kinder haben schwere Trauma erlebt
Cimander ist auf Kinder mit FASD und Trauma spezialisiert, hier in dem Haus in Soyen betreibt sie eine Fachpflegestelle. Drei Kinder - Vivienne, Aylin (5) und Madjid (4) - betreut sie derzeit. Alle drei sind schwer traumatisiert, haben Vernachlässigung, körperliche und teilweise auch sexuelle Misshandlung erlebt. Die beiden Mädchen haben zusätzlich FASD. Madjid hat eine genetische Anomalie, er spricht kaum, kann nicht schlucken. Cimander betreut die Kinder, dient seit Jahren als ihr Vormund. Eines der wenigen Worte von Madjid ist für sie bestimmt: „Mama“.
Seit 15 Jahren arbeitet Cimander als Pflegemutter für besonders schwere Fälle. Sie hat schon vieles erlebt, hat auch einige sogenannte „Systemsprenger“ bei sich aufgenommen. Oft sind es Kinder, die aggressiv sind und die Betreuungsangebote der Jugendhilfe überfordern. Anstrengend sei die Arbeit immer gewesen, sagt Cimander, aufgegeben habe sie bisher aber nie. Doch der „Kampf gegen Windmühlen“, wie sie es nennt, zermürbe sie.
Von Behörde zu Behörde weitergereicht
„Jedes Jugendamt wirbt um Intensivpflegestellen, aber Unterstützung bekommt man keine“, klagt sie. Im Gegenteil: Verschiedene Ämter und Behörden würden einander die Verantwortung zuschieben, bei Fragen und Wünschen werde sie vom Jugendamt an den Bezirk weitergeleitet, der für Kinder mit Behinderung zuständig sei, und andersherum. „Und am Ende stehen wir im Regen da“, erzählt Natalie Cimander, die bei ihrer Mutter als Teilzeitkraft angestellt ist. Eigentlich studiert die 28-Jährige nebenher noch Soziale Arbeit, das Studium muss aber im Moment pausieren. „Keine Zeit“, sagt sie, denn ihre „Teilzeitstelle“, binde sie im Moment mehr als Vollzeit ein. Schließlich müsse eine der beiden Frauen immer vor Ort sein, denn obwohl alle drei Schützlinge im Kindergartenalter sind, hat keines einen Betreuungsplatz. Ein Fehler im System.
Keine Kita-Plätze
„Kein Platz“, „Passt nicht zur Gruppe“, diese beiden Sätze habe sie in jüngster Zeit oft gehört, erzählt Carmen Cimander. Seit über einem Jahr sucht sie für Aylin und Madjid nach einem Betreuungsplatz. Bisher ohne Erfolg. Es gebe schlicht viel zu wenig Einrichtungen für Kinder mit einem hohen Betreuungsaufwand. „Ich bin bereit, bis zu einer Stunde Fahrzeit auf mich zu nehmen, aber in der Umgebung gibt es niemanden, der Platz hat.“
Nur Vivienne konnte bisher Kindergartenerfahrung sammeln. Bis vor einem halben Jahr ging sie in die Schulvorbereitende Einrichtung (SVE) ins Kloster Au, in die Klasse für geistig behinderte Kinder. Dann habe ihr damaliger Vormund, gestellt vom Jugendamt, entschieden, sie in eine SVE für lernbehinderte Kinder zu verlegen - ohne dies vorher mit der Pflegemutter abzusprechen. „Ich bin aus allen Wolken gefallen, als ich das erfahren habe. Vivienne kann das gar nicht leisten“, erzählt Cimander. Das Mädchen brauche intensive, individuelle Begleitung, die in der neuen Klasse nicht vorgesehen war.
Nach einigen Wochen bestätigte sich die Befürchtung, Vivienne war unglücklich und überfordert. Außerdem sei es für das Kind gefährlich gewesen. „Vivienne braucht zum Beispiel jemand, der sie auf die Toilette begleitet. Das gab es hier nicht.“ Das Mädchen sollte deshalb zurück ins Kloster Au, doch obwohl Cimander der Platz mündlich garantiert worden sei, wurde die Sechsjährige abgelehnt. Jetzt suche sie auch für die Älteste seit September nach einem Platz.
Cimander ärgert das immens. Schließlich hätten auch ihre Schützlinge einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. „Wo bleibt denn da die Teilhabe? Die Inklusion?“ Alle drei Kinder bräuchten dringend den Kontakt zu Gleichaltrigen und die geistige Förderung. „Natürlich bin ich Fachkraft und habe Erfahrung, aber ich bin dafür nicht zuständig. Auch ich habe meine Grenzen.“ Zumal die individuelle Betreuung, die in einem Kindergarten erbracht werde, zuhause gar nicht geleistet werden könne. „Da geht es auch um Therapien, die dort eingebunden sind“, erklärt Cimander. „Das geht bei uns zuhause nicht.“
Sie kämpft um jede Unterstützung
Dennoch werde oft von ihr als Pflegemutter erwartet, alles zu übernehmen, sagt sie. „Ich bin Mutter, Erzieherin, Lehrerin, Sekretärin, Fahrdienst, Therapeutin und Anwältin. In Kinderheimen gibt es für jede Position eine extra Stelle, wir Pflegefamilien müssen um jede Unterstützung kämpfen.“ So ringe sie derzeit um eine Nachtwache für die zwei die jüngsten. Denn beide bräuchten Betreuung rund um die Uhr. „Aylin hat Epilepsie. Sie krampft nachts. Das kann lebensgefährlich werden.“
Im Moment sind Carmen und Natalie Cimander nachts selbst da, zusätzlich zu der Betreuung am Tag. „An Schlaf ist bei uns schon lange nicht mehr zu denken“, erzählt Carmen Cimander. Dass eine Stelle für die Nachtwache demnächst genehmigt wird, glaubt sie allerdings nicht. Denn schon bei anderen Unterstützungen sei es ein „Kampf gegen Windmühlen.“ „Für Aylins Pflegebett haben wir fast zwei Jahre gekämpft“, erzählt Cimander. Die Fünfjährige bräuchte ein besonders ausgepolstertes Bett, denn ihr Verhalten, vor allem nachts sei oft fremd- und selbst gefährdend. „Sie schlägt um sich. Sie war grün und blau. Jeder konnte sehen, dass sie ein solches Bett braucht. Aber um so eine Unterstützung muss man leider immer kämpfen.“ Immerhin konnte sie eine Teilzeitstelle als Haushaltshilfe aushandeln. Das Personal dafür sucht sie noch.
„Es grenzt an Kindeswohlgefährdung“
Grundsätzlich, so die Meinung der Cimanders, fehle es an allen Ecken und Enden. „Das Wort darf man eigentlich nicht in den Mund nehmen, aber was bei uns im sozialen System im Moment läuft, grenzt an Kindeswohlgefährdung“, sagt Cimander. Pflegefamilien hätten keine Lobby und würden sich selten trauen, gegen die Behörden vorzugehen. „Wenn wir um Unterstützung bitten, wird sofort unterstellt, dass wir der Aufgabe nicht gewachsen sind“, erzählt sie. Statt die Hilfen zu genehmigen, hieße es oft von den Behörden: „Dann geben sie das Kind doch ab.“ Cimander kann das nicht verstehen. „Ich liebe diese Kinder doch wie meine eigenen“, sagt sie. Außerdem sei es nicht förderlich, ein Kind aus dem gewohnten Umfeld herauszunehmen. „Sie in ein Heim zu stecken, kann doch auch nicht die Lösung sein“, findet Cimander. Im Gegenteil, dass die Kinder in einem familiären aufwachsen, sei für eine positive Entwicklung absolut entscheidend. Doch das werde von den Behörden oft vergessen.
Frühförderstelle Wasserburg spricht von „dramatischer Situation“
Thomas Jung, Leiter der Interdisziplinären Frühförderstelle Wasserburg, angesiedelt in der Stiftung Attl, überraschen die Probleme von Carmen Cimander nicht. „Für Integrationskinder wird es immer schwieriger, einen passendenden Kindergartenplatz zu finden“, erklärt Jung. Denn aufgrund des Fachkräftemangels und krankheitsbedingten Ausfällen sei es für Kindergärten sehr schwierig mit der ohnehin knappen Personalquote auszukommen. Oft seien die Teams überlastet. „Unter dem Jahr besteht deshalb kaum eine Chance, ein Integrationskind selbst mit weiten Fahrwegen noch unterzubringen“, bedauert Jung. „Die Situation ist für die betroffenen Familien teilweise sehr dramatisch.“
Bezirk Oberbayern hat „keine Einflussmöglichkeiten“
Grundsätzlich ist für die Versorgung von Kindern mit Behinderung der Bezirk von Oberbayern zuständig. Doch wie eine Presseanfrage an den Bezirk zeigt, ist die Realität nicht so einfach. „Für die bedarfsgerechte Planung der Kindergartenplätze ist nicht der Bezirk Oberbayern als Träger der Eingliederungshilfe zuständig“, erklärt Pressesprecherin Constanze Mauermayer. Dies obliege den Jugendämtern vor Ort in Zusammenarbeit mit den zuständigen Städten und Gemeinden. Der Bezirk Oberbayern sei nur für die zusätzlich erforderlichen Ressourcen eines Integrationsplatzes zuständig. Davon gebe es derzeit 19.776 Integrationsplätze in 2.295 Einrichtungen. Über die Situation der Betreuungsplätze oder eventuelle Wartelisten in den Kindergärten habe der Bezirk entsprechend keinerlei Information.
Auch für Schulvorbereitende Einrichtung sei der Bezirk nicht zuständig, da die schulische Versorgung Aufgabe der Regierung von Oberbayern im Auftrag des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus sei.
„Grundsätzlich geht der Bezirk Oberbayern aber davon aus, dass jedem Kind - unabhängig von einer eventuell vorhandenen Behinderung - ein Platz in einer Kindertageseinrichtung zur Verfügung steht“, so Mauermayer. Jedoch habe der Bezirk „keine Einflussmöglichkeiten“, ob der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz eingehalten werde, da dieser Anspruch gegenüber der Kommune bestehe. „Nur für Kinder, die so erheblich beeinträchtigt sind, dass sie (noch) nicht im Sinne der Inklusion mit Kindern ohne Behinderung gemeinsam gefördert werden können, stehen die Heilpädagogischen Tagesstätten (HPT) zur Verfügung“, erklärt Mauermayer weiter. Für diese ist der Bezirk Oberbayern zuständig, derzeit gebe es 4.700 HPT-Plätze, davon etwa 1.300 Plätze für Kinder im Vorschulalter. „Dem steigenden Bedarf für diese Sondereinrichtungen steht leider ein erheblich steigender Mangel an Fachkräften gegenüber, der sich sowohl in den Heilpädagogischen Tagesstätten als auch in den Kindergärten immer stärker bemerkbar macht“, so Mauermayer. Der Bezirk sei jedoch jederzeit bereit, Träger, die Interesse an der Schaffung von neuen HPT-Plätzen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder im Vorschulalter haben, nach Kräften zu unterstützen.

