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Übergabe an Niedergelassenen gescheitert

Mit 72 ist Schluss: So geht‘s nun weiter mit der Praxis von Thomas Wilsmann in Wasserburg

Letzter Arbeitstag für Dr. Thomas Wilsmann: Mit 72 geht er nach 31 Jahren als niedergelassener Internist in Wasserburg in den Ruhestand.
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Letzter Arbeitstag für Thomas Wilsmann: Mit 72 geht er nach 31 Jahren als niedergelassener Internist in Wasserburg in den Ruhestand.

In 31 Jahren hat er tausende Patienten versorgt. Doch zum Jahreswechsel ist Schluss für Hausarzt und Internist Thomas Wilsmann (72). Gerne hätte er seine Praxis in Wasserburg an eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger übergeben. Warum das nicht geklappt hat und wie es nun trotzdem weitergeht.

Wasserburg – Thomas Wilsmann sitzt am vorletzten Tag des Jahres ein letztes Mal im Behandlungsraum, wo er seit April 1993 Tausende Menschen medizinisch betreut und versorgt hat. Der 72-Jährige wirkt entspannt, aber auch etwas nachdenklich. Denn es heißt Abschied nehmen von einem Berufsleben, das sich ganz in den Dienst der Gesundheit gestellt hatte. Wobei: Abschied von seiner Praxis hat Wilsmann schon vor drei Jahren genommen. Damals verkaufte er sie an das Ärztenetz Rosenheim (änro). Und wurde vom niedergelassenen, selbstständigen zum angestellten Arzt. Ein letzter Einschnitt.

1993 drohte eine Niederlassungssperre

1993, als Wilsmann seine Praxis im damals aufstrebenden neuen Wasserburger Stadtteil Burgau-Nord eröffnete, waren die Rahmenbedingungen für niedergelassene Ärzte ganz anders als heute. Das Chiemgau galt als überversorgte Region, viele Mediziner suchten verzweifelt nach Niederlassungsmöglichkeiten. So auch Wilsmann, der als Facharzt der Inneren Medizin im damaligen Kreiskrankenhaus Wasserburg arbeitete. Die drohende Niederlassungssperre veranlasste ihn, zuzugreifen, als sich ihm 1993 die vermeintlich letzte Chance bot, eine eigene Praxis zu eröffnen. Er legte zwei Wohnungen in einem Neubau am Willi-Ernst-Ring 27 für eine eigene Praxis zusammen. „Das war ein sehr großes Wagnis damals“, erinnert er sich. Die Investition sei hoch gewesen, einen Patientenstamm habe es nicht gegeben.

Doch Wilsmann hat es nie bereut, sich selbstständig gemacht zu haben, betont er. Die vielen Nachtdienste im Krankenhaus und die hier herrschenden Hierarchien hatten ihn bewogen, den Schritt der eigenen Praxisgründung zu wagen. Und das, obwohl es in den 90er Jahren im Raum Wasserburg anders als heute noch viele Ärzte gab, jeder Neue sich also erst einmal durchsetzen und einen Ruf erarbeiten musste. „Die ersten zehn Jahre waren zäh“, räumt Wilsmann deshalb ein. Seine Frau arbeitete voll mit, ohne sie hätte er es nicht geschafft, sagt er. „Ich bin materiell gesehen nicht reich geworden, aber die Entscheidung zur Niederlassung war trotzdem goldrichtig“, betont Wilsmann. „Ich habe so vielen Menschen helfen können. Ich bin heute reich an Erfahrung.“

Niemals gesagt: „Ich kann Ihnen jetzt nicht mehr helfen“

Arzt sein: Das war und ist bis heute seine Bestimmung, ist Wilsmann überzeugt. Er fand sie in der Schule: im ökumenischen Religionsunterricht in einem Jahr, als die Ethik in der Medizin im Fokus des Unterrichtsplans stand. Ethische Fragen haben ihn durch die vier Jahrzehnte seiner medizinischen Tätigkeit getragen, berichtet er. Deshalb habe ihm als Internist auch die Beratung zu Themen wie der Patientenverfügung immer sehr am Herzen gelegen. Zu seinen Patienten gehörten außerdem viele ältere, schwer und chronisch kranke Menschen, die er bis zuletzt begleitet hat. Den Satz „Ich kann Ihnen jetzt nicht mehr helfen“ habe er nie ausgesprochen. „Ich habe immer gesagt: Ich helfe, so gut ich es kann.“

In über 40 Jahren Tätigkeit als Arzt hat Wilsmann außerdem miterlebt, wie positiv sich die Medizin entwickelt hat. Sein Schwerpunkt waren Herz- und Kreislauf- sowie Diabetes-Erkrankungen. „Menschen, die früher an einem Herzinfarkt starben, können heute mit einer Herzerkrankung alt werden: mit Lebensqualität.“ Früher hätten über 70-Jährige als Greise gegolten, heute seien sogar 80-Jährige nicht selten fit und aktiv. Die Aufklärung über gesunde Lebensweise mit ausgewogener Ernährung, Bewegung und Rauchverzicht fruchte zwar nicht bei allen Menschen, aber bei vielen. Eine leitliniengerechte Medizin biete außerdem für Erkrankungen viel bessere Konzepte als früher.

Psychische Erkrankungen nehmen zu

Trotzdem stellt Wilsmann fest, dass in den vergangenen zehn bis 15 Jahren die psychischen Erkrankungen zugenommen haben. „Die Arbeitswelt ist rauer geworden. Das Karussell dreht sich immer schneller, es gibt immer mehr Menschen, die herausfallen“, bedauert er. Vor allem psychosomatische Erkrankungen als Folge von Mobbing am Arbeitsplatz hätten zugenommen. „Ich war jemand, der diese Diagnose beim Namen nennt“, erklärt er. Es sei wichtig, dass psychosomatische Leiden dokumentiert und damit auch evident würden.

Doch dafür benötigt es intensive Gespräche mit den Patienten. Wilsmann nennt sich deshalb einen erklärten Verfechter der „sprechenden Medizin“. Als junger Arzt wollte er sogar Psychiater werden, begann seine Facharztausbildung am kbo-Inn-Salzach-Klinikum, nahm davon wieder Abstand, „doch das Faible für die Psyche ist geblieben“, berichtet er. Stets habe er sich Zeit für Gespräche genommen und, was ebenso wichtig sei, für das Zuhören.

Praxisübergabe an Niedergelassenen scheiterte

Gerne hätte Wilsmann seine Praxis an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin übergeben, der oder die in diesem Sinne weitermacht. 2020/2021 fing er an, Interessenten für die Praxisübernahme zu suchen. Es gab Bewerbungen und Gespräche. Doch stets sprangen Interessenten wieder ab, bedauert Wilsmann. Die Bereitschaft, sich als Hausarzt oder Internist niederzulassen, nehme stark ab. Dabei seien die finanziellen Rahmenbedingungen viel besser als früher: Notwendig sei zum Einstieg heute nicht mehr ein Jahresumsatz, sondern nur noch etwa ein Viertel davon. Wilsmanns Praxis hat außerdem einen bereits etablierten Kundenstamm. Und trotzdem: Die Übergabe an einen Niedergelassenen klappte nicht.

Das hat Wilsmann überrascht, gibt er zu. Auch er wusste zwar von den Veränderungen im Berufsbild. 70 bis 80 Prozent aller Studierenden an den medizinischen Fakultäten sind Frauen. Nach wie vor würden diese die Hauptlast tragen, wenn es gelte, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Frauen würden deshalb lieber als Angestellte arbeiten und Teilzeitmodelle bevorzugen. Und auch der Trend zu mehr „Work-Life-Balance“ spiele eine Rolle, sagt Wilsmann. Junge Ärzte würden sich flexiblere Arbeitszeiten wünschen, 60-Stunden-Wochen in einer Praxis mit Hausbesuchen oder Endlos-Dienste in einem Krankenhaus seien nicht mehr akzeptiert.

Große Sorgen um die Zukunft der niedergelassenen Praxen

„Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft der niedergelassenen Praxen“, sagt Wilsmann. Er hat für seine doch noch eine Lösung gefunden: Eine der letzten Bewerberinnen, die ebenfalls wieder abgesprungen war, machte ihn auf das Ärztenetz Rosenheim aufmerksam. Mit dem medizinischen Versorgungszentrum wurde Wilsmann schnell handelseinig. Er verkaufte seine Praxis an das MVZ. Damit schloss sich der Kreis, denn die Gesetzgebung schreibt vor, dass ein seine Praxis abgebender Niedergelassener noch für drei Jahre als angestellter Arzt im MVZ weiterarbeiten muss. Wilsmann, der als Krankenhausarzt angefangen hatte, kehrte noch einmal in ein Angestelltenverhältnis zurück. „Eine sehr komische Situation“, wie er sagt. Denn auf dem Praxisschild verschwand sein Name, er war „nur“ noch ärztlicher Leiter, unterstützt von weiteren angestellten Medizinern.

Jetzt ist auch diese Zeit vorbei. Wilsmann geht mit einem weinenden, aber auch „einem lachenden Auge“. Denn mit Stefanie Heiß aus Wasserburg, die einen Großteil der Sprechzeiten abdecke, habe er „eine sehr gute Ärztin“ als Nachfolgerin, die ihm den Abschied erleichtert habe. Er weiß seine Praxis, die jetzt eine Filiale des Ärztenetzes Rosenheim ist, in guten Händen.

Kritik an der „Merkantilisierung der Medizin“

Happy End also. Wilsmann startet beruhigt in den Ruhestand. Er liebäugelt nach eigenen Angaben damit, sich einen Hund anzuschaffen, will viel Sport treiben und noch häufiger ins Konzert sowie ins Theater gehen, sich noch intensiver um seine Familie und die vier Enkelkinder kümmern. Außerdem wird er weiter tätig sein in der Neurologie im kbo-Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg, wo er Herzechos für Schlaganfallpatienten durchführt. Die Herzdiagnostik sei schließlich seine große Leidenschaft.

Und doch: Wilsmann treibt die Sorgen um die medizinische Versorgung auf dem Land um. Größtes Problem: der Nachwuchsmangel und der Trend zur „Merkantilisierung der Medizin“, will heißen: ihre Ausrichtung am Gewinn. Dies gelte auch für die Kliniken, die gezwungen seien, Angebote zu unterbreiten, nicht weil diese notwendig seien, sondern weil mit ihnen Geld verdient werde. Wirtschaftliche Zwänge dürften nicht die Oberhand gewinnen, fordert Wilsmann. Er hofft darauf, dass Lauterbachs Krankenhausreform die richtigen Lösungsansätze findet. Wobei ein Problem nach wie vor da sei: „Es gibt nicht genug Ärzte, Pflegepersonal, Therapeuten.“ Bis sich die personelle Situation ändere, verstreiche noch viel Zeit, in der die Generation der Babyboomer alt und zunehmend auf Versorgung angewiesen sein werde.

Wilsmann würde trotz dieser Rahmenbedingungen nach wie vor jedem, der Arzt werden möchte, dazu raten – vorausgesetzt, „dahinter stecken die richtigen Motive“. „Wer ein Einser-Abitur hat und nur auf sozialen Status sowie Karriere schielt, sollte es besser lassen. Erfüllung findet nur derjenige in diesem Beruf, der die Menschen liebt und sich gerne um sie kümmert“, ist er überzeugt.

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