Jubiläum in Neumarkt St. Veit
Als Selbsthilfeorganisation gegründet: Arbeiterverein Neumarkt feiert sein 150-Jähriges
In Not geratenen Kollegen zu helfen: Das war der Sinn, der 1874 zur Gründung des Neumarkter Arbeitervereins führte. Denn eine Krankenversicherung gab es damals noch nicht. Wenn Arbeiter krank wurden, stürzte das betroffene Familien in große Not. Erinnerungen an die Anfangszeit.
Neumarkt-St. Veit – Als man den Arbeiterverein 1874 gründete, gab es darüber hinaus lediglich die Feuerwehr und den Veteranen- und Kriegerverein und einige gesellschaftliche Vereinigungen. Diese drei Vereine waren zur damaligen Zeit eine dringende Notwendigkeit.
Der Arbeiterverein sollte als Selbsthilfeorganisation in Not geratenen Kollegen helfen. Der Arbeiterverein Neumarkt a. Rott, ab 1876 Arbeiter-Kranken-Unterstützungsverein, gehört zu den ältesten Vereinen des Ortes. Er war aus der Sebastiani-Bruderschaft als karitativer Verein hervorgegangen und hat nach deren Auflösung ihr Vermögen und ihre Verpflichtung gegenüber armen Mitmenschen übernommen.
Vereinsgründung fand 1874 statt
Die Vereinsgründung fand am 18. Januar 1874 im Gasthaus Blumschein am Marktplatz (heute Kreissparkasse) statt. In den Folgejahren entwickelte sich der Verein zu einer stattlichen Organisation, die sich neben der Betreuung ihrer Mitglieder auch um das gesellige Miteinander kümmerte. Im Sommer 1890 meldet der Neumarkter Anzeiger: „Der Dilettantenclub und sein Theater gehen in den Arbeiterverein über“. Die Theateraufführungen werden in den folgenden Jahrzehnten zu einer zusätzlichen Einnahmequelle des Vereins. Im Sommer 1899 wird im Rahmen des 25-jährigen Bestehens ein großes Gründungsfest mit Fahnenweihe mit 38 auswärtigen Brudervereinen veranstaltet.
Zur 25-Jahrfeier 1899 kamen die Vereine in Scharen
Im Neumarkter Anzeiger vom 30. Juli 1899 berichtet Redakteur Hermann Döring: „Es war ein Verbrüderungsfest zusammengehöriger Stände in des Wortes wahrster und vollster Bedeutung.“ Den Vorabend des Jubiläumsfestes beging der Arbeiter-Kranken-Unterstützungsverein in seinem Vereinslokal, „musikalische und theatralische Genüsse“ hätten die Anwesenden bis Mitternacht ergötzt, so Döring.
Ein musikalischer Weckruf brachte in aller Sonntags-Frühe die schlafende Bevölkerung auf die Beine. Die Morgenzüge beförderte Scharen auswärtiger Gäste in die Rottstadt. Der Ort hatte sein schönstes Festkleid angelegt, lustig flatterten die Wimpel im Winde, als der Festzug sich vom Bahnhof aus nach St. Veit in Bewegung setzte. In der Zeitung stand damals: „Voran schritt der Patenverein Vilsbiburg, der eine eigene Musikkapelle mitbrachte, welche in flotten Marschklängen mit unserer wackeren Pichlmayer-Kapelle den Zug begleitete. Einem hellen, freundlichen Sonnenstrahle gleich, erschienen die weißgekleideten Jungfrauen, ihnen folgte die blonde, stattliche Fahnenbraut.“
Blumenregen auf die Festzug-Teilnehmer
Die Ehrenbegleitung dieser Honoratioren bildete der Vorstand des Neumarkter Arbeiter-Kranken-Unterstützungsvereins sowie die Gründungsmitglieder des letzteren und der neuen, noch verhüllten Fahne. Daran schlossen sich 38 auswärtige Bruder- und vier Ortsvereine an. „Gewetteifert hat die Bürgerschaft, den Arbeitern ihre Sympathie zu beweisen, indem sie aus einer ihrer hervorragendsten Familien die Fahnenpatin zur Feier sandte, die Blüte holder Jungfrauen sich beteiligen hieß, die Häuser mit Fahnen und Kränzen schmückte und einen Blumenregen auf die im Festzuge Vorbeipassierenden niederrieseln ließ, wie er wohl selten den schlichten Arbeiter treffen wird“.
Predigt über Freunde und Feinde des Vereins
Die Festmesse in St. Veit zelebrierte der Benefiziat Bacher von Teising, die Predigt hielt Pfarrer Mathias Dunstmaier. Darüber schrieb Döring im Neumarkter Anzeiger: „Der Herr Redner sprach über die Freunde und Feinde des Arbeiters. Feinde desselben sind neben Ausbeuter, der den Arbeiter nur als menschliche Maschine betrachtet, jene Verführer, die lockend den Ruf von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aus ihrem Munde erschallen lassen, den armen, betörten Arbeiter jedoch nur zu ihrem Vorteil ausnützen.“
Nach der Messe hielt Bürgermeister Einmayr eine Rede am Rathaus. Er betonte die edlen Zwecke der Vereinigung und erkannte als deren Hauptaufgabe, kranken und schwachen Mitgliedern unter die Arme zu greifen: „Edel ist es, hilfsbedürftigen Mitmenschen beizuspringen!“ Dieser Edelmut spiegelte sich darin, dass fast alle Mitglieder auch der Feuerwehr beigetreten waren.
Zum Schluss ein dreifaches „Vivat!“
Eine poetische Deklamation brachte Käthchen Einmayr, indem sie das Band der Jungfrauen an die neue Fahne heftet. „Ebenso übergibt Fräulein Marie Huber mit einer in dichterischer Form gehaltenen Ansprache das Fahnenband an den Patenverein Vilsbiburg.“ Nachdem auch die Fahnenbraut Fräulein Marie Daxenberger ihr Band dem neuen Banner übergeben hatte, ließ der Vertreter des Patenvereins Vilsbiburg, ein Herr Engelbrecht, als krönenden Schlusspunkt den Bruderverein Neumarkt a. Rott dreimal hochleben.
Eine gesetzliche Krankenkasse gab es damals noch nicht
Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert führte zu einer rasanten Veränderung in der Wirtschaft, aber auch im Berufsleben der kleinen Leute. Die sozialen Missstände nahmen immer mehr zu und führten 1848 zur Gründung einer Arbeiterbewegung. 1863 hat Ferdinand Lassalle den „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ aus der Taufe gehoben.
Diese Entwicklung wurde von der Obrigkeit nicht gerne gesehen und auch bekämpft. Trotz vieler Bemühungen änderte sich an der schlechten Situation der Arbeiterschaft kaum etwas. So waren sie gezwungen, für die Absicherung ihrer Notfälle selbst Sorge zu tragen, denn eine gesetzliche Krankenkasse gab es damals noch nicht. Arbeiter waren im Krankheitsfall von heute auf morgen ohne Lohn, das konnte die betroffenen Familien in große Not stürzen. Aus dieser Situation heraus schlossen sich die Arbeiter zu sogenannten Arbeiter-Kranken-Unterstützungsvereinen zusammen. Im Falle einer Arbeitsunfähigkeit unterstützte der Verein seine Mitglieder mit einem Krankentagegeld, um die schlimmste Not zu lindern.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind in vielen Orten im südostbayerischen Raum solche Selbsthilfevereine gegründet worden. So zum Beispiel 1853 in Achdorf bei Landshut, 1856 in Eggenfelden und in Vilsbiburg, 1873 in Altötting – und 1874 auch in Neumarkt a. Rott.
Der Sebastianitag (20. Januar) wird bis heute vom Arbeiterverein mit einem Festzug und einem Gottesdienst gefeiert. Außerdem findet sich der Heilige Sebastian auf der Rückseite aller Fahnen des Vereins.
