Schildbürgerstreiche im Stadtgebiet
„Ich habe jedes Mal Angst“ - Wie blindengerecht sind Waldkraiburgs Straßen?
Waldkraiburg ist nicht blindengerecht. Das monieren Elke und Dieter Rasch, nennen konkrete Beispiele und beklagen Untätigkeit. Das sagt die Stadt dazu.
Waldkraiburg - Auf den ersten Blick ist Elke Rasch (75) eine ganz normale Frau. Sie bewegt sich sicher in ihrer Wohnung in der Reichenberger Straße, doch auf der Straße und in der Stadt ist sie nur selten alleine unterwegs. „Ich fühle mich da einfach unsicher.“ Sie hat nur noch zwei Prozent Sehleistung und einen Blindenstock. „Ich habe keine Anhaltspunkte, wo ich die Straßen überqueren kann.“
„Ich habe jedes Mal Angst, wenn sie alleine unterwegs ist“
„Ich habe jedes Mal Angst, wenn sie alleine unterwegs ist“, sagt ihr Mann Dieter (75). Seine Frau ist ja eigentlich fit, kann sich sicher bewegen, möchte auch mal ohne ihn zum Friseur.
Dieter Rasch treibt das um. Vor allem, weil er es anders kennt, weiß, was machbar ist. Die Raschs haben bis Dezember 2020 in Sindelfingen gewohnt, sind Mitglieder bei Pro Retina, der - nach Vereinsangaben - größten und ältesten Selbsthilfevereinigung von und für Menschen mit Netzhautdegeneration, in Baden-Württemberg war er im Verein Landesansprechpartner unter anderem für Behörden und Ministerien. „Barrierefreiheit ist nicht nur rollstuhlgerecht“, so Dieter Rasch. Die Blinden seien in Waldkraiburg zu wenig berücksichtigt. Als Neubürger sehe man Schwachstellen einfach eher.
„Es interessiert nicht“
Er bringt seine Kritik immer wieder bei den Sachbearbeitern im Rathaus und bei Bürgermeister Robert Pötzsch vor. „Es interessiert nicht“, so Rasch. „Das ist eine Katastrophe.“
Stadt weist die Kritik zurück
Gerhard Ostwald von der Stadtverwaltung weist das zurück: Waldkraiburgs Straßen stammen überwiegend aus den 1960er- bis 1970er-Jahren. Erst seit gut 40 Jahren müssten die Belange von Menschen mit Behinderung berücksichtigt werden und sei in Waldkraiburg zum Beispiel bei den Straßen des Inneren Ringes, des Gewerbe- und Industriegebietes sowie westlich der Prießnitzstraße erfolgt. Oswald: „Es kann aber auch bei diesen Straßen sein, dass aus heutiger Sicht die Anforderungen an die Barrierefreiheit nicht erfüllt sind, da sich auch die einschlägigen Richtlinien und Empfehlungen erst im Laufe der Zeit entwickelt haben.“
Als Beispiele für die jüngsten Verbesserungen nennt Oswald die Kirchenstraße, den Finken- und Meisenweg sowie Bereiche der Berliner Straße. Ampeln seien nachgerüstet worden, Gehwegabsenkungen sowie Querungen im verkehrsberuhigten Geschäftsbereich verbessert, drei Verbindungswege über das Werksgleis erneuert worden.
„Da kennt sich ein Blinder nicht mehr aus“
Laut Dieter Rasch sind in der Kirchenstraße an der Kreuzung die falschen Noppenplatten verlegt. Die sollen eigentlich den Stock vor der Straßenkante aufhalten. „Hier rutscht er durch und führt direkt auf die Straße.“ Im Föhrenwinkel seien an Kurven die Leitplatten plötzlich unterbrochen. „Da kennt sich ein Blinder nicht mehr aus.“ Auch der Kontrast zwischen Leitsteinen und Pflaster sei viel zu gering. Nur an der Einfahrt zum Föhrenwinkel sei alles perfekt und DIN-gerecht. Laut DIN 18040 solle so geplant und gebaut werden, dass auch Menschen mit Behinderungen die Straßen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe nutzen können.
Rasch vermisst ferner blindengerechte Ampeln, im Rathaus sei der Fahrstuhl nicht blindengerecht und an Schaukästen fehlen Querstreben: „Der Stock eines Blinden wird nicht gestoppt und ein Blinder rennt direkt in das Glas.“ Keine einzige Bushaltestelle sei blindengerecht, Treppen seien nicht normgerecht: „Jede Stufe muss markiert sein, nicht nur die erste und letzte“.
Stadt rüstet laufend nach und verbessert
Bei allen Straßenplanungen würden, so Oswald, „die Belange von Menschen mit Behinderung und von Menschen mit sonstigen Mobilitätsbeeinträchtigungen berücksichtigt.“ Außerdem rüste die Stadt laufend nach, sei es bei Baumaßnahmen oder wenn Betroffene einen Bedarf melden, dann „führen wir partielle Verbesserungen durch.“
Es gebe im Haushalt sogar einen eigenen Bedarfsansatz. „In den Jahren 2015 bis 2020 musste dieser jedoch“, so Oswald, „aufgrund Haushaltskonsolidierung wegfallen.“ Seit 2021 sei er wieder eingeplant und betrage für dieses Jahr 60.000 Euro. „Allerdings steht eine Mittelbereitstellung – wie für alle Maßnahmen des Straßenbauprogramms – unter dem Vorbehalt der finanziellen Leistungsfähigkeit der Stadt.“
„Die haben nicht begriffen, dass sie dazu verpflichtet sind“
Aus Sicht von Rasch reicht das nicht: „Es gibt auch Fördermittel. Da muss man sich darum kümmern. Die haben nicht begriffen, dass sie dazu verpflichtet sind.“ Auch könnte man einen Verein „Waldkraiburg barrierefrei“ gründen und über diesen Förderungen bekommen.
Elke Rasch ist von der bisherigen Resonanz auf ihre Kritik enttäuscht: „Die machen sich keine Gedanken.“ Sie sitzt in ihrer Wohnung und ist weiterhin auf ihren Mann angewiesen, wenn sie raus will: eine erwachsene, rüstige Frau, die aber nicht mehr sehen kann.


