Interview zum 70. Geburtstag
Kardinal Marx über die Kirchenkrise – und warum das Segnen homosexueller Paare nicht warten muss
Vor 15 Jahren hat der Westfale das Amt als Münchner Erzbischof angetreten, am kommenden Donnerstag wird Kardinal Reinhard Marx 70 Jahre alt. Was treibt ihn an, was hat er noch vor und wie sieht er die Chancen für die Kirche? Antworten von Reinhard Marx im Exklusiv-Interview.
Die Geseker Schützen sind zum Oktoberfest und zu Ihrem Geburtstag extra nach München gekommen – lassen Sie es ordentlich krachen, Herr Kardinal?
Kardinal Reinhard Marx: Nein. Die Schützen hatten sich – wie schon einmal – angemeldet für den Umzug zum Oktoberfest. Natürlich spielte der Geburtstag auch eine Rolle. Wir haben uns dann für die Wiesn verabredet. Ich freue mich darauf.
„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon…“ Kennen Sie diese Verse?
Kardinal Marx: Ja, natürlich, das ist aus dem Buch der Psalmen. Das bete ich jede Woche. Da kommt der schöne Satz vor: „Unsere Tage zu zählen, lehre uns, dann gewinnen wir ein weises Herz“ (Ps 90). Gerade weil unsere Zeit begrenzt ist, sollen wir jeden Tag ernst nehmen: Das Gute, das Herausfordernde, auch das Negative, das passiert. Das Leben ist kostbar, weil es flüchtig ist.
Wie schnell ist Ihr Leben verflogen?
Kardinal Marx: Wenn man älter wird, hat man den Eindruck, es geht immer schneller. Mein Vater ist 64 Jahre alt geworden, meine Mutter 89. Jetzt, mit 70, beginnt die letzte Phase für mich, das ist mir klar. Da gilt es noch mehr zu sagen: „Herr, lehre mich, die Tage zu zählen…“. Und das, was noch bleibt an Zeit, gut zu gestalten.
Welche Pläne haben Sie?
Kardinal Marx: Zunächst einmal die Aufgaben, die ich gestellt bekomme, jeden Tag offen und mit positiver Grundsteinstellung anzunehmen. Solange ich Bischof bin – das hängt vor allem von meiner Gesundheit ab –, will ich das tun. Kirchenrechtlich gibt es die Vorschrift, dass ich mit 75 Jahren meinen Rücktritt anbieten muss. Für mich ist aber wichtiger, ob ich mein Amt noch gut ausfüllen kann: geistig und körperlich fit, und wenn ich spüre, dass die Menschen meinen Dienst grundsätzlich annehmen. Ich habe noch überregionale Aufgaben im Wirtschaftsrat des Vatikans und in der Medienkommission der Bischofskonferenz. Ich will mich nicht verabschieden, aber ich will mich konzentrieren. Ich habe vieles sehr gerne gemacht: in der DBK, in Rom, in Brüssel, aber alles hat seine Zeit.
Also ziehen Sie sich zurück?
Kardinal Marx: Nein! Und ich würde auch nicht sagen, dass ich weniger arbeite. Vielleicht mit ein bisschen mehr Ruhe. Mit 70 kann ich nicht durch die Gegend rennen wie mit 40.
Wie beschreiben Sie die letzten 13 Jahre, seit Bekanntwerden des Missbrauchsskandals?
Kardinal Marx: Das war schon ein Einschnitt! Mir war klar, dass wir daran lange, lange arbeiten müssen. Bei all dem Furchtbaren muss man aber auch sehen: Wir haben viel gemacht in der Aufarbeitung, in der Prävention, und wir bemühen uns seit dem zweiten Gutachten noch einmal verstärkt um die Betroffenen. Das vermisse ich in der Öffentlichkeit: Dass zuweilen nicht gesehen wird, was in den letzten 13 Jahren geleistet wurde. Keine andere Institution beackert das Thema so gründlich wie wir – auch der Staat nicht! Meine Zeit als Erzbischof ist davon geprägt. Hoffentlich wird man in 50 und 100 Jahren sagen: Die haben aber was getan, die haben es nicht schleifen lassen. Und daran arbeiten wir.
Wie sehr bedrücken Sie die steigenden Kirchenaustrittszahlen?
Kardinal Marx: Sehr. Inzwischen merken aber einige auch, was passieren wird, wenn die Präsenz der Kirchen marginal wird. Zu wenig ist bewusst, dass die Kirchensteuer einen Riesenbeitrag für das Gemeinwohl leistet. Nehmen wir nur die wunderschönen Kirchen bei uns: Diese Barockkirchen sind ein Fest! Ohne Kirchensteuer könnten wir das gar nicht auf dem Niveau halten! Wir werden sehen, wie das mit sinkenden Einnahmen geht. Soll das dann der Staat machen? Überhaupt: Dass die Kirchensteuerzahler einen großen Beitrag leisten für das gesamte Gemeinwesen, wird nicht wirklich wertgeschätzt. Sie zahlen zweimal: durch ihre Steuern an den Staat und durch ihre Kirchensteuer. Ich sage den Kirchensteuerzahlern dafür herzlichen Dank!
Was erwarten Sie von der Weltsynode im Oktober?
Kardinal Marx: Der Papst hat 2015 zum ersten Mal von einer „synodalen Kirche“ gesprochen. Das wird nun Schritt für Schritt konkreter. Die Kirche muss ja nicht „monarchisch“ strukturiert sein, ihre äußere Gestalt kann sich verändern. Die Substanz dagegen – das Evangelium und die Feier der Sakramente – bleibt. Wir erleben, dass die äußere Gestalt sich wandelt. So etwas geht nicht ohne Schmerzen, weil das Alte stark ist und das Neue sich erst durchsetzen muss. Mir war immer klar: Das kann nur in einem Miteinander gelingen. Ich erhoffe mir, dass sich nicht von heute auf morgen alle Wünsche der einen Seite und alle Ängste der anderen Seite bewahrheiten, sondern dass sich ein gemeinsamer Prozess entwickelt, in dem die Transformation Schritt für Schritt vorangeht. Das ist in einer Weltkirche natürlich sehr schwer.
Dass Sie nicht dabei sind in Rom, hat viele Gläubige überrascht. Sie nicht auch?
Kardinal Marx: Nach zehn Jahren sind meine zwei Amtszeiten im Beraterkreis des Papstes abgelaufen. Dass diese Berater an den Synoden teilnehmen, ist selbstverständlich. Es ist die Entscheidung des Papstes, dass auch einmal andere drankommen.
Sind Sie enttäuscht?
Kardinal Marx: Eigentlich nicht, weil ich so viele Synoden mitgemacht habe. Jetzt können andere ihre Stimme einbringen. Aber: Lust habe ich immer, etwas zu gestalten (lacht). Die Synode ist erst der Anfang. Wir werden das im Erzbistum und in der DBK weiter vorantreiben.
Die Kirche in Deutschland hat mit ihren Beiträgen, etwa zur Sexualmoral oder der Lebensform der Priester, einiges vorgelegt.
Kardinal Marx: Wir haben da etwas in Bewegung gebracht. Die Kirche ist keine Demokratie, das weiß ich wohl. Aber einige Verhaltensweisen, etwa die Diskussion, das miteinander Ringen, einen gemeinsamen Beschluss fassen – sind ähnlich. Man muss sich aber – wie in der Demokratie – auch beteiligen, und sich fragen: Will ich etwas tun oder will ich das über mich ergehen lassen?
Sie haben die Segnung homosexueller Paare befürwortet. Erlauben Sie solche Segnungen hier?
Kardinal Marx: Beim Synodalen Weg haben wir es bewusst „Segnung für Menschen, die sich lieben“ genannt. Wir wollen keine Fokussierung ausschließlich auf eine Gruppe. Wir haben gesehen, dass es Paare gibt, die kirchlich gesehen kein Ehesakrament empfangen können. Aber es kann doch nicht sein, dass sie deshalb in der Pastoral ausgeschlossen werden! Wir wollen eine Handreichung machen auf der Ebene der Bischofskonferenz. Aber darauf müssen die Pfarrer nicht warten: Wenn Menschen, die sich lieben, einen Segen erbitten, werden die Seelsorgerinnen und Seelsorger einen Weg finden, damit gut umzugehen und es zu tun.
Segnen Sie ein homosexuelles Paar, wenn Sie darum gebeten werden?
Kardinal Marx: Warum nicht? Es kommt immer auf die jeweilige Situation an. Wenn Menschen mich um einen Segen bitten, dann werde ich das auch tun.
Was ist das Hauptthema der Kirchenkrise?
Kardinal Marx: Die Frage ist, wie können wir heute in dieser offenen Gesellschaft neu von Gott sprechen und davon, dass es Sinn macht, das Evangelium zu leben und an Christus zu glauben. Für mich ist das Geheimnis Gottes größer und anziehender und die Gestalt Jesu vielfältiger und attraktiver geworden – und die Kirche etwas weniger wichtig. Sie ist nur ein Instrument, wenn auch ein sehr wichtiges. Sonst wird die Dimension dessen, was das Wort „Gott“ bedeuten kann und was dieser Mann aus Nazareth wollte, verdunkelt. Der Glaube ist aber auch ein gemeinsamer Weg – deswegen brauchen wir die Gemeinschaft des Volkes Gottes. Im Grunde geht es um die Frage: Hat die Religion überhaupt noch einen Sinn für die Menschen? Ich sage: Ja, wenn sie heilt, Hoffnung gibt, die Menschen aufrichtet, zusammenführt, ein Fest des Lebens feiert, den Himmel offen hält.
Steht dieser Himmel auch denen offen, die aus der Kirche ausgetreten sind? Dürfen sie zur Kommunion zugelassen werden?
Kardinal Marx: Der Himmel ist nicht Eigentum der Kirche, er ist grundsätzlich offen für alle. Und: Nicht alle Menschen, die ausgetreten sind, sind gleich. Wer bin ich, dass ich sage: Den schließe ich aus. Ob jemand zur Kommunion geht, ist eine Gewissensentscheidung. Aber ich sage auch: Überleg’ bitte, was bedeutet dein Kirchenaustritt? Was ist dein Beitrag dafür, dass das Volk Gottes gut in die Zukunft gehen kann? Wenn es mit dieser Tendenz weitergeht, werden wir viele Dinge für die Menschen nicht mehr tun können. Das muss man wissen. Ich möchte im Jubiläumsjahr „1300 Jahre Korbinian“ auch eine Einladung an alle richten, die ausgetreten sind: Überlegt es euch noch einmal! Wir brauchen euch!
Gibt es etwas, das Sie bedauern in Ihrem Leben?
Kardinal Marx: Ja, dass ich das Missbrauchsthema zuerst zu wenig ernst genommen habe. Als das in den USA vor mehr als 20 Jahren bekannt wurde, dachten wir: Bei uns ist das nicht so. Für mich war es ein Schock, dass mein Idealbild von Kirche, das ich als junger Priester hatte, so konfrontiert wurde mit einer dunklen Seite. Aber ich muss damit leben, und wir müssen das besser machen.
Würden Sie heute, wenn Sie jung wären, wieder Priester werden?
Kardinal Marx: Natürlich ist diese Frage rein hypothetisch. Mit dem Wissen von heute? Ja, Priester, glaube ich schon. Das füllt mein Leben aus. Ohne die Heilige Messe könnte ich nicht leben. Ich bin vor 44 Jahren mit großem Enthusiasmus und einer wahnsinnigen Freude in den Dienst gegangen. Und ich habe auch viel Schönes erlebt, unglaublich starke Erfahrungen und Begegnungen, auch jetzt. Aber eben auch das andere. Ich habe nicht gedacht, dass es so schwer wird.
Sie haben gesagt, Sie hätten Gewissheiten verloren. Was ist an deren Stelle getreten?
Kardinal Marx: Ich habe die Gewissheit im Sinne einer idealen Vorstellung von Kirche verloren. Früher habe ich gedacht: Die dunkle Seite von Kirche ist Geschichte. Das war naiv! Trotzdem ist mein Glaube nicht schwächer geworden, sondern hat sich intensiviert auf das Wesentliche. Neu zu sehen, was diesen Jesus von Nazareth umgetrieben hat. Dass jetzt das Reich Gottes angebrochen ist. Es wird eine größere Transformation der äußeren Gestalt der Kirche geben – aber die Botschaft wird weitergehen. Jetzt müssen wir – auch ich mit 70 – die Wege dafür ebnen. Müssen Entscheidungen treffen, uns von manchem befreien, etwa bei Immobilien oder auch Strukturen. Die kommenden Generationen werden sagen: Damit hätten sie auch früher beginnen können. Wichtig ist, dass wir es jetzt wirklich anpacken!
Wie feiern Sie Ihren Geburtstag?
Kardinal Marx: Die Erzdiözese sagt: Unser „Chef“ wird 70, da feiern wir einen Gottesdienst und im Anschluss gibt es einen Hoagarten, wie man in Bayern sagt (schmunzelt). Am 23. September ist um 17 Uhr die Heilige Messe im Dom, anschließend ist auch Gelegenheit, mir zu gratulieren. Jeder ist willkommen. Meine private Feier mache ich extra mit meinen Verwandten, Freunden und Weggefährten. Mit ihnen gehe ich am Sonntag nach einem Gottesdienst auf die Wiesn.
Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, was würden Sie sich wünschen?
Kardinal Marx: Dass ich in meinem Amt geistig und körperlich fit bleibe. Zweitens: dass sich meine Anwandlungen von Melancholie und Resignation nicht durchsetzen. Dass die Freude lebendig bleibt. Das ist eine Gnade, und die muss ich immer wieder erbitten. Und drittens eine gute Sterbestunde. Ich denke oft an den Tod. Das macht mir keine Angst. Aber die Frage, wie man stirbt, ob man leiden muss, ob man dement wird, das beschäftigt mich. Ich bete dafür, dass der Herrgott sich dann erbarmt und mir eine gute Sterbestunde schenkt, dass ich in guter Weise gehen kann. Das ist vielleicht sogar mein Hauptwunsch.
