Jahrhunderthochwasser 2013 in Rosenheim und Mangfalltal
Protokoll einer Katastrophe: Wie die Region vor zehn Jahren überflutet wurde
Die Pegel steigen unaufhörlich, Stadt und Landkreis Rosenheim sehen eine Katastrophe auf sich zu kommen. Die „Jahrhundertflut“ trifft 2013 ganz empfindlich auf Mangfalltal und Rosenheim. So verlaufen die dramatischen Tage.
Rosenheim/Kolbermoor – Zehn Jahre ist es her, als die „Jahrhundertflut“ vor allem im Mangfalltal und Rosenheim erheblichen Schaden anrichtete. Eine Dekade später sind die Erinnerungen, gerade bei den Betroffenen in der Region, noch immer präsent. Dabei war zu Beginn des Hochwassers, das vor allem die Mangfall betraf, das Ausmaß der Flut noch nicht abzusehen. Ein Rückblick auf die dramatischen Tage – das Protokoll einer Katastrophe.
2. Juni 2013, 10.05 Uhr: „Stadt und Landkreis Rosenheim richten sich auf Hochwasser ein.“ Das Unheil bahnt sich bereits an, als das Landratsamt diese erste Stellungnahme veröffentlicht. Die anhaltenden Regenfälle haben die Pegel von Bächen und Flüssen deutlich ansteigen lassen. Vor allem die Mangfall bereitet Sorgen. Am Morgen des 2. Juni richten Stadt und Landkreis Rosenheim eine gemeinsame „Führungsgruppe Katastrophenschutz“ ein. Deren Aussage: „Erwartet wird ein 50- bis 100-jährliches Hochwasser.“ Ein Überfluten der Dämme entlang der Mangfall könne nicht ausgeschlossen werden. Betroffen davon wären Teile von Feldkirchen-Westerham, Bruckmühl, Bad Aibling, Kolbermoor und Rosenheim. In den kommenden Stunden füllen Feuerwehr und Technisches Hilfswerk mehrere Tausend Sandsäcke, um die Dämme an kritischen Stellen zu verstärken. Auch die Glonn, die Kalten, die Murn und die Prien führen zu diesem Zeitpunkt bereits Hochwasser.
11.44 Uhr: Die Lage spitzt sich zu, das Landratsamt meldet, dass der Katastrophenfall für Stadt und Landkreis Rosenheim ausgerufen wurde. An der Mangfall in Feldolling wird inzwischen die Meldestufe 4 überschritten. „Es wird erwartet, dass der Pegel zumindest bis zum Abend weiter ansteigt. Mit einer Verzögerung von etwa drei Stunden wird der steigende Pegel in Rosenheim erwartet“, teilt die Behörde mit. In Schwaig wird der Hochwasserdamm für ein 100-jährliches Hochwasser ertüchtigt. In Rosenheim, Kolbermoor, Bad Aibling, Bruckmühl und Feldkirchen-Westerham werden die Bürger mittels Lautsprecherdurchsagen informiert. Das Wasserwirtschaftsamt rechnet auch für viele kleinere Gewässer mit Hochwasser.
An der Mangfall sind die Pegelhöchststände in Sicht
13.25 Uhr: Die Flut greift um sich. Aufgrund der starken Regenfälle und der damit verbundenen Hochwassersituation entschließen sich Stadt und Landkreis, alle Schulen am Folgetag, 3. Juni, geschlossen zu halten. Zeitgleich wird wegen eines drohenden Deichbruchs der Bereich Kolbermoor Süd evakuiert. Die Bewohner werden aufgefordert, zu Bekannten oder Verwandten zu gehen oder in die Pauline-Thoma-Schule zu kommen, um dort voraussichtlich die Nacht verbringen zu müssen. Auch die Evakuierung des Rosenheimer Stadtteils Schwaig ist in diesen Stunden in Planung.
17.21 Uhr: Inzwischen hat die Führungsgruppe Katastrophenschutz angeordnet, sämtlich verfügbare Sandsäcke an den Einsatzort nach Kolbermoor zu bringen, um dort den drohenden Deichbruch zu verhindern. Der Bereich Kolbermoor Süd ist bereits evakuiert. Kolbermoor ist dort mit dem Auto nicht mehr erreichbar. Indes greift die Notfallmaßnahme im Bereich Feldolling. Dort wird der Deich geöffnet, um nicht nur die Pegelspitzen, sondern auch den Druck auf die Dämme zu reduzieren. Unterstützung kommt aus Tirol. Das dortige Rote Kreuz kündigt an, 500 Feldbetten und Decken zu liefern.
18.28 Uhr: An der Mangfall sind die Pegelhöchststände in Sicht. Nach einer Modellrechnung des Wasserwirtschaftsamtes Rosenheim wird auf Höhe Feldolling um 20 Uhr mit 3,40 Meter der Höchststand der Mangfall erreicht. In Rosenheim wird der Pegelhöchststand für 24 Uhr erwartet.
Hubschrauber der Bundespolizei im Einsatz
19.38 Uhr: Um den stellenweise durchweichten Deich in Kolbermoor zu retten, ist mittlerweile ein Hubschrauber der Bundespolizei im Einsatz, der sogenannte „Big Packs“ absetzt. Also übergroße „Plastiktüten“, in denen etwa ein Kubikmeter Sand Platz hat. Damit soll der in Fließrichtung links liegende Damm zwischen der Brückenstraße und der Carl-Jordan-Straße in Kolbermoor stabilisiert werden.
20.14 Uhr: Am Abend ist klar, dass der Ausfall des Unterrichts an den Schulen in Stadt und Landkreis Rosenheim auch die angesetzten Abiturprüfungen betrifft. Der Ministerialbeauftragte für die Berufliche Oberschule in Ostbayern, Dr. Friedrich Heyder, stellt klar, dass alle Fachabitur- und Abiturprüfungen ausfallen.
„Die Wanne ist randvoll und aufgrund der nur langsam fallenden Pegel kann es jederzeit zu Deichbrüchen kommen.“
3. Juni 2013, 2 Uhr: Auch in den frühen Morgenstunden des 3. Juni bleibt die Hochwasserlage entlang der Mangfall trotz eines langsam fallenden Pegels im Bereich Feldolling weiterhin sehr angespannt. „Die Wanne ist randvoll und aufgrund der nur langsam fallenden Pegel kann es jederzeit zu Deichbrüchen kommen“, dämpft Dr. Hadumar Roch vom Wasserwirtschaftsamt Rosenheim die Hoffnungen. Dennoch ist der Mangfallkanal noch in der Lage, diese Wassermassen abzutransportieren. Die Einsatzkräfte sind im Dauereinsatz. Die Feuerwehren bitten die Bevölkerung, nicht jeden „nur fünf Zentimeter“ überschwemmten Keller der Rettungsleitstelle zu melden, da die Kapazitäten vordringlich im Bereich der Mangfall benötigt werden.
4.10 Uhr: Auch mitten in der Nacht veröffentlicht das Landratsamt weiterhin Wasserstandsmeldungen. Auch wenn der Pegel vom Vorabend in Feldolling seit seiner Scheitelspitze mit 328 Zentimetern auf 296 Zentimeter gefallen ist, ist von Entwarnung keine Rede. Im Bereich Kerschbaumstraße und Mangfallstraße im Rosenheimer Stadtteil Aisingerwies laufen Evakuierungsmaßnahmen durch Verstärkungskräfte der Berufsfeuerwehr München. Auch aus der Klepperstraße im Bereich des Elektrizitätswerkes an der Kunstmühle werden Überschwemmungen gemeldet. Aufgrund der hochwasserbedingten Straßensperrungen muss im bald einsetzenden Berufsverkehr mit erheblichen Behinderungen gerechnet werden.
Trotz Regenpause keine Entwarnung
6.15 Uhr: Die Pegel an der Mangfall sinken, das Risiko eines Dammbruches in Kolbermoor ist jedoch nicht geringer geworden. In Feldolling ist der Wasserstand seit Mitternacht um 19 Zentimeter zurückgegangen, an der Mangfallbrücke in Willing um zehn Zentimeter. Laut Dr. Hadumar Roch ist das nicht viel. Aktuell sei die Lage am Damm in Kolbermoor stabil, ein Bruch aber auch in einigen Stunden noch möglich. Die einzige Möglichkeit von Bad Aibling nach Rosenheim zu kommen ist derzeit über Großkarolinenfeld. In Rosenheim ist die Evakuierung des Stadtteils Oberwöhr abgeschlossen. In den Straßen steht das Wasser bis zu 1,50 Meter hoch. Rund 170 Personen wurden in Sicherheit gebracht, rund die Hälfte mit Booten. Auch im Bereich der Kunstmühle laufen Evakuierungen. Der Bahnverkehr auf den Strecken von und nach Rosenheim ist weiter unterbrochen. Das THW hat Kräfte aus Füssen und Kaufbeuren im Einsatz. Einsatzzüge aus Kempten und Neumarkt bei Amberg sind auf dem Weg. Etwa 15 Prozent aller bayerischen THW-Helfer sind nun in Stadt und Landkreis Rosenheim beschäftigt. Auch 57 Bundeswehrsoldaten helfen beim Füllen von Sandsäcken.
9.45 Uhr: Der Pegel an der Mangfall in Kolbermoor ist inzwischen so weit gesunken, dass der Damm nicht mehr vom Wasser überspült wird. Wie Dr. Hadumar Roch in der jüngsten Lagebesprechung mitteilt, sanken die Pegel seit Mitternacht in Feldolling um 40 Zentimeter sowie in Willing und in Rosenheim um je 26 Zentimeter mit weiter sinkender Tendenz.
Ein Lichtblick in Kolbermoor: „Deich ist nicht gebrochen“
12.15 Uhr: „Der Deich in Kolbermoor ist nicht gebrochen“, teilt das Landratsamt entgegen vereinzelter Medienberichte am Mittag mit. In der jüngsten Lagebesprechung der Führungsgruppe Katastrophenschutz heißt es: „Wenn sich die Lage nicht verschärft, ist der Deich nicht mehr akut gefährdet.“
16.15 Uhr: Am Nachmittag vermeldet die Behörde, dass der Unterricht wieder beginnen kann. Die meisten Schulen in Stadt und Landkreis Rosenheim können am morgigen Dienstag wieder öffnen. Wegen des Katastrophenfalls müssen noch Schüler von elf Schulen zu Hause bleiben.
22 Uhr: Die Hochwasserlage in Rosenheim entspannt sich zusehends. Landrat Josef Neiderhell nutzt die abendliche Lagebesprechung, um den über 3.000 Einsatzkräften in Stadt und Landkreis zu danken, „die noch schlimmeres verhindert haben“. Insbesondere seien keine Personenschäden zu beklagen. Sämtliche Pegel gingen bis zum heutigen Abend auf die Meldestufe 2 zurück. Bei den Deichen entlang der Mangfall geht man derzeit von keiner akuten Gefahr mehr für die dahinterliegenden Gebiete aus. Auch wenn zahlreiche Häuser und Ortsteile in Stadt und Land überschwemmt wurden, sind sich Rosenheims Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer und Landrat Josef Neiderhell einig: „Rosenheim ist knapp an der ganz großen Katastrophe vorbeigeschrammt.“
Die Aufräumarbeiten laufen
4. Juni 2013, 10.31: Nachdem das Schlimmste überstanden ist, beginnen in Kolbermoor die Aufräumarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt sind noch rund 100 Keller überflutet. Die Bürger können jedoch in ihre Häuser zurückkehren. Die Notunterkunft in der Pauline-Thoma-Mittelschule wird geschlossen. Auch auf dem Chiemsee steigt das Wasser nicht weiter an.
17.34 Uhr: Sämtliche auswärtige Einsatzkräfte haben ihr Einsatzgebiet im Landkreis Rosenheim inzwischen wieder verlassen. Das Landratsamt teilt mit, dass es für geschädigte Bürger „vermutlich staatliche Finanzhilfen geben“ wird. Die Schulen, die bislang noch geschlossen waren, sollen am Folgetag ebenfalls wieder Unterricht anbieten können.
„Rosenheim ist knapp an der ganz großen Katastrophe vorbeigeschrammt.“
5. Juni 2013, 15.51 Uhr: Am nächsten Tag kündigt der Landkreis an, bei der Bewältigung der Schäden in privaten Haushalten helfen zu wollen. In Kolbermoor wird der unbrauchbar gewordene Hausrat ab Nachmittag straßenweise abgeholt. Die Abholaktion soll mehrere Tage dauern.
19 Uhr: Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer und Landrat Josef Neiderhell heben den Katastrophenfall für die Stadt und den Landkreis Rosenheim auf.
Nach der Flut: Gewässer verunreinigt
6. Juni 2013, 16.03 Uhr: Der Landkreis Rosenheim will die Sperrmüllsammlung für Hausrat, der durch das Hochwasser unbrauchbar wurde, ausweiten. Ergänzend zur Sperrmüllabfuhr in Kolbermoor will Landrat Josef Neiderhell auch für andere Gemeinden eine schnelle und unbürokratische Lösung. So werden die gemeindlichen Wertstoffhöfe den durch Wasser und Schlamm verunreinigten Sperrmüll kostenlos annehmen.
7. Juni 2013, 10.55 Uhr: Nach dem Starkregen und dem anschließenden Hochwasser in der Region bittet das Landratsamt Wassersportler um Vorsicht. Im Staatlichen Gesundheitsamt Rosenheim geht man davon aus, dass die Gewässer, insbesondere der Chiemsee und der Simssee, aus mikrobiologischer Sicht sehr wahrscheinlich derzeit nicht zum Baden geeignet sind. Hinzu komme Treibgut im Wasser. Zwei Wochen später gibt das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelüberwachung nach sämtlichen Wasserproben wieder grünes Licht.
Ein Jahr später: Zwölf Monate nach der Katastrohe spricht das Landratsamt noch immer von vielen Schadensfällen, die noch nicht abgeschlossen sind. Dennoch hat sich einiges getan: Die Dämme wurden ertüchtigt und die Schäden vielfach beseitigt. Bis diese Katastrophe zu den Akten gelegt werden kann, wird aber noch einige Zeit vergehen. Rund 9 Millionen Euro wurden bis Mai 2014 an staatlichen Hilfsgeldern und Spenden für Betroffene im Landkreis Rosenheim bewilligt. Vielerorts sind die Sanierungsarbeiten noch nicht beendet. Wie das Landratsamt mitteilt, seien hochwasserdichte Kellerfenster der „Renner“ bei den Sanierungsmaßnahmen.
Etwa 5.500 Einsatzkräfte waren bei der Katastrophe im Einsatz. 3.500 davon alleine durch die 123 Feuerwehren aus Stadt und Landkreis.


