Freundschaftskultur heute und früher
Was ist aus dem Poesie-Album geworden - und wie denken die Kinder von heute darüber?
Die meisten sind 40, 50 oder 60 Jahre alt und gehörten fest zum Leben Älterer: Poesie-Alben. So reagieren Kinder heute auf die Büchlein.
Mühldorf – Da waren sich die vier Damen schnell einig: Poesie-Alben bewahrt man nicht nur in Schränken, sondern vor allen Dingen in den Herzen auf. Hanni Stecher, Margit Schinzel, Traudi Pitz und Elfriede Prucker blättern immer wieder in den schönen Alben, die ihre Kinderzeit in den 1960er Jahren zum Leben erwecken.
Das Album auch nach Jahrezehnten noch in Ehren
„Ich halte mein Album in Ehren“, versichert Hanni Stecher aus Waldkraiburg und Margit Schinzel entdeckt sogar den Preis ihres Albums, der ganz vorne auf der ersten Seite steht. „Mein Album kostete 3,85 Mark“, schmunzelt die Mühldorferin.
Das Poesie-Album, für Mädchen der Nachkriegsgeneration eine Selbstverständlichkeit, ist heutzutage komplett in der Versenkung verschwunden. Aber in den 1950 und 60er Jahren gehörte es in den unteren Klassen der Volksschule einfach dazu.
Verse und Blumenbilder, Scherenschnitte und Zeichnungen zieren die kleinen quadratischen Zeitdokumente, die zwar in die Jahre gekommen sind, dennoch aber einen ideellen Wert für ihre Besitzerinnen darstellen. „Jeder durfte nicht ins Album schreiben, da wählte ich genau aus“, erzählt die Mettenheimerin Elfriede Prucker und ihre Freundin Traudi Pitz unterstreicht: „Wir bemühten uns, sehr schönzuschreiben. Die Zeilen sind mit Lineal vorgezeichnet worden, damit der Vers nicht krumm und buckelig daher kommt“.
Im Poesie-Album verewigten sich hauptsächlich Mitschülerinnen, die Lehrer, der Pfarrer, Verwandte. Heute locken die Sinnsprüche von damals keinen mehr hinter dem Ofen hervor, vermuten die vier Poesie-Damen, die bestätigen: „In unserer Generation hatten mahnende und belehrende Verse Hochkonjunktur“.
Mit den Einträgen ging es ganz genau, verkündet Traudi Pitz: „Auf der rechten Seite steht der Spruch und links war Platz für Zeichnungen und Bilder“. Die meisten Mädchen bekamen die Alben zur Kommunion oder zu Weihnachten geschenkt. „Mehr als Puppenkleider oder ein Malbuch gab es vom Christkindl nicht, da stach ein Poesie-Album als Geschenk schon heraus“, weiß Hanni Stecher.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Geschichte des Poesie-Albums verschiedene Wurzeln hat. Mühldorfs Stadtarchivar Edwin Hamberger klärt auf: „Es sind bereits Stammbücher von Studenten aus dem 16. Jahrhundert überliefert, in denen sich Professoren oder Mitstudenten eintrugen. Der Student hatte somit nicht nur einen Nachweis, an welchem Ort er studierte und wer seine Studienkollegen waren, sondern vor allem bei welchen Professoren er Vorlesungen hörte, was für das persönliche Renommee von Bedeutung gewesen ist“.
Im 19. und 20. Jahrhundert erfuhren die Bücher einen Wandel. Jetzt konnten die „Freundschaftsbücher“ auch von Frauen geführt werden und zirkulierten nicht nur in den studentischen Kreisen. Das Buch eroberte die Klassenzimmer. „Letztendlich sind die Poesie-Alben ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen und Wertevorstellungen“, sagt Hamberger.
Appellierten die Einträge früher noch an Sittlichkeit und Charakter, so stehen heute bei dem Nachfolger der Poesie-Alben die Erinnerungen an Klassenkameraden, Lehrer und die gemeinsame Schulzeit im Vordergrund. Das sogenannte „Freundebuch“ wurde geboren.
Die Buben und Mädchen der Klasse 3a an der Mößlinger Grundschule, staunten nicht schlecht, als sie ein Poesie-Album sahen. Ein derartiges Zeitzeugnis aus den Wirtschaftswunder-Jahren hatte die Klasse offenbar noch nie zu Gesicht bekommen. „Wow, viele Verse sind ja wunderschön geschrieben“, stellten einige Kinder fest und ein Mädchen vermutete, die Einträge seien bestimmt mit Liebe verfasst worden.
Ein bisschen altertümlich
Ein bisschen altertümlich kam den Schülern das Poesie-Album zwar vor, doch die meisten Buben und Mädchen sehen das Buch als wertvolle Erinnerung an. „Bei unseren Freundebüchern erfährt man aber mehr über die Kinder“, gibt ein Schüler zu bedenken. Und in der Tat ist das so, wenn vorgefertigt nach dem Lieblingsessen, nach Film- und Musikvorlieben, nach Adresse und nach Augen- und Haarfarbe gefragt wird.
Handgeschrieben wäre schon schön
Das Freundebuch benutzen im Gegensatz zu den früheren Poesie-Alben auch die Buben, es macht bereits im Kindergarten die Runde. Auf die Frage, ob die Schüler auch gerne ein „altes“ Poesie-Album hätten, zuckten einige mit den Schultern. Andere hingegen würden sich ein Album dieser Art durchaus wünschen. Gerade einige Mädchen gaben lächelnd zu: „Ein handgeschriebenes Versebuch wäre wirklich schön.“



