Interview mit CDU-Chef Merz
Friedrich Merz: „Solange die EU die Außengrenzen nicht sichert, müssen wir die Binnengrenzen schützen“
Friedrich Merz besucht am Montag (7. August) die Bundespolizei in Rosenheim. Zum Thema Grenzkontrollen meint der CDU-Chef: „Was zwischen Deutschland und Österreich gut funktioniert, muss im Bedarfsfall auch an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz möglich sein.“
München/Rosenheim – Es läuft gerade nicht recht toll für Friedrich Merz (67). Der CDU-Chef, aktuell Oppositionsführer im Bundestag, hat unerwünschte Debatten über den Umgang mit der AfD und über die Kanzlerkandidatur am Bein. Immer wieder melden sich murrende oder mahnende Parteifreunde zu Wort. Spätestens 2024 nahen unangenehme Wahlen im Osten und für Europa, wo die CDU erbittert um jedes Prozent kämpfen muss. Was nun? Wir treffen Merz am Rande seines Bayern-Urlaubs. Er wirkt kämpferisch, sieht nur einige wenige Kritiker am Werk. Und präsentiert einen sehr kantigen Kurs bei Asyl und Arbeitspflicht.
Die Flüchtlingszahlen steigen weiter, Bürgermeister und Landräte ächzen. Ihre Parteifreundin Angela Merkel hat 2015 gesagt, man sei dagegen machtlos. Ist das heute noch immer – oder wieder – so?
Friedrich Merz: Wir dürfen nicht machtlos sein. Wir müssen wissen, wer nach Deutschland kommt. Was zu tun ist, sagen wir immer wieder: Die Europäische Union muss ihre Außengrenzen besser sichern. Solange das nicht geschieht, müssen wir bereit sein, die Binnengrenzen zu schützen.
Sie besuchen am 7. August die Bundespolizei in Rosenheim. Sind Sie für stationäre Grenzkontrollen überall, nicht nur im Süden zu den Österreichern?
Merz: Ich möchte mir das anschauen und mit den Beamtinnen und Beamten darüber sprechen, welche Erfahrungen sie machen. Grundsätzlich denke ich: Was da seit Jahren zwischen Deutschland und Österreich gut funktioniert, muss im Bedarfsfall auch an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz möglich sein. Alle irregulären Migranten, die über den Landweg nach Deutschland kommen, haben ja bereits mindestens ein Land durchquert, das nach den europäischen Regeln die Asylverfahren führen müsste. Dass diese Regeln missachtet werden, kann so nicht weitergehen.
Ihr Parteifreund Thorsten Frei hat die Debatte angestoßen, übers Asylrecht zu reden. Ein Tabu?
Merz: Er hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das Individualrecht auf Asyl überwiegend zu einem Recht der Stärkeren geworden ist. Diejenigen, die besonders schutzbedürftig sind – Frauen, Kinder, Ältere – bleiben meistens zurück, während sich die jungen Männer einen Platz auf den Booten erkämpfen. Davon lebt die organisierte Schlepperkriminalität. Wir wollen die Diskussion darüber führen, wie wir denjenigen Schutz bieten können, die ihn wirklich brauchen. Am Ende des Tages ist aber auch klar: Die Zahlen müssen insgesamt runter.
Muss also wieder eine Obergrenze her, 200 000 vielleicht?
Merz: Dieses Wort stammt aus dem Jahr 2017, es war eine Kompromissformel. Ich sage es einmal so: Wir alle wissen, dass die bis zum Jahresende zu erwartenden 300 000 Flüchtlinge, die nicht aus der Ukraine kommen, für die Aufnahmefähigkeiten unseres Landes einfach zu viel sind. Ich habe der Bundesregierung deshalb schon vor Monaten angeboten: Lasst uns ein Gremium finden, wo wir parteiübergreifend über Lösungen beraten können. Das ist abgelehnt worden. Damit liegt die Verantwortung nun wieder allein bei der Bundesregierung.
Ihr Gesprächsangebot stünde noch?
Merz: Wir sind als Opposition immer bereit, mit der Bundesregierung über wichtige Fragen für unser Land zu sprechen. Formell wie informell.
Mit Blick auf die Ampel möchten wir mit Ihnen auch auf das große Feld der Wirtschaftspolitik …
Merz: … welche Wirtschaftspolitik? Bei der Ampel kann ich keine erkennen.
Wie sähe das Wirtschafts-Sofortprogramm eines Kanzlers Merz aus?
Merz: Wir brauchen eine Entlastung des Mittelstandes – und zwar jetzt sofort. Wir brauchen ein Belastungsmoratorium bei der überbordenden Bürokratie. Wir müssen sofort sämtliche Energiequellen ausschöpfen, damit die Preise nicht noch weiter steigen. Und wir brauchen mehr Respekt vor Leistung und Eigentum – das fehlt sowohl im Umgang mit Erben als auch gegenüber den Menschen, die geradezu daran verzweifeln, wie sie sich eine energetische Sanierung ihres Hauses denn leisten können.
Warum steigt parallel zum Fachkräftemangel die Arbeitslosigkeit?
Die Wirtschaft ächzt unter Fachkräftemangel. Wie viel Zuwanderung braucht und verträgt das Land?
Merz: Wir werden den demografischen Wandel ab 2025 erst richtig zu spüren bekommen. Dann gehen die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand. Ja, wir brauchen Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Aber vorher sollten wir uns fragen, warum in Deutschland parallel zum Fachkräftemangel die Arbeitslosigkeit steigt, und zwar im zweiten Jahr in Folge. Warum wir eine Rezession haben, anders als alle anderen Industrienationen. Und warum wir als Standort offenbar nicht attraktiv genug sind für Arbeitskräfte aus anderen EU-Ländern, die sofort und ohne Formalitäten zu uns kommen könnten. Die Regierung zäumt das Pferd von der falschen Seite auf.
Sie meinen: Erst müssen hier alle arbeiten, die können. Stellen Sie sich hinter Ideen einer Arbeitspflicht für Leistungsempfänger?
Merz: Eine solche Leistungspflicht folgt dem Prinzip: Fördern und Fordern. Die Bundesregierung fördert sehr viel. Fordern hieße: Diejenigen, die arbeitsfähig sind und Steuergelder der arbeitenden Bevölkerung erhalten, müssen grundsätzlich einen eigenen Beitrag dazu leisten, wenn sie gefördert werden möchten. Die Union steht ohne Wenn und Aber zum Sozialstaat. Aber der lässt sich nicht aufrechterhalten, wenn immer mehr Leistungen versprochen werden ohne eine Gegenleistung zu verlangen von denen, die arbeiten können.
In zwei Monaten wählt Bayern. Wie viele Prozente wünschen Sie Ihrem Kollegen Markus Söder, damit die Union zwar stark, er mit Blick auf die Kanzlerkandidatur aber nicht gleich übermütig wird?
Merz: (lacht) Nett formuliert. Ich bin mir sicher, Markus Söder wird ein sehr starkes Ergebnis erzielen können. Alle Voraussetzungen dafür sind da. Die CSU führt Bayern seit Jahrzehnten erfolgreich. Und ich werde ihn im Wahlkampf unterstützen.
Markus Söder und Hendrik Wüst sind laut Umfragen beliebter als Sie. Vor allem bei Frauen und jungen Wählern haben Sie Akzeptanzprobleme. Warum?
Merz: Ach wissen Sie, wir tragen hier keinen Schönheitswettbewerb aus, sondern wir kämpfen als Opposition im Bundestag für bessere Politik. Ein Oppositionsführer kann keine Regierung führen und hat nicht jeden Tag schöne Bilder zu bieten, er muss kritisieren und angreifen. Hendrik Wüst und Markus Söder haben den Vorteil, dass sie erfolgreiche Landesregierungen führen. Da unterscheidet sich die Ausgangslage für uns drei – und trotzdem arbeiten wir in der Führung der Union alle sehr gut zusammen.
Ach, wirklich? Man hat von außen eher den Eindruck, dass sich alle paar Stunden irgendeiner meldet und über den Parteivorsitzenden beschwert.
Merz: Dieses Phänomen ist in der CDU nicht ganz unbekannt. Das gab es auch schon bei Helmut Kohl und Angela Merkel. Aber es sind immer nur einige wenige, meistens sogar dieselben.
Lassen Sie uns mal einen Moment ganz still sein… Hören Sie da ein leises Messerwetzen oder Sägegeräusche an Ihrem Stuhl?
Merz: (lacht) Nein. Es gibt natürlich Diskussionen über den richtigen Kurs. Das ist kein Sägen, sondern Ausdruck der Vielfalt in einer Partei. Wichtig ist, dass wir notwendige Diskussionen über die Sachthemen intern führen und dann nach außen geschlossen und klug auftreten.
Tun Sie das klug genug? Ein paar Stolperer hatten Sie ja: Der „Sozialtourismus“ der Ukrainer gehört dazu, zuletzt das Sommerinterview mit der missverständlichen AfD-Formel. Haben Sie ein Fettnäpfchen-Problem?
Merz: Ich habe mich für eine Äußerung klar und deutlich entschuldigt, dennoch wird sie leider immer wieder zitiert …
… also zur Ukraine …
Merz: … und ansonsten habe ich nichts zurückzunehmen. Im ZDF-Sommerinterview habe ich eine Realität beschrieben, die alle Parteien gleichermaßen betrifft. Daraus abzuleiten, ich würde eine Zusammenarbeit mit der AfD befürworten, ist vollkommen abwegig. Und das Duzen und Biertrinken mit der AfD überlassen wir gern den Grünen. Wir sollten uns zwischen allen Parteien der demokratischen Mitte einig sein, die Ursachen für das Erstarken der Rechtsnationalen zu beseitigen. Wir werden jedenfalls als Union noch klarer herausarbeiten, wofür wir stehen und was unsere Antworten auf die vielfältigen Herausforderungen der Gegenwart sind.
Noch mal zur CDU: Besteht das Kernproblem nicht darin, dass es zwei Parteien gibt, die sich CDU nennen? Eine Merkel-CDU und die Merz-CDU, die in andere Richtungen ziehen?
Merz: Die CDU hat 16 Jahre lang regiert – unter weitgehendem Verzicht auf Grundsatzdiskussionen über den Kurs. Das lief oft sehr pragmatisch, sehr tagespolitisch orientiert. Die CDU hat in dieser Zeit zahlreiche Krisen für unser Land gut bewältigt. Darüber ist die Debatte über unsere Wirtschaftspolitik, über Integration und einiges mehr zu kurz gekommen. Das müssen wir jetzt in der Opposition nachholen, manchmal auch streitig. Das ist ein schwieriger Prozess, aber unumgänglich, damit wir bis zur nächsten Bundestagswahl wieder regierungsfähig sind.
Würden Sie so weit gehen wie neulich Peter Ramsauer (CSU)? Er befand, dass Merkel im Prinzip an allem Übel schuld sei?
Merz: Ich finde diese rückwärtsgewandten Betrachtungen nicht hilfreich. Überlassen wir das doch den Historikern. Wir möchten uns darum kümmern, wie wir die heute wichtigen Fragen bewältigen und die Zukunft gestalten.
Falls Sie sich nicht einig werden: Könnte es sein, dass der nächste Kanzlerkandidat per Mitgliederentscheid bestimmt wird?
Merz: Die Mitglieder haben Ende des Jahres 2021 eine klare Entscheidung getroffen. Ich bin in der CDU-Geschichte der einzige Vorsitzende, der sich auf ein so breites Mitgliedervotum stützen kann. Man muss das nicht beliebig oft wiederholen, aber es steht als Instrument in der Satzung.
Also: Sie schließen einen Basis-Entscheid nicht aus für die K-Frage?
Merz: Ich kann doch nichts ausschließen, was in unserer Satzung steht.
In Italien gab es mal wie in Deutschland eine starke Christdemokratie, heute dominieren dort klassisch rechte Parteien wie die Postfaschisten von Meloni. Ähnlich ist es in Frankreich mit Le Pen. Fürchten Sie, dass das auch CDU und CSU widerfahren könnte?
Merz: Ich werde alles dafür tun, damit genau das nicht passiert. Wir haben einen geradezu staatspolitischen Auftrag als CDU und CSU, dass in der politischen Mitte eine liberale, soziale und konservative Volkspartei erhalten bleibt. Es ist unsere Verantwortung, gemeinsam dafür zu sorgen, dass wir nicht in Flügel auseinanderbrechen, nicht als Partei verschwinden so wie in Frankreich und in anderen europäischen Ländern. Wenn wir in der politischen Mitte diese Integrationskraft aufbringen, dann geht es unserem Land besser.
Interview: Georg Anastasiadis und Christian Deutschländer