Bundesverfassungsgericht hat geurteilt
Kein Bürgergeld für „Totalverweigerer“: Warum der Merz-Plan rechtlich heikel ist
Wer mehrfach Jobangebote ausschlägt, soll künftig kein Geld mehr erhalten. Rechtlich ist das schwer umzusetzen. Was sagt das Bundesverfassungsgericht?
Berlin/Köln – Das Bürgergeld steht vor dem Aus. Union und SPD wollen es durch die neue Grundsicherung ersetzen. Mit der Reform sollen Erwerbslose stärker in die Pflicht genommen werden, aktiv einen Job zu suchen und damit ihre Bedürftigkeit zu beenden. Wer „wiederholt“ Jobangebote ablehnt, soll kein Geld mehr bekommen. Im Koalitionsvertrag ist von einem „vollständigen Leistungsentzug“ die Rede.
Mehr Härte im Bürgergeld: CDU und SPD wollen Totalsanktionen wieder einführen
Die CDU setzt sich damit mit der Forderung durch, „Totalverweigerern“ das Bürgergeld zu streichen. Die Idee der sogenannten Totalsanktionen ist umstritten – wegen Zweifeln an der Verfassungskonformität. Stichwort: Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Neu ist die Debatte auch nicht.
Bereits unter Hartz IV hatten Jobcenter die Möglichkeit, den gesamten Regelsatz und auch die Zahlung der Miete und Heizkosten nicht mehr zu zahlen. Den „vollständigen Leistungsentzug“ hat es also schon gegeben. Bis zum November 2019. Dann hat das Bundesverfassungsgericht diese harten Sanktionen als unvereinbar mit dem menschenwürdigen Existenzminimum eingestuft – genau wie Kürzungen um 60 Prozent. Damit mussten Jobcenter die Sanktionspraxis stoppen. Mit der Bürgergeld-Reform hat die Ampel-Koalition das Urteil in Gesetzesform gebracht.
Bundesverfassungsgericht betont Bedeutung der Grundsicherung – Geld ist an Mitwirkung gebunden
„Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem Grundgesetz – genauer gesagt aus der Verbindung der Menschenwürdegarantie und dem Sozialstaatsprinzip – ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ab“, erklärt Ragnar Hoenig, Professor für Sozialrecht an der Technischen Hochschule Köln, auf IPPEN.MEDIA-Anfrage. „Das Grundrecht verpflichtet den Staat, einen konkreten Leistungsanspruch zu schaffen, mit dem das physische und soziale Existenzminimum stets und aktuell gesichert werden kann.“
Daraus ergebe sich jedoch kein Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie die Karlsruher Richter laut Hoenig im Sanktionsurteil 2019 betont hätten. „Menschen müssen an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit aktiv mitwirken“, erklärt der Sozialrechtler weiter. Der Staat kann demnach verlangen, dass Hilfebedürftige zunächst ihr eigenes Einkommen und Vermögen einsetzen. Zudem müssen sie aktiv daran mitarbeiten, dass sie nicht mehr von der Unterstützung abhängig sind. Aber diese sogenannten Mitwirkungspflichten müssen dem Ziel dienen, die Hilfebedürftigkeit zu überwinden und dürften nicht das Ziel haben, Menschen zu bevormunden, zu erziehen oder zu bessern.
Bundesverfassungsgericht setzte Totalsanktionen 2019 aus – Wirkung nicht belegt
Der Gesetzgeber dürfe die Mitwirkung mittels Sanktionen durchsetzen. Diese müssen verhältnismäßig sein. „Das ist beispielsweise nicht mehr der Fall, wenn die Sanktion so hoch ist, dass die Leistungsberechtigte den Kontakt abbrechen“, erklärte der Sozialrechtler. Je höher die Sanktionen ausfallen, desto schärfer würden auch die Anforderungen.
Hier setzt das Urteil von 2019 an, als das Verfassungsgericht Sanktionen von über 30 Prozent als unverhältnismäßig erklärt hat. Der Spielraum des Gesetzgebers sei überschritten, weil die Sanktion eine „gravierende Belastung im grundrechtlich geschützten Bereich der menschenwürdigen Existenz bewirkt“. Dazu sei „in keiner Weise belegt“, dass der Wegfall der Leistungen notwendig wäre, um die Ziele – also die Mitwirkung – zu erreichen, heißt es im Urteil. Offen sei, ob nicht andere Mittel, wie weniger hohe Kürzungen, längere Kürzungen oder Sachleistungen statt Geld, genauso wirksam seien.
Vollständige Streichung der Grundsicherung möglich – aber „strenge Anforderungen“
Bis zu diesem Punkt des Urteils wäre der Wegfall der Grundsicherung als Sanktion nicht mit dem menschenwürdigen Existenzminimum vereinbar. Doch für immer ausgeschlossen bleiben Totalsanktionen damit nicht. „Relativ am Ende des Sanktionsurteils weist das Gericht darauf hin, dass unter diesen Vorgaben auch ein vollständiger Leistungsentzug möglich sein kann“, erklärte Hoenig. „Es stellt hierfür aber strenge Anforderungen auf.“
Das Bundesverfassungsgericht verlange, dass „die betroffene Person ihr Existenzminimum durch die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit tatsächlich und unmittelbar selbst sichern kann, die Arbeitsaufnahme aber willentlich und ohne wichtigen Grund weigert“, erklärte Hoenig. Denkbar sei dabei, dass die Arbeit die Existenz direkt sichern müssen. Grundsätzlich könnten Erwerbstätige auch ergänzende Sozialleistungen wie beispielsweise Wohngeld erhalten. Das Problem dabei sei, dass es dauere, bis sie bewilligt seien, erklärte Hoenig. Beim Gehalt gebe es ähnliche Probleme. Angestellte erhalten ihren Lohn etwa erst am Monatsende.
Bürgergeld-Empfänger müssen über Konsequenzen im Klaren sein, bevor Totalsanktionen möglich sind
Eine weitere Hürde ist die „willentliche Weigerung“, erklärte Hoenig. „Die Entscheidung [einen Job abzulehnen, Anm. d. Red.] muss frei sein und im Bewusstsein über die Konsequenzen des Handelns gefällt werden“, sagte er weiter. „Das Bundesverfassungsgericht hat hier explizit auch an Menschen mit psychischen Problemen gedacht.“ Als Beispiel nannte er jemanden mit einer schweren Angststörung, der etwa nicht die Möglichkeit habe, mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Jobcenter zu fahren.
Wenn der vollständige Leistungsentzug auch die Kosten der Unterkunft einschließen würde, müsste der Blick auf die Verhältnismäßigkeit noch genauer sein. „Das würde ein besonderes Augenmaß der Jobcenter verlangen“, sagte Hoenig. „Sie müssen sich der Konsequenzen sehr bewusst sein, denn Menschen könnten ihre Wohnung verlieren“.
Sozialrecht-Professor verweist auf Differenzen der politischen Debatte – und der Umsetzung
Doch der Sozialrechtler stellte auch klar: „Wichtig ist, dass derzeit über politische Forderungen gesprochen wird.“ Die rechtliche Umsetzung in den Entwürfen der Ministerien zur neuen Grundsicherung könne sich stark unterscheiden. „Gerade im Bereich des Zweiten Sozialgesetzbuchs ist der Gesetzgeber in der Vergangenheit häufiger ermahnt worden“, sagte Hoenig mit Blick auf frühere Urteile aus Karlsruhe. Das werde er bei der Ausgestaltung der Grundsicherung-Reform berücksichtigen. „Für die Verschärfung von Sanktionen werden wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten“, erklären CDU, CSU und SPD auch im Koalitionsvertrag.
Bereits bei der Einführung der Regelbedarfs-Streichung beim Bürgergeld für zwei Monate bei zwei abgelehnten Jobangeboten innerhalb eines Jahres habe sich die Ampel-Koalition auf das Bundesverfassungsgericht berufen, erklärte Hoenig. Dabei war jedoch lediglich der Regelsatz betroffen, Miete und Heizkosten übernehmen die Jobcenter weiterhin. Ob die Sanktionen gegen „Arbeitsverweigerer“ verhängt wurden, ist jedoch unklar. Jobcenter verweisen dabei auf die rechtlichen Hürden. So sei schon ein Problem festzustellen, wer überhaupt „Totalverweigerer“ sei.
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