Gravierender Fachkräftemangel
„Die Familien sind verzweifelt“: Franziskushaus in Gars kämpft gegen „tragische Entwicklung“
Pflegenotstand mit katastrophalen Folgen: Das Franziskushaus in Gars ist die einzige Einrichtung in Oberbayern, in der Kinder und Jugendliche mit schwerer geistiger Behinderung und psychiatrischen Auffälligkeiten betreut werden. Die Warteliste ist lang. Doch zwei von drei Gruppen mussten schließen.
Gars/Au – Eine mit Kunststoff überzogene Matratze, ein Sitzpolster ebenfalls aus Kunststoff und eine hölzerne Sprossenwand: Auf den ersten Blick wirkt das Zimmer von Nils (Name von der Redaktion geändert) kahl. Doch für Nils ist es genau richtig so. Denn der Junge kann schlecht mit Reizen umgehen. Zu viele Eindrücke überfordern ihn.
Es ist eine beinahe einzigartige Einrichtung, in der Nils lebt. Eine Gruppe für Kinder und Jugendliche mit schwerer geistiger Behinderung, Verhaltensauffälligkeiten und psychiatrischen Besonderheiten. „Im Bereich des Bezirks Oberbayern gibt es eine solche Einrichtung kein zweites Mal“, sagt Richard Voglmaier, Geschäftsführer des Franziskushauses. Kinder und Jugendliche, die einen besonders hohen Betreuungsaufwand haben, kommen hier in Au unter.
Oft stecken Herausforderungen, die ein Zusammenleben in den Familien unmöglich machen, dahinter. „Ich weiß von Fällen, wo ein Sicherheitsdienst die Familie unterstützen muss, damit das Kind die Mutter nicht angreift“, erzählt Voglmaier. Der einzige Ausweg für solche Familien in Bayern sei oft das Franziskushaus. Zumindest ist es das bislang. Denn der Fachkräftemangel macht auch dieser Institution zu schaffen.
Drei Gruppen mit jeweils sechs Plätzen bot das Franziskushaus bisher. Insgesamt konnten also 18 Kinder und Jugendliche betreut werden. Seit Sommer 2022 gibt es nur noch eine Gruppe. Von einer „tragischen Entwicklung“ spricht Voglmaier. Denn eigentlich würde das volle Angebot dringend benötigt. „Wir haben viele Namen auf der Warteliste“, sagt er. Doch: „Wir finden kaum Mitarbeiter für diese spezielle Betreuungsform.“ In den Intensivgruppen herrsche eins zu eins Betreuung. Sechs Vollzeit-Fachkräfte brauche es tagsüber, vier für die Nacht, zusätzlich noch drei Vollzeitstellen besetzt mit Hilfskräften.
Schwere Gespräche mit der Familie
Der Fachkräftemangel habe sich besonders ab der Corona-Pandemie bemerkbar gemacht. Vakante Stellen seien lange unbesetzt geblieben. Bei Krankheitsfällen sei die Betreuung nur schwer sicherzustellen gewesen. Schließlich habe die Einrichtung sich entschieden, die Reißleine zu ziehen und zwei Gruppen zu schließen. „Es waren schwere Gespräche mit den Familien“, sagt Voglmaier. „Sie waren sehr verzweifelt.“ Doch einen anderen Ausweg habe es nicht gegeben. Die Schließung habe sich im Dorf herumgesprochen, inzwischen seien ihm sogar Gerüchte zu Ohren gekommen, dass die Leute das Aus des gesamten Franziskushauses vermuten würden. Das sei nicht richtig, dennoch, gibt Voglmaier zu: „Der Kampf um die Sicherung unserer Angebote ist hart.“
350 Mitarbeiter hat das Franziskushaus derzeit, 400 bis 450 Kinder und Jugendliche werden hier insgesamt täglich betreut, denn es gibt neben den Gruppen für schwer geistig behinderte Jugendliche noch eine Schule, eine schulvorbereitende Einrichtung, die Kindergärten in Au, Reichertsheim und Gars, die heilpädagogischen Tagesstätten in Au, Gars, Waldkraiburg und Aschau. Hinzu kommen noch die Frühförderstelle in Waldkraiburg, der Familienstützpunkt in Gars und Reichertsheim sowie verschiedene Fachdienste, die das Franziskushaus anbietet. Dies aufrechtzuerhalten, in Zeiten des Fachkräftemangels, werde immer schwieriger.
Anerkennung ausländischer Arbeitskräfte dauert zu lange
Die Probleme: Voglmaier sieht sie als vielfältig an. Die Anerkennung ausländischer Arbeitskräfte dauere zu lange, die Schichtarbeit sei oft unbeliebt. Vor allem spricht der Geschäftsführer aber von „extremen Qualitätsanforderungen“. „Es dauert bei uns sehr lange, bis jemand unsere Kinder betreuen darf“, sagt er, eine Tatsache, die grundsätzlich zwar begrüßenswert sei, aber nur, wenn man dieses Niveau aufrechterhalten könne. Und genau das sei angesichts des Fachkräftemangels nicht möglich. „Wir müssen uns langsam fragen: Wie lange können wir die Standards noch aufrechterhalten, bis es zur Katastrophe kommt?“
Voglmaier hofft, dass er die beiden geschlossenen Gruppen bald wieder öffnen kann. Es sei viel Wissen, dass sich das Franziskushaus über die Jahre angeeignet habe. „Ich möchte nicht, dass dies verloren geht.“ Sollten sich Mitarbeiter finden, sei man sofort bereit, wieder zu starten. Kinder und Jugendliche, die auf einen Platz warten, gebe es genügend.
