Özdemir im Festzelt Hart
Trillerpfeifen und Buhrufe: Politischer Abend der Grünen in Chieming „echt hart“
Zahlreiche Landwirte aus dem Umkreis waren am Dienstagabend (1. August) mit ihren Traktoren nach Hart ans Festzelt gekommen. Der politische Abend der Grünen mit Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir wurde vor allem mit Buhrufen und Trillerpfeifen begleitet.
Geschenkt wurde den Spitzenkandidaten zur Landtagswahl, Fraktionssprecherin Katharina Schulze und deren Stellvertreterin und Wahlkreiskandidatin Gisela Sengl im Harter Bierzelt nichts. „Echt hart“ waren die Trillerpfeifenkonzerte im Festzelt.
Papierservietten als Ohrstöpsel
Vor Hunderten von Besuchern – davon eine Vielzahl aus der Landwirtschaft – wurden die Reden der beiden bayerischen Landtagsabgeordneten sowie die des Hauptredners, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir, phasenweise mit Trillerpfeifen derart übertönt, dass sich viele Besucher genervt ihre Papierservietten, die ihnen zum Verzehr der regional biologischen Bierzeltgerichte gereicht wurden – wie Gisela Sengl als Zeichen der Authentizität der Veranstaltung in ihrer Rede betonte – in die Ohren stopften und somit gar nichts mehr hörten.
Trillerpfeifen vor Festzelt verteilt
Die Trillerpfeifen wurden bereits vor dem Festzelt verteilt – offensichtlich war die Veranstaltung von einem Teil der Besucher von vornherein auf Krawall hin angelegt. Die knapp 50 Polizisten aus dem Bereich der Polizeiinspektion Traunstein und der Bereitschaftspolizei hatten allerdings keinen nennenswerten Einsatz. Sie waren damit beschäftigt, das Festzelt vor Überfüllung zu schützen und insbesondere Bundesminister Özdemir vor direkter Körpernähe zu den Gesprächskontakt suchenden Besuchern zu schützen.
Dass den Bürgern und insbesondere Landwirten das Gespräch und die Auseinandersetzung mit den Politikern seitens der Regierung oft fehlt, sprachen nach der Veranstaltung einige Landwirte offen aus. Umso erfreulicher dürfte es für die Abordnung des Bayerischen Bauernverbandes (BBV), bestehend aus den Obmännern und den Landkreisbäuerinnen und -bauern der Landkreise Traunstein, BGL und Rosenheim, sein, dass sie dem Bundeslandwirtschaftsminister ihre Anliegen in Anschluss an die Reden vortragen durften.
Liste von Themen für Özdemir
Der Kreisobmann des Bayerischen Bauernverbandes, Hans Steiner, legte Özdemir eine Liste von Themen vor, bei denen die Region dringenden Gesprächsbedarf sieht. Es handelt sich um die Tierhalteverordnung und das Verbot der Anbindehaltung, die Neuregelung zu GLÖZ 5 (guter landwirtschaftlicher und ökologischer Zustand), konkret um die Begrenzung von Bodenerosionen. „Das Pflugverbot stellt viele Grünlandbetriebe vor nicht lösbare Probleme“, so die Ansage gegenüber Özdemir.
Auch GLÖZ 8 – die Pflichtstilllegung entzieht den landwirtschaftlichen Betrieben unnötig Flächen – wurde angesprochen. Das EU-Bodenüberwachungsgesetz – „ein Bürokratiemonster ohne Mehrwert“ – stelle ein Hindernis in der Landwirtschaft dar. Auch hinsichtlich „Sustainable Use Regulation“ (SUR) sei eine Korrektur nötig, „EU-Pläne zum Pflanzenschutz gefährden die Lebensmittelversorgung“, so die Auffassung der BBV-Vertreter.
Umgang mit Wolf und Bär
Es sollte auch endlich eine vernunftorientierte Regelung zum Umgang mit den großen Beutegreifern, also Wolf und Bär, geschaffen werden, trugen die BBV-Vertreter vor. Cem Özdemir hörte sich die Themenliste an und sagte zu, in einem ausführlichen Gespräch die geäußerten Anliegen genauer ins Visier zu nehmen, sobald dies sein Terminkalender zulasse. Damit sollten der von den Landwirten geäußerte Wunsch nach Gesprächsbereitschaft durch den Landwirtschaftsminister eigentlich erreichbar sein.
Bürgermeister Stefan Reichelt (CSU) hieß die politische Prominenz der Grünen und die Festbesucher willkommen. Für ihn und die Organisatoren der beiden Festvereine, der Freiwilligen Feuerwehr Hart und dem örtlichen Burschenverein sei es eine Ehre, so viele Besucher in Hart zu begrüßen.
Vereinsleben als Teil der Kultur
„Diese beiden Harter Vereine beweisen, was möglich ist, wenn man zusammenhält und Gemeinschaft lebt. Und das alles ist ehrenamtlich. Das Ehrenamt und das Vereinsleben ist aber auch ein Teil unserer Kultur. Die Gemeinschaft und das Engagement jedes einzelnen ist es, was unsere Gemeinde so liebens- und lebenswert macht.“
Obwohl Gastgeberin Gisela Sengl bereits bei der Begrüßung der geladenen Gäste – insbesondere den beiden Hauptrednern Katharina Schulze und Cem Özdemir – einem lautstarken Trillerpfeifenkonzert gemischt mit Applaus gegenüberstand und sie fragte, „möchtet ihr den ganzen Abend so verbringen?“, ebbten die lauten Störungen während des Abends kaum ab. Soweit trotzdem etwas zu verstehen war, ging es Sengl zunächst um ein Loblied auf die gesamte Landwirtschaft und aller in der Ernährung tätigen Menschen: Vom Bauern bis zur Bäckereifachverkäuferin haben alle unsere allergrößte Wertschätzung verdient.“
Sengl ging auf die Bedrohung der klein-strukturierten vielfältigen Landwirtschaft ein: „In den letzten zehn Jahren haben wir 12000 Haupterwerbsbetriebe verloren. Das darf nicht so weitergehen, da müssen wir dringend was tun.“ Der Preisdruck, der gerade von Konzernen auf die Agrar- und Lebensmittelindustrie ausging, sei brutal, so Sengl.
Kein „anonymes Turbo Hendl“
„Die Riesenkonzerne bestimmen aber die Weltmarktpreise, an die sich dann auch unsere heimischen Bergbauernbetriebe und der regionale Schlachthof in Traunstein orientieren muss.“ Auch die Qualitätsnormen würden von Konzernen bestimmt, „sodass täglich tonnenweise Äpfel auf dem Müll landen, weil sie drei oder vier stecknadelgroße Schorfflecken haben. – Deshalb sind die Weltmarktpreise und Industrienormen die Zerstörer unserer regionalen Landwirtschaft. – Das muss endlich ein Ende haben.“
Deshalb werde im Festzelt kein „anonymes Turbo Hendl von einem No-Name-Mastbetrieb von irgendwoher angeboten, sondern Speisen aus der Region, die für die Qualität ihrer Produkte teils sogar den Bayerischen Staatspreis erhalten haben.“ Es müsse Schluss damit sein, dass Agrarindustrie nicht nur Normen und Preise diktiere, sondern auch die Politik bestimme.
Saisonal, regional und ökologisch
Sengl sprach sich für saisonal, regional und ökologisch nachhaltige Ernährung aus, und dass in allen Schularten Landwirtschaft und Ernährung zum verpflichtenden Unterrichtsfach gemacht werde. Auch sehe sie die Landwirtschaft als Partner zur Energiewende in der Stromerzeugung durch Agri-PV-Anlagen in Kombination mit Weidehaltung, in Hackschnitzel-Nahwärmenetzten und Biogasanlagen.
Sengl schoss sich auch auf die bayerischen Regierungsparteien ein: „Kann es sein, dass die Freien Wähler und die CSU keine eigenen Ideen haben? - Dass sie deshalb die Grünen als Verbotspartei darstellen, die ganz Bayern mit Windrädern und Stromleitungen verschandeln.“ Mit der bäuerlichen Landwirtschaft und der regionalen Wertschöpfung ging es in den letzten Jahrzehnten immer weiter bergab, weil die Politik für die Lebensmittel- und Agrarindustrie gemacht wurde, für die Erdgas- und Erdölindustrie anstatt für die Bauern und Menschen in der Region, so Sengl.
Klimaschutz und erneuerbare Energie
Katharina Schulze möchte mit den Themen Klimaschutz, Ausbau der Erneuerbaren Energien und Kinder gerechter Politik die Weichen für die Zukunft stellen. „In der Bundesregierung sind die 16 Jahre Flaute endlich überwunden, und auch hier in Bayern muss dieses alte Denken endlich der Vergangenheit angehören. Es braucht eine klare grüne Handschrift in diesem Land: Fünf Jahre weiteren Stillstand kann sich unser wunderschöner Freistaat nicht leisten. Schluss mit dem herumgesödere und herumgeaiwangere. Es braucht ein grünes Zugpferd gegen den schwarzen Stillstand in Bayern. Es braucht Grüne in der Regierung. Sonst bleiben die Themen der Zukunft weiter in der Vergangenheit stecken.“
Dass dabei die Trillerpfeifen beim politischen Gegner im Bierzelt wieder zur Volldröhnung kamen, bedarf keines Kommentars. Schulze feuerte ohne Punkt und Komma eine lautstarke Bierzeltrede ab, in der sie ihre politischen Brennpunkte benannte. Die Klimakrise sei in Bayern schon längst angekommen, und zeige sich in Hitze, Dürre, Starkregen. Es folgte ein Seitenhieb auf den politischen Gegner: „Wenn die Klimapolitik der CSU eine Person wäre, dann wäre sie wahrscheinlich der Typ, der die ganze Zeit in der Schlange vor dir steht und erst dann, wenn er endlich dran ist, überlegt, was er bestellen will.“
Energie sei in Bayern momentan die größte Baustelle, die fossile Inflation mache das Leben für alle teurer. Wer eine höhere Geschwindigkeit beim Windkraftausbau wolle, müsse die Grünen wählen. „Wir sorgen für billigen, sauberen, sicheren Strom, der nicht die Zukunft unserer Kinder verheizt.“
Schulze: Wohl der Kinder im Mittelpunkt der Politik
Schulze plädierte dafür, das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt der Politik zu stellen, das werde in der Söder-Regierung vernachlässigt. „Für einen guten Start ins Leben müssen wir endlich mehr Lehrerinnen und Erzieher gewinnen, die Kinder auf ihrem Weg begleiten. Dafür müssen wir die Arbeitsbedingungen verbessern und für eine bessere Bezahlung sorgen. Es ist respektlos, dass eine Kinderpflegerin die ersten zwei Jahre ihrer Ausbildung in Bayern nichts verdient. Ab Tag eins ein ordentliches Gehalt, dafür stehen wir Grüne.“
Mit einem kostenlosen Bio-Mittagessen in allen Kitas und Schulen und mit kostenlosem Nahverkehr für Kinder und junge Leute in Ausbildung sollten Familien mit Kindern und Jugendlichen finanziell entlastet werden. „Jedes Kind hat ein Recht auf eine glückliche Kindheit und die Politik muss mehr dafür tun, dass die Bedingungen passen.“
Sorge um Demokratie
Am Wohl der Familien hänge sehr oft auch das Wohl von Frauen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf müsse im Jahre 2023 für alle gleich gut möglich sein. „Ich mache mir Sorgen um unsere Demokratie. Der Rechtsrutsch in unserem Land ist gefährlich. Demokratiefeinde aus dem Aus- und Inland wollen unsere Demokratie zerstören. Wir müssen als Demokraten zusammenstehen. Wir müssen unsere Sicherheitsbehörden gut ausstatten und als Gesellschaft nicht die Fähigkeit verlieren, anhand von Fakten zu diskutieren, einander zuzuhören und davon auszugehen, dass der andere auch mal recht haben könnte.“
Schulze sprach sich für einen fairen Wahlkampf aus, der von Anstand und Respekt geprägt sei. Es erging ein Lob an die Polizei, die eine stabile Demokratie überhaupt erst ermögliche. Diesem Lob stimmten die meisten Zuhörer applaudierend zu, einige Trillerpfeifen waren aber auch hier zu hören.
Auftritt Cem Özdemir: Zehn Gebote
Das Pfeifen verstärkte sich bei der Rede von Cem Özdemir, insbesondere als er wiederholt Stellen aus dem Matthäus-Evangelium und aus den zehn Geboten zitierte, um seine Argumente biblisch zu untermauern. Es hatte Ähnlichkeit mit einer Fastenpredigt als Özdemir die Frage des Petrus an Jesus stellte: „‘Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben. Siebenmal?‘ Jesus antwortet ihm: ‚Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebzig Mal siebenmal.‘“
Özdemir fuhr fort: „Und so wollen wir es auch mit unseren Brüdern und Schwestern von der CSU halten, auch wenn sie es uns vor der Landtagswahl nicht immer leicht machen.“ Özdemir nahm dabei Bezug auf eine mögliche Kooperation der CDU durch Friedrich Merz mit der AfD, der Markus Söder aber unmissverständlich widersprochen habe.
Özdemir stellte die Kommunen als Fundamente des Gemeinwesens heraus, denn in der Diskussion um Zebrastreifen und Schulsanierungen werde entschieden, wie miteinander diskutiert und abstrakte Politik zur konkreten Realität werde.
So sehr sich Özdemir für die „Liberalitas Bavarica“ in allen möglichen Ausprägungen stark machte: Wie oft Menschen am Tag Fleisch essen, sei ebenso ihre freie Entscheidung wie die Form der sexuellen Orientierung oder die übrige Entscheidungsvielfalt. Doch mit der AfD, die auf Spaltung setze und dem Land Schaden zufüge, seien keine demokratischen Werte zu erzielen. Die AfD mit Teilen der Linken habe nicht verstanden, dass der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine auch ein Angriff eines korrupten Diktators auf die Demokratie sei.
Özdemir: Unabhängig vom russischen Gas
Özdemir sprach den Menschen in der Ukraine seine Solidarität zu, „parteiübergreifend und solange bis die Ukraine ihre territoriale Integrität wiedererlangt hat.“ – „Etwas von dieser Begeisterung für Freiheit täte auch uns gut.“ Als Özdemir „auf eine gebotene Selbstkritik am Erscheinungsbild der Ampel in Berlin“ einging und davon sprach, dass „wir unabhängig von russischem Gas gut durch den Winter gekommen sind“ war erneut Trillerpfeifenlärm angesagt und der Hörkontakt zum Minister war unterbrochen.
Schließlich nahm Özdemir noch die Bundewehr in den Fokus, die vom ehemaligen Verteidigungsminister Freiherr zu Guttenberg demobilisiert worden sei. „Dass es die Grünen in der Bundesregierung braucht, um für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit zu sorgen, hätte ich mir in den 1980er-Jahren auch nicht träumen lassen.“
„Ich weiß, viele im Land treffen die Folgen des Krieges durch Inflation, gestiegene Preise und dann kommen noch die Veränderungen durch die Bekämpfung und Anpassungen der Klimakrise auf uns zu. Aber vergessen wir mal nicht: unser Staat hilft, wo es geht. Durch Strompreisbremsen, Gaspreisbremsen, 49-Euro-Ticket, Rentenerhöhung und viele andere Maßnahmen. Viele unserer Nachbarstaaten haben diese Möglichkeiten nicht.“
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