Auf TikTok und Instagram über NS-Verbrechen
Susanne (31) will den Ermordeten im KZ Außenlager Mühldorf ein Gesicht geben
Triggerwarnung Kannibalismus - so beginnt eines der Videos von Susanne Siegert auf ihrem Instagram-Profil @kz.aussenlager.muehldorf. KZ-Häftlinge aus Mühldorf litten auf dem Transport zu einem anderen Lager derart verzweifelt an Hunger, dass sie Teile der Mitgefangenen aßen, die während der Fahrt starben.
Mühldorf/Leipzig – Susanne Siegert ist 31 und betreibt seit vier Jahren Aufklärungsarbeit über die NS-Zeit auf TikTok, Instagram und in dem Podcast „zeitzeug:nisse“. Die Journalistin, die aus Kirchweihdach stammt, lebt seit neun Jahren in Leipzig, wo sie für eine Online-Marketing-Agentur arbeitet. Ihr Wissen über Social Media und etwa Reichweite nutzt sie auch für ihr privates Engagement: Texte und Videos über NS-Verbrechen im Mühldorfer Hart veröffentlichen. Geld verdient sie damit nicht.
Der Holocaust fand nicht nur in Ausschwitz, Flossenbürg oder Buchenwald statt, das macht die Influcencerin deutlich. Allein das KZ Dachau hatte 170 Außenlager - eines davon in Mühldorf. Und das macht die Wahl-Leipzigerin auf ihrem Instagram Account @kz.aussenlager.muehldorf zum Thema. 26.000 Follower interessieren sich für ihre Videos und Beiträge.
160.000 Follower auf TikTok
Auf TikTok spricht sie vor 160.000 Followern nicht nur über Mühldorf, sondern generell über NS-Verbrechen und hält da, wo Hass, Hetze und Fake News kursieren, dagegen. Die Folgen ihres Podcasts zeitzeug:nisse sind auf Spotify zu finden. Einer, der Fan von Siegerts Podcast ist, ist Mühldorfs Stadtarchivar Edwin Hamberger. Er pendelt mit dem Zug zur Arbeit und nutzt regelmäßig die Zeit, ihr zu lauschen. „Sie macht das gut, präsentiert die Geschichten toll und ich erfahre auch mal Neues“, sagt Hamberger auf Nachfrage der Heimatzeitung.
Gedenkarbeit moderner gestalten?
Sie steht für Gedenkarbeit auf Augenhöhe, wie Siegert selbst sagt. Den Begriff Erinnerungskultur hält sie für nicht mehr zeitgemäß. „Man kann sich nur an etwas erinnern, wo man selbst dabei war. Es ist Zeit, über andere Begriffe nachzudenken und das ritualisierte Erinnern in aktives Gedenken zu wandeln.“
Augenhöhe schaffen
Um auch Jüngere für das Thema zu interessieren, reiche es nicht, am Holocaust-Gedenktag einen Kranz niederzulegen oder immer dieselben Zitate von Überlebenden zu bringen. „Natürlich ist das auch wichtig, aber es braucht ergänzende und andere Angebote“, lautet Susannes Rat. Beim Stadtarchivar, der begeistert von der Reichweite ihres Engagements ist, rennt Siegert offene Türen ein.
„Ich teile meine Gefühle und das schafft Augenhöhe.“
Susanne Siegerts Weg, um ihre Follower mitzureißen: Sie nimmt sie auf ihre Recherchen mit, weil sie selbst vieles über die NS-Vergangenheit der Region noch nicht weiß. „Ich teile meine Gefühle und das schafft Augenhöhe.“ Unter den Videos und Beiträgen können Leser und Zuschauer sagen, wie es ihnen mit dem Inhalt erging. Bei moderner Gedenkarbeit sei es schwierig, den richtigen Ton zu treffen, um Jüngere anzusprechen, doch Siegert verstehe ihr Handwerk, findet Stadtarchivar Hamberger. Beeindruckt sei er, wie viele Menschen die Influencerin mit dem Thema erreiche. „Ich bin begeistert, sie hat spannende Ansätze und geht ganz neue Wege mit den sozialen Medien.“
Fleisch der Toten gegessen
Ihr Insta-Video zum Thema Kannibalismus, in dem sich Siegert auf den Häftling Joseph Heller auf dem Krankentransport vom Außenlager Mühldorf ins Lager Kaufering bezieht, macht ihn neugierig. Er recherchiert. „Heller war Arzt in Kaufering, seine Aussagen stammen aus dem Mühldorfer Prozess vom Juli 1945, der liegt uns als Mikrofilm vor.“
Heller berichtete, wie einige Gefangene das rohe Fleisch der verstorbenen Mitgefangenen aßen. Er habe die Leichen gesehen, aus denen man das Fleisch herausgeschnitten habe. Auf den Fall ist Siegert in den online zugängigen Arolsen Archiven gestoßen. Die Methode, sich ein dramatisches Detail rauszupicken und sich darauf zu fokussieren, sei ein gängiger journalistischer Kniff, sagt Hamberger, und der funktioniere auch für die digitale Welt.
Journalismus-Studium kommt ihr bei Recherche zu Gute
Ganz wichtig sei ihr, offen zu sagen, wenn sie etwas noch nicht wisse und das dann nachvollziehbar zu recherchieren. Sie nutzt online Archive und zeigt die einzelnen Quellen, arbeitet faktenbasiert. Hier kommt ihr zu Gute, was sie im Journalismus-Studium gelernt hat. „Und ich schaffe keine Angriffsfläche für all die Leugner und Verharmloser.“
Hornhaut gegen Hass-Kommentare
Hass-Kommentare und Beleidigungen trudeln regelmäßig bei ihr ein. Das sei leider Alltag. „Ich hab schon eine Hornhaut entwickelt“, meint sie augenzwinkernd, vor allem wenn sie Oberflächliches liest, wie „deine Frisur ist hässlich“ oder „warum genderst du, das nervt“. Auch wird an ihrem Look und den Klamotten herumgemäkelt. „Darüber kann ich lachen und frage mich: Ist demjenigen seine Zeit so wenig wert?“ Drohungen zeigt sie an.
Allerdings räumt die 31-Jährige ein, dass manche Kommentare ihr nahe gehen. Frustriert nennt sie verharmlosende Meinungsbeiträge oder jene von Holocaust-Leugnern. „Das lösche ich sofort und zeige es an. Diese Leute sollen Post von der Polizei bekommen und kapieren, dass das kein Spaß ist. Das kostet mich natürlich enorm viel Kraft.“
Gesunde Grenzen ziehen
Bisher habe sie das Gefühl, dass sich der Hass aufs Netz beschränke, bedrohlichen Situationen im echten Leben habe sie sich bislang zum Glück noch nicht gegenüber gesehen. Sie könne sich gut auf das positive Feedback und den Support ihrer Community fokussieren und habe ausreichend Zeit für ihr Privatleben. „Ich quatsche mit meinen Leuten natürlich nicht die ganze Zeit über das NS-Thema und muss auch schauen, was meine eigenen Ressourcen hergeben - auch wenn es mir mal mit einem Thema mental nicht gut geht.“ Gesunde Grenzen zu ziehen hält sie für wichtig. Gerade bei diesem Thema.
Relikte im Mühldorfer Hart
Noch heute kann man die Relikte dieser Zeit im Mühldorfer Hart sehen. Es gibt Löcher, wo die Baracken des Waldlagers für die Zwangsarbeiter standen, Massengräber, in denen 2.200 Gefangene verscharrt wurden und den letzten Bunkerbogen, der heute Teil einer Gedenkstätte ist. Dieser Stahlbetonbogen ist der Überrest einer halbunterirdischen Rüstungsfabrik, die nie fertiggestellt worden ist. Motoren und Bauteile für ein Flugzeug wollten die Nazis hier produzieren. Sie setzten ab 1944 dafür Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ein, die Fabrik zu errichten. Nach der Befreiung 1945 sprengten die Amerikaner den Großteil der Anlage.

