Düstere Aussichten
Stehen Rentner der Region bald auf der Straße? Institut warnt vor Wohnungsmangel und Altersarmut
Wohnungsmangel und Altersarmut könnte sich für Senioren verschärfen – auch in der Region. So dramatisch sind die Zahlen vom Pestel-Institut, doch es gibt Widerspruch.
Mühldorf / Rosenheim / Traunstein – Bezahlbares Wohnen ist heute schon für immer mehr Menschen ein Problem – vor allem in Boomregionen wie dem Landkreis Mühldorf, dem in den nächsten Jahren ein weiteres Bevölkerungswachstum zwischen sechs und elf Prozent vorausgesagt wird. Aber auch rund um Rosenheim und den Chiemgau sind bezahlbare Wohnungen rar. Vor allem für Senioren ist es schlimm und könnte noch schlimmer werden. Das schreibt zumindest das Pestel-Institut, das jetzt mit alarmierenden Zahlen für die Landkreise Mühldorf, Altötting, Traunstein, Berchtesgadener Land, Rosenheim und die Stadt Rosenheim aufwartet.
Insgesamt braucht es im OVB Gebiet bis 2045 nach aktuellen Daten 46.300 Wohnungen für Senioren, so das Institut. Das sind 47 Prozent mehr als heute.
In 20 Jahren Zuwachs an Rentner, der halb Rosenheim entspricht
Hintergrund ist die demografische Entwicklung: Bis 2025 werden die geburtenstarken Jahrgänge, die Babyboomer, vollständig in Rente gehen. Das macht im OVB Gebiet in den kommenden zehn Jahren 36.700 zusätzliche Rentner, hat das Pestel-Institut errechnet. Das sind 21 Prozent mehr, ihre Zahl entspricht der halben Bevölkerung der Stadt Rosenheim.
„Der Wohnungsmarkt ist mit der neuen Rentengeneration der geburtenstarken Jahrgänge komplett überfordert. Es fehlen Seniorenwohnungen“, analysiert der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther, für Südostoberbayern. Schon jetzt gebe es einen „massiven Mangel“ an altersgerechten Wohnungen, der werde sich „noch enorm“ verschlimmern. „Südostoberbayern rast mit 100 Sachen auf die graue Wohnungsnot zu.“
Wohnungsmarkt wird Bedarf an Seniorenwohnungen nicht gerecht
Bereits heute bräuchten die Landkreise im Gebiet der OVB Heimatzeitungen 31.400 Wohnungen für ältere Menschen, die nicht mehr gut zu Fuß sind. „Doch diese Seniorenwohnungen gibt der Wohnungsmarkt bei weitem nicht her“, betont Günther. Bis 2045 würde dieser Bedarf auf 46.300 anwachsen, das sind fast die Hälfte mehr.
Eigentlich sei der Bedarf noch größer, so der Institutsleiter: „Denn ein Großteil der altersgerechten Wohnungen wird noch nicht einmal von Älteren bewohnt.“ Oft würden auch Familien den Komfort einer Wohnung ohne Schwellen, mit breiten Türen, Fluren und Räumen nutzen. „Denn, wo das Leben mit einem Rollator klappt, da kommt man auch mit einem Kinderwagen klar“, sagt Güntrher.
Landratsamt Mühldorf relativiert die Zahlen
Der Landkreis Mühldorf ist eine Wachstumsregion und zugleich typisch für eine ländlich geprägte Region. Das dortige Landratsamt relativiert die Zahlen des Pestel-Instituts. Die Zahlen zu den Haushalten und zum Anteil der Senioren würden mit den Zensusdaten übereinstimmen, schreibt Landratsamtssprecher Wolfgang Haserer. „Zu den oben genannten Daten über sogenannte ‚Senioren-Wohnungen‘ liegen uns keine Zahlen vor, zumal die Anforderungen an ‚Senioren-Wohnungen‘ nicht definiert sind. Die Einschätzung, dass bereits jetzt angeblich tausende ‚Senioren-Wohnungen‘ fehlen, teilen wir nicht.“ Laut Haserer sei die Untersuchung des Pestel-Instituts vom Bundesverband Deutscher Baustoff-Fachhandel (BDB) in Auftrag gegeben.
Das Pestel-Institut
Das Institut geht auf Eduard Pestel (1914 - 1988) zurück, der Mitbegründer des Club of Rome war und
zum Erscheinen des ersten Berichts an den Club of Rome, „The Limits to Growth“ (1972) beigetragen hat. Um die in diesem Bericht angewandten „Weltmodelle“ auf Deutschland zu übertragen, gründete er 1975 ein eigenes wissenschaftliches Institut, das sich nach seinem Tod in Pestel Institut umbenannte. Heute ist das Pestel Institut Forschungsinstitut und Dienstleister, das mit seinen Recherchen, Befragungen, Modellrechnungen und Analysen insbesondere in
den Bereichen Demographie, Wohnungsmärkte, Kommunalentwicklung und Regionalwirtschaft unterschiedliche Institutionen bei der Planung ihrer Marktaktivitäten und Investitionen unterstützt. Zu seinen Auftraggebern
zählen überwiegend Verbände, Gebietskörperschaften und Wohnungsunternehmen.
(Quelle: Pestel Institut)
Claudia Holzner leitet im Landratsamt den Geschäftsbereich Jugend, Familie und Soziales. Sie sagt: „Die Lebens- und Wohnverhältnisse für Senioren bei uns im Landkreis sind sehr unterschiedlich und erfordern eine differenzierte Betrachtung, insbesondere was die Strukturen und Angebote in den Städten und den kleineren Gemeinden betrifft.“
Sanierungsoffensive gefordert
Pestel-Insituts-Leiter Günther fordert eine Sanierungsoffensive für mehr seniorengerechte Wohnungen. Doch die sei bislang nicht in Sicht. „Das Fatale ist, dass wir dazu politisch nur eine Vogel-Strauß-Politik erleben. Statt mit einem effektiven Programm fürs Seniorenwohnen das Problem anzupacken, hat vor allem der Bund den Kopf in den Sand gesteckt und die graue Wohnungsnot seit Jahren ignoriert.“
Katharina Metzger, Präsidentin des Bundesverbandes Deutscher Baustoff-Fachhandel (BDB), nimmt die künftige Bundesregierung in die Pflicht: „Statt wenige Gebäude mit übertriebener Klimaschutztechnik zu fördern, muss der Bund künftig deutlich mehr Geld für mehr Wohnungen in die Hand nehmen, die dann auch barrierearm sein müssen. Was er bislang in das Senioren-Wohnen investiert hat, ist nicht mehr als der Tropfen auf dem heißen Stein.“
Das können die Kommunen (nicht) leisten
Das Landratsamt Mühldorf sei schon jetzt aktiv, erklärt Geschäftsbereichleiterin Holzner: „Wir stehen im regelmäßigen Austausch mit den Familien- und Seniorenbeauftragten der Städte, Märkte und Gemeinden. Wir unterstützen die Kommunen, Senioren und deren Familien dabei, bedarfsgerechte Lösungen für die vielfältigen Herausforderungen zu finden – insbesondere in den Handlungsfeldern Wohnraumberatung, Pflege, Mobilität und Nachbarschaftshilfen.“
Warnung vor Altersarmut und K.O.-Mieten
Problematisch sei die Situation bei Rentnern, die zur Miete wohnen, bestätigt ein Sprecher des Mieterschutzvereins Burghausen. Diese müssten einen altersgerechten Umbau ihrer Wohnung entweder selber bezahlen oder der Vermieter investiert und erhöht anschließend die Miete. „Der Wunsch nach einer altersgerechten Wohnung ist also immer auch vom Vermögen der Senioren abhängig“, erklärt der Sprecher.
Das treibt auch das Pestel-Institut um. Die Babyboomer hätten zum Teil nur eine kleine Rente. Mietsteigerungen könnten daher zu einer „K.O.-Miete“ führen, erklärt Instituts-Leiter Günther. „In Zukunft werden also deutlich mehr Menschen als heute auf staatliche Unterstützung angewiesen sein, um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.“
