Ungewöhnliches Schreiben
Landräte-Brief überrascht vor Thüringen-Wahl: „Geht nicht um ideologischen Popanz“ – Schelte für AfD und BSW
In einem ungewöhnlichen Brief vor der Thüringen-Wahl haben Landräte haben eine klare Forderung an die Kandidaten – und spiegeln eine Grundstimmung im Land wider.
Erfurt – Russland-Politik, Ukraine-Hilfen und Abschiebeverfahren: es sind – oft an prominenter Stelle – die ganz großen Themen, die im Wahlkampf vor der Thüringen-Wahl plötzlich eine Rolle spielen. Dabei haben sie mit den Problemen vor Ort oft nur bedingt zu tun.
In Gesprächen mit Menschen in Thüringens Städten und Dörfern geht es derweil um ganz alltägliche Sorgen: kaputte Gehwege, schlechte medizinische Versorgung oder ein fehlendes Bus-System. In Greiz zum Beispiel, ganz im Osten Thüringens, gibt es kaum mehr einen Frauenarzt. Patientinnen fahren nach Jena – oder gleich über die Landesgrenze nach Sachsen. Und wer von Dörfern, die Lederhose, Zeulenroda oder Großebersdorf heißen, mit dem Bus in die nächste größere Stadt fahren will, braucht sehr viel Geduld. Oft fahren Busse nur alle zwei Stunden, an Wochenenden nur zweimal am Tag.
Regionale Themen kommen bei Thüringen-Wahl zu kurz, finden Landräte
Themen, mit denen sich die Parteien im Endspurt kurz vor der Landtagswahl nur bedingt befassen, wie jedenfalls eine Reihe von Landräten und Oberbürgermeistern findet: in einem offenen Brief an die Kandidatinnen und Kandidaten fordern sie „Thüringer Antworten auf Thüringer Themen.“
17 Politikerinnen und Politiker haben das Schreiben, das IPPEN.MEDIA vorliegt, aufgesetzt – sie gehören unterschiedlichen Parteien an, die meisten der CDU und der SPD. Ein Vorstoß, der so kurz vor einer Wahl durchaus ungewöhnlich ist. „Als Kommunalpolitiker sind wir vor Ort nah dran. Wir wissen, wo der Schuh drückt und spüren, was die Alltagssorgen der Thüringer sind. Die Thüringer erwarten, dass ihre Themen gesehen und dafür konkrete Lösungen vorgelegt werden. Es geht nicht um ideologischen Popanz, sondern um ganz konkrete und ehrliche Antworten“, schreiben die Landrätinnen und Landräte.
Ukraine, Russland, Abschiebungen – „täuscht die Wähler“
Es gehe bei der Thüringen-Wahl um Fragen wie diese: „Wie stärken wir die regionale Wirtschaft? Wie regeln wir die Anerkennungsverfahren für ausländische Fachkräfte schneller und effizienter? Was ist das konkrete Konzept gegen den Unterrichtsausfall?“
Man wisse wohl, dass die weltpolitischen Fragen um Krieg und Frieden die Menschen beschäftigen. „Wer den Menschen aber in einem Landtagswahlkampf Glauben macht, dass diese Wahl die Fragen von Krieg und Frieden entscheidet, der täuscht die Wähler“, heißt es in dem Schreiben weiter.
„Wirres Gerede von Remigration“: Kritik an AfD und Wagenknecht-Partei zur Thüringen-Wahl
Denn die künftige Landesregierung könne eine gute Wirtschaftspolitik, bessere Bildung, Sicherheit, soziale Infrastruktur und medizinische Versorgung voranbringen. Vor allem von zwei Parteien komme dazu nicht viel, schreiben die Autorinnen und Autoren: „Insbesondere vom BSW und von der AfD haben wir hierzu bislang nichts Konkretes gehört. Im Gegenteil, dieses wirre Gerede von Remigration, der Ausweisung von Staatsbürgern mit Migrationshintergrund und ausländischen Personen, würde dazu führen, dass in unseren Krankenhäusern und Pflegeheimen das Licht ausgeht.“ Und Firmen sowie Investoren würden in der Folge einen großen Bogen um Thüringen machen, „wenn Extremisten hier Verantwortung hätten“, heißt es weiter.
Tatsächlich beobachten Experten, dass Thüringen bei der Suche nach ausländischen Fachkräften und als Standort für Investoren oft das Nachsehen hat – auch, weil manchen Regionen schon jetzt der Ruf fremdenfeindlicher Tendenzen anhaftet. „Es ist heute mehr denn je wichtig, für Frieden und Freiheit einzutreten“, heißt es im Brief. Der Garant für Frieden und Freiheit sei ein Deutschland, das fest in Europa, im Völkerrecht und der internationalen Gemeinschaft verankert sei. „Klar ist aber, dass über all diese Fragen bei der Landtagswahl nicht entschieden wird. Daher ist unser Appell und unsere Forderung an alle Bewerber zum Thüringer Landtag ganz klar: Wir erwarten Thüringer Antworten zu Thüringer Themen.“ Reaktionen der Spitzenkandidaten gab es zunächst nicht.
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